Hamburg. Wie glücklich es machen kann, nicht mehr für die Stadt und das Land verantwortlich zu sein, erzählen fünf ehemalige Politiker.
Nach 48 Jahren als Abgeordneter kehrte er der parlamentarischen Politik vor drei Monaten den Rücken. Aus freien Stücken. „Seitdem entmülle ich mein Leben“, sagt Dirk Fischer. Er garniert diese Aussage mit einem Augenzwinkern. In der Tat hat der 74 Jahre alte Christdemokrat alle Hände voll zu tun, Ordnung in Zigtausende Papierblätter zu bringen und zu entscheiden: Was soll aufbewahrt werden? In zwei Wagenladungen wurden die Aktenberge aus Berlin in die Privatwohnung nach Winterhude gebracht.
Fest steht, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Teil des Archivs übernehmen wird. Weil das „alte Schlachtross“, wie ihn seine Freunde in der CDU anerkennend nennen, mittenmang war, als Nachkriegsgeschichte geschrieben wurde: elf Jahre in der Hamburgischen Bürgerschaft und 37 Jahre im Bundestag. Das ist Rekord.
Wie es sich abseits des Politikrummels lebt
Auch andere Politiker entschieden sich bewusst für ein Leben ohne die große Politik – aus welchen Gründen auch immer. Im Gegensatz zu jenen Kollegen, die zurücktreten mussten oder nicht wiedergewählt wurden, führt der geplante, selbst bestimmte Standortwechsel zu Seelenfrieden und Selbstbewusstsein. Neben dem aktuellen Namen Fischer wollten wir beispielhaft von vier weiteren Hamburger Spitzenpolitikern im Ruhestand wissen: Wie lebt es sich abseits des Politikrummels mit Schlagzeilen und Scheinwerfern?
„Vortrefflich“, antwortet die ehemalige SPD-Politikerin Jutta Blankau. Sie fügt einen entscheidenden Satz hinzu: „Es war ja meine Entscheidung.“ Nach vier Jahren als Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt zog sich die Sozialdemokratin im April 2015 aus der ersten Reihe zurück. Einen Fahrer brauche sie nicht, und ihre Bahnfahrkarten könne sie selber buchen.
Neumann ist zur Bundeswehr zurückgekehrt
Dass politischer Einfluss schwindet, nahm sie gezielt in Kauf. „Meinem Charakter als Interessensvertreterin bin ich treu geblieben“, ergänzt die 63 Jahre alte Juristin, die früher Versicherungskauffrau lernte. „Jetzt vertrete ich die Interessen sozial Bedürftiger.“ Im September vergangenen Jahres wurde Jutta Blankau zur Vorsitzenden des Landesverbandes Hamburg der Arbeiterwohlfahrt gewählt. Das bringt reichlich Arbeit mit sich. Parallel engagiert sie sich für die IG Metall. Dort war sie einstmals als Bezirksleiterin aktiv. Derzeit hat sie den Aufsichtsratsvorsitz des Rechtsschutzes des Deutschen Gewerkschaftsbundes inne.
Auch ihr Parteifreund Michael Neumann macht einen entspannten Eindruck. Der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende in der Bürgerschaft und ehemalige Innensenator kehrte nach seinem Rückzug aus der Politik an die Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr zurück. Dort lehrt er hauptberuflich und ist Mitglied des Präsidialstabs. Im laufenden Semester unterrichtet der 47-Jährige zudem als Dozent an der Northern Business School im Studiengang Sicherheitsmanagement.
Manchmal fällt es schwer ohne Verantwortung
„Meine Entscheidung von vor zwei Jahren bereue ich keinesfalls“, sagt Michael Neumann. „Sie war richtig.“ Er fühle sich nicht mehr fremdbestimmt und in einem viel zu engen Zeitkorsett, sondern sei Herr seiner Termine. Das genieße er. Nur gelegentlich gebe es „Momente der Wehmut“.
Denn fraglos habe er an der Spitze der Hamburger Politik mehr Spannung erlebt und noch mehr interessante Menschen kennengelernt. „Bei den G-20-Einsätzen der Polizei habe ich mitgelitten wie ein Hund“, erinnert sich Neumann. In dieser Phase sei es ihm schwergefallen, nicht mehr in der ersten Reihe Verantwortung zu tragen.
Rückkehr wäre eine "Bedrohung meines Glücks"
Und sonst? Den Komfort eines Senators vermisse er nicht: „Damals fuhr ich als Dienstwagen einen Golf. Heute ist es ein Lupo.“ Sein Leben habe nicht an Qualität eingebüßt. Außerdem führe ein fehlender Mitarbeiterstab zur „Erdung“. Wie Michael Neumann jüngst persönlich erlebte: „An der Bürokratie der Telekom habe ich mir die Zähne ausgebissen.“ Dennoch würde er eine Rückkehr in die Politik als „Bedrohung meines derzeitigen Glücks“ empfinden.
Die Rückkehr in ein privateres, politikfreies Dasein liegt bei Krista Sager etwas länger zurück. Bis 2001 war die Politikerin der Grünen Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin, bis 2009 Vorsitzende oder Stellvertreterin ihrer Bundestagsfraktion. Im Bundestag blieb sie bis 2013. Heute bezeichnet sich die 64-Jährige als „Politik-Rentnerin“, die sich mehrfach ehrenamtlich engagiert.
Beispiele sind der Hochschulrat der Universität in Mainz, die Kuratorien der Humboldt-Universität sowie der Akademie der Wissenschaften oder das Karenzzeitgremium der Bundesregierung – dort übrigens an der Seite des ehemaligen CSU-Strategen Theo Waigel. Außerdem ist sie in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft der Grünen im Einsatz.
Ole Beust: "Ich fühle mich viel freier"
„Ich freue mich über meine jetzige Lebenssituation“, bilanziert Krista Sager. Sie wohnt auf St. Pauli, geht einmal in der Woche morgens schwimmen und reist mit ihrem Ehemann. Einmal ging es drei Wochen nach Südamerika und in die Antarktis. „Langeweile?“, fragt sie rhetorisch. „Was ist das?“ Nur manchmal, wenn sie sich über etwas ärgert, „würde ich gerne etwas dazu sagen“.
Das kennt Ole von Beust ebenfalls. „Stimmt, es gibt sie, diese Reflexe“, bekennt er. Wenn er sich heutzutage über eine überflüssige Dauerbaustelle gräme, könne er nicht einfach zum Telefonhörer greifen und nachfragen: „Was ist denn da los?“ Das war’s dann aber schon. „Ich fühle mich viel freier“, sagt der langjährige Erste Bürgermeister. Allerdings könne sich der Rechtsanwalt dieses angenehmen Gefühls besonders erfreuen, weil er freiwillig aufgehört und „geplant gegangen“ sei.
Dirk Fischer hofft nun auf freien Abend
Seit dem Rückzug im August 2010 könne er seinen Terminplan selbst gestalten, Theaterbesuche nicht nur halb genießen und müsse nicht mehr auf der Hut vor Fotos in der Zeitung sein – beispielsweise beim Überqueren einer roten Fußgängerampel, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist. Im Amt sei das unmöglich gewesen.
Sein christdemokratischer Weggefährte Dirk Fischer ist erst seit gut drei Monaten im Privatleben angekommen – so halb und zumindest die Politik betreffend. Als Ehrenvorsitzender der Hamburger CDU ist er zeitlebens Mitglied im Landesvorstand und Landesausschuss. Nach Verlassen seines Büros im Bundestag am 24. Oktober 2017 hatte er kaum Zeit zum Atemholen. Fischer bekleidet fünf Ehrenämter im Fußball, davon eines als Chef des Hamburger Verbandes, sitzt ehrenamtlich in Aufsichtsräten und Stiftungen.
Bis zu seinem 75. Geburtstag am 29. November will er sein politisches Leben komplett entmüllt haben. Aufheben wird er auf jeden Fall etwa 60 umfangreich gepflegte Jahreskalender, die „Chronologie meines Lebens“. War er zuletzt Wochen im voraus ausgebucht, hofft er nun auf den einen oder anderen freien Abend. Noch jedoch leidet er an fehlenden Büros. „Ich bin nicht digitalisiert“, gibt Dirk Fischer schmunzelnd zu. Wurden ihm bisher Mails ausgedruckt vorgelegt, muss er das nunmehr selbst organisieren. Fragt sich nur wie.