Reinbek. Erfahrene Politiker diskutieren in Reinbek. Dabei scheuen sie auch Selbstkritik nicht. Zuhörer nutzen Gelegenheit, Fragen zu stellen.
Das Jamaika-Desaster war kein Thema der hochkarätigen Politiker-Runde, die in der Schönningstedter St. Ansgar-Kirche über Werte und Visionen in Politik und Gesellschaft debattierte. Es ging vor 170 Zuhörern vielmehr um das große Ganze. „Was geht gut, was läuft schief?“, wollte Pastor Benedikt Kleinhempel von Hamburgs Ex-Bürgermeister Ole von Beust (CDU), dem langjährigen Bundestagsabgeordneten Eckart Kuhlwein (SPD), Krista Sager, der früheren Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Ex-Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP), Christiane Schneider (Die Linke) Vizepräsidentin in der Hamburgischen Bürgerschaft und Norbert Frühauf, AfD-Fraktionschef in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte, wissen.
Nach einem Treffen mit Nachwuchspolitikern im vergangenen Jahr und einer Runde mit streitbaren politischen Akteuren wie Wolfgang Kubicki und Ralf Stegner in 2015, setzten der Pastor und Moderatorin Elke Güldenstein, Leiterin des Kulturzentrums Reinbek, in diesem Jahr auf erfahrene Köpfe der Jahrgänge 1938 bis 1958. Für alle sechs waren die Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg führten, der Auslöser für den Beginn ihrer politischen Laufbahn. Ihre souveräne Bewertung der gesellschaftspolitischen Lage spiegelte das wider.
Kompromiss als Seele der Demokratie
Die Kommunikation sei schwieriger geworden, zwischen der Politik und den Menschen, meinten die Polit-Profis übereinstimmend. Und sie empfahlen den Handelnden in politischer Verantwortung, mehr auf die Menschen zuzugehen. „Der Kompromiss ist die Seele der Demokratie“, sagte Krista Sager. Die Politik müsse deshalb viel öfter Menschen mit unterschiedlichen Interessen an einen Tisch holen. Der derzeitige Hang zur Verrohung in den sozialen Netzwerkenhabe seine Ursache in der zunehmenden Verunsicherung in der Gesellschaft, die sich in Aggressionen äußere, sagte die ehemalige Zweite Bürgermeisterin und Senatorin der Hansestadt Hamburg. „Viele leben heute in einem Zustand der Überforderung, fühlen sich an den Rand gedrängt“, so Sager.
Ole von Beust (CDU) bekannte: „Ich erschrecke mich über den Hass, die Verachtung und den Unwillen in der Gesellschaft.“, bekannte Ole von Beust (CDU). AfD-Mann Norbert Frühauf lieferte seine Erklärung: „Die öffentliche Meinung hat andere Wege gefunden.“ Denn die veröffentlichte Meinung in den Medien gebe längst nicht mehr wieder, was alle denken würden. Es gelte nun, die Balance wiederherzustellen und dafür politische Eitelkeiten beiseite zu legen. Auch von Beust konstatierte: „Die politische Wahrnehmung geht an dem vorbei, was der normale Mensch empfindet.“ Alle hätten viel zu sehr die positiven Seiten den Globalisierung betont, sagte er selbstkritisch. „Nun klafft ein Graben der Entfremdung zwischen der Minderheit der politischen Eliten, die in der Lage ist, überall von Digitalisierung und Globalisierung zu profitieren, und der an ihren Wohn- und Lebensort gebunden Mehrheit, die Globalisierung als Bedrohung empfindet und das Gefühl hat, nicht mehr dazuzugehören.“ Die Herausforderung sei daher, heutige Probleme, wie die Zuwanderung, zu lösen, „ohne, dass es auf Kosten derer geht, die unter der Globalisierung leiden.“
Die Frage nach Moral beantwortet jeder anders
Ex-Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) sagte, dass Deutschland zu viel reguliere, ohne sich selbst an die Regeln zu halten. „Wir produzieren pausenlos Rechtsvorschriften, es interessiert uns hinterher aber nicht, ob sie eingehalten werden.“ Seine Forderung lautet: „Macht weniger Regeln und haltet euch daran.“
In der Flüchtlingskrise sah Christiane Schneider von den Linken neben viel Schatten auch Licht: „Ich habe mir nicht vorstellen können, wie viel Solidarität es bei den Menschen gibt.“ Einer Zuhörerin fehlte es dennoch daran in der Gesellschaft. Sie fragte: „Wo bleibt die übergeordnete Moral, die Haltung, dass der Starke dem Schwachen hilft?“ Statt dessen werde der Materialismus zur Religion wenn etwa Autohersteller ihre Kunden für mehr Profit betrögen und die Politik nicht Stellung beziehe.
Die Moral sei etwas Persönliches, entgegnete der Liberale Schmidt-Jortzig: „Fragen Sie nicht die Automobilindustrie, sondern deren einzelne Aktionäre.“ Jeder sei gefragt in seiner moralisch-sittlichen Verantwortung.
Probst Bohl zieht ein versöhnliches Fazit
„Warum plant Politik nur kurzfristig und nicht langfristig?“ wollte Zuhörer Wolfgang Stiehl wissen. Ole von Beust antwortete: „Die Einsicht, etwas Unbequemes zu tun, fällt uns allen schwer. Das ist nicht auf die Politik beschränkt, sondern eine menschliche Eigenart.“, sagte Ole von Beust. Für Krista Sager hat sich der Anteil langfristiger Ziele in der Politik schon deutlich erhöht. „Es ist die Aufgabe, den demokratischen Mehrheitsprozess immer wieder danach auszurichten.“
Trotz oder gerade wegen der aktuellen Probleme lautet der Rat der Erfahrenen an den Nachwuchs: Politisches Engagement lohnt sich! „Ihr könnt etwas verändern, wenn ihr euch engagiert, das ist meine wichtigste Lebenserfahrung“, sagte Krista Sager. Ole von Beust schloss sich an: „Nehmt es selbst in die Hand, seid kein Spielball anderer.“ Und Eckart Kuhlwein sagte: „Die Welt ist nicht endlich, wir müssen gegensteuern, das müsst ihr lernen.“ Propst Matthias Bohl zog ein versöhnliches Fazit am Ende: „Ich spüre eine Suchbewegung, in der sich erneuernden Gesellschaft.“