Hamburg. Sie sind in den Vierzigern, bekleiden wichtige Ämter – und ticken ganz anders als ihre Vorgänger. Eine Analyse mit sechs Thesen.
Um 10.54 brummt das Handy, eine SMS. „Bahn verpasst, bin erst fünf nach 11 da. LG, ad.“ LG steht für Liebe Grüße, ad für Andreas Dressel. Kurz darauf betritt der SPD-Fraktionschef das Café am Rathausmarkt und entschuldigt sich sofort: Er habe noch etwas für seinen Sohn in einem Elektronikmarkt besorgen müssen, daher sei ihm die angepeilte U-Bahn entwischt.
Warum das hier erzählt wird? Nun, nach gängiger Lesart ist Dressel der zweitmächtigste Mann Hamburgs nach dem Bürgermeister. Ohne ihn und seine 58 Abgeordneten in der Bürgerschaft geht nichts, gegen ihn sowieso nicht. Viele sehen in dem gerade 43 Jahre alt gewordenen Sozialdemokraten nicht nur Olaf Scholz’ wichtigsten Mann, sondern auch seinen legitimen Nachfolger.
In der Vorstellung der meisten Menschen wohnt so jemand vermutlich in einer Villa in Elbe- oder Alsternähe, trägt dunkelblaue Anzüge mit Goldknöpfen, lässt sich in schweren Limousinen durch die Stadt chauffieren, kommuniziert nur über strenge Vorzimmerdamen und pflegt auch sonst keinen direkten Kontakt zum gemeinen Hamburger. Doch nichts davon ist richtig.
Dressel hat drei Kinder und schreibt gern SMS
Andreas Dressel wohnt im beschaulichen Volksdorf, hat drei Kinder – zwölf, neun und fünf Jahre –, fährt häufig U-Bahn, schreibt gern SMS, und wenn er nicht gerade die Geschicke der Stadt mitbestimmt, ist er mit großer Wahrscheinlichkeit als Familienvater im Einsatz, so wie zigtausend andere Familienväter halt auch: auf Spiel- und Sportplätzen, beim Kindergeburtstag, Elternabend – oder eben, wie an diesem Tag, im Fachmarkt für Kinderspielzeug. Er trägt heute übrigens Jeans, Rolli und Sakko.
Legeres Auftreten ist nicht ungewöhnlich
Dieses Auftreten ist keineswegs ungewöhnlich, sondern steht stellvertretend für eine ganze Generation. Ob Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (44, SPD) und Oppositionsführer André Trepoll (40, CDU), die Senatsmitglieder Katharina Fegebank (40), Till Steffen (44, beide Grüne), Melanie Leonhard (40), Carsten Brosda (43) und Andy Grote (49, alle SPD) oder die Parteichefs Katja Suding (42, FDP) und Roland Heintze (44, CDU): Die Hamburger Politik wird zunehmend von den heute 40- bis 49-Jährigen bestimmt, die Florian Illies einst als „Generation Golf“ beschrieben hat.
Und sie haben weit mehr gemeinsam als ihre Geburtsjahre. Anders als Illies es schildert, steht die „Generation Golf“ der Hamburger Politik ihrem Umfeld nicht gleichgültig gegenüber (natürlich nicht!), es sind auch keine selbstverliebten Markenfetischisten, sondern für ihre herausgehobenen Stellungen bemerkenswert uneitle, pragmatische Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen – und zwar in aller Regel im Familienleben. Sechs Thesen:
1. These: Sie sind pragmatisch und unideologisch
„Es geht darum, Lösungen für die Menschen zu finden“, sagt CDU-Chef Roland Heintze auf die Frage nach seinem Politikverständnis. „Es wird erwartet, dass wir Lösungen finden“, sagte Carola Veit, die Bürgerschaftspräsidentin von der SPD. Wen man aus dieser Generation auch fragt, so oder so ähnlich drücken sie es fast alle aus. Endlose Debatten? Ideologische Grabenkämpfe? Nicht ihr Ding. „Glücklicherweise“, sagt Veit, werde zumindest in der Tagespolitik „nicht mehr so grundsätzlich ideologisch debattiert wie früher“.
Auch André Trepoll war schon immer ein Freund handfester Lösungen: Von seinem ersten selbst verdienten Geld als Zeitungsausträger hat er sich für 5000 Mark einen alten Golf gekauft. „Golf II CL“, präzisiert er. Der wurde mehrmals aufgebrochen und jedes Mal das Radio geklaut. Schließlich hatte Trepoll die Nase voll und legte einen alten Kassettenrekorder in den Fußraum – den hat niemand mehr geklaut.
Das ist typisch für diese Generation. Jede Lösung, die funktioniert, ist besser als eine, die zwar der reinen Lehre entspricht, aber eben nicht funktioniert. Oder wie Trepoll sagt: „Man sollte nicht an Lösungen rütteln, solange man keine bessere hat.“ Mit dieser Einstellung agierte er schon als Schulsprecher am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Heimfeld. „Ich mochte keine ideologischen Reden, die nichts bringen, oder Flyer mit weltanschaulichen Parolen“, sagt er. „Ich habe mich gefragt, was wir für die Schüler tun können.“
Trepoll ließ die S-Bahnen auch nachts fahren
Als er später Vorsitzender der Jungen Union Hamburg wurde, setzte er tatsächlich eine kleine Revolution in der Verkehrspolitik durch, für die ihm noch Generationen an jungen Leuten dankbar sein müssten: dass S- und U-Bahnen zumindest am Wochenende auch nachts fahren. Der junge André aus Neugraben, 20 Kilometer südlich der Hamburger City gelegen, litt ebenso wie Tausende junger Menschen aus Poppenbüttel, Rahlstedt oder Blankenese damals darunter, dass man den Kiezbummel am Wochenende um Mitternacht abbrechen musste, um noch die letzte Bahn zu erwischen oder hilfsweise in übervollen Nachtbussen nach Hause zu schaukeln – also versuchte er es zu ändern.
„Wir haben damals 10.000 Unterschriften dafür gesammelt. Und irgendwann hatten wir dann auch Ole von Beust überzeugt.“ Der damalige Bürgermeister hatte zunächst Bedenken, gab dem Drängen des CDU-Nachwuchses aber schließlich nach.
Flexibel und bereit für neue Ideen
SPD-Fraktionschef Dressel gilt mittlerweile als Meister darin, Kompromisse mit Volksinitiativen oder Lösungen in festgefahrenen Konflikten zu finden. Ob Verteilung von Flüchtlingsunterkünften, die Ganztagsbetreuung an Schulen oder die Beschulung von förderbedürftigen Kindern an Regelschulen (Inklusion): Zusammen mit Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks – der ebenfalls drei kleine Kinder hat und einen ähnlichen Politikstil pflegt, aber mit 35 Jahren im Prinzip schon der nächsten Generation angehört –, holt er seit Jahren eine Kuh nach der anderen vom Eis.
Aufsehen hatte Dressel schon zu SPD-Alleinregierungszeiten erregt, als er nach dem erfolgreichen Volksentscheid für den Rückkauf der Energienetze umgehend einen Plan präsentierte, wie der umgesetzt werden solle – obwohl seine Partei den Rückkauf vehement abgelehnt hatte.
Doch woher kommen diese ausgeprägte Flexibilität und die Bereitschaft, andere Wege einzuschlagen, wenn der eigentlich präferierte in die Sackgasse führt? André Trepoll erklärt das mit einem Ereignis, das für die meisten Politiker dieser Generation prägend war: die Wende 1989/90. „Mein politisches Erweckungserlebnis“, sagt der CDU-Fraktionschef. Mit der Abkehr vom Blockdenken und der neuen Möglichkeit, hinter den Vorhang zu schauen und in bis dahin unbekannte Länder zu reisen, seien auch sein Verständnis für abweichende Haltungen und seine Abneigung gegen ein starres ideologisches Weltbild gewachsen, so Trepoll.
Steffen glaubt an die Kraft von unten
Justizsenator Till Steffen sieht den Hang zum Pragmatismus als „Abgrenzungsgeschichte, vor allem gegen die Generation davor“. Er habe viele Grüne getroffen, die in den kommunistisch geprägten K-Gruppen sozialisiert waren. „Die wollten aber trotzdem alle Probleme von oben über staatliches Handeln lösen. Wir glauben dagegen vielmehr auch an die Kraft von unten aus der Gesellschaft.“
Dass Hamburg heutzutage über eine ausgeprägte Volksgesetzgebung verfügt, hat auch mit dieser Haltung zu tun, die auch in anderen Parteien verbreitet ist. So war Andreas Dressel zwar Anhänger von Gerhard Schröder, aber in einem Punkt grenzt er sich klar von dem „Basta-Kanzler“ ab: „Wir sind alle in dem Bewusstsein groß geworden, dass man die Bürger mitnehmen muss und nicht durchregieren kann.“
Dass seine vermittelnde Art auch in einem gewissen Kontrast zum Bürgermeister und SPD-Chef Olaf Scholz („Wer Führung bestellt, bekommt sie auch!“) steht, ist Dressel natürlich bewusst, aber er übt sich in Diplomatie: „Ich mache ja nichts gegen den Bürgermeister, sondern alles in Abstimmung mit ihm.“
Früher galten sie als „Helmut Schmidts Enkel“
Dressel und Carola Veit haben schon zu Beginn ihrer politischen Karrieren klargestellt, dass sie mit dem ideologisch geprägten Flügeldenken, in dem nicht selten die gegenseitige Blockade dem vernünftigen Mittelweg vorgezogen wurde, nichts anfangen können. Dressel hat noch Zeitungsausschnitte von 1996, die ihn, Veit und andere, später ebenfalls politisch erfolgreiche Mitstreiter als „Helmut Schmidts Enkel“ vorstellten: eine Gruppe von Jusos, die mehr Realismus und Pragmatismus in der SPD forderte. „Viele haben zu wenig Realitätssinn, sitzen im Elfenbeinturm“, sagte das damalige Juso-Vorstandsmitglied Dressel in einem Interview über seine Genossen und wurde für seine Verhältnisse geradezu boshaft: „Außerdem fehlt Innovationsgeist: Die letzte Neuerung, der die SPD zugestimmt hat, war wohl der Farbfernseher.“
Markige Worte, denen durchaus Taten folgten. Zusammen mit dem heutigen Innensenator Andy Grote haben Dressel und seine Mitstreiter den Juso-Landesvorstand übernommen und sogar die traditionell noch links von der SPD stehende Nachwuchsorganisation „auf Realpolitik getrimmt“, sagt der SPD-Fraktionschef und betont noch einmal, was offensichtlich ist: „Ich war schon mit 20 total pragmatisch.“
Auch bei Carola Veit hat sich bis heute nichts an dieser lebensnahen Herangehensweise geändert. Ein unpolitisches, aber dennoch passendes Beispiel: Als die Zahl der Fraktionschefs in der Bürgerschaft die der Sitzplätze am Besprechungstisch ihres Amtszimmers überstieg, hat sie nicht etwa einen neuen anschaffen, sondern einen alten vom Dachboden aufarbeiten lassen. Der tut’s auch. Veit meint: „Je länger man Politik macht, desto pragmatischer wird man.“
2. These: Sie verstehen sich gut und sind konsensorientiert
In der vergangenen Wahlperiode brachte der damalige Oppositionsabgeordnete Till Steffen seine beiden Söhne einmal mit in die Bürgerschaft – ein kleines Betreuungsproblem. Als er als Redner gefragt war, übergab er die Jungs einem guten Bekannten: Andreas Dressel. Während der Grüne Steffen also am Mikrofon die Verkehrspolitik des SPD-Senats kritisierte, passte der SPD-Fraktionschef auf dessen Kinder auf.
Auch das ist durchaus nicht ungewöhnlich. Allen öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz gehen die allermeisten Politiker auch parteiübergreifend freundlich miteinander um oder sind sogar befreundet.
„Ich habe da keine Berührungsängste“, sagt Katja Suding. Natürlich habe sie eine von liberalem Gedankengut getragene Haltung, betont sie. Aber darüber hinaus schaue sie, mit welchem Partner sie welches Ziel erreichen könne. Das könne mal die SPD, mal die CDU, mal die Grünen oder auch mal die Linkspartei sein, sagt die frühere FDP-Fraktionschefin und heutige Bundestagsabgeordnete. So hatte ihre Partei 2012 mit der SPD und den Grünen gemeinsam die Aufnahme der Schuldenbremse in die Hamburgische Verfassung durchgesetzt.
Roland Heintze hat schon im Elternhaus in Stelle im Landkreis Harburg gelernt, mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen. Der Vater war CDU-Mitglied, die große Schwester angehende Lehrerin mit Sympathien für die Gewerkschaftsbewegung – und der kleine Roland mittenmang. Als er nach dem Umzug nach Niendorf aus Ärger über die SPD-Schulpolitik in die Hamburger Schüler-Union eintrat, wurde er dennoch kein Sozi-Hasser.
Heintze, Annen und Schemmel sind Schulfreunde
Im Gegenteil: Am Gymnasium Ohmoor wetteiferte er mit Mitschülern wie Niels Annen und Marc Schemmel um Schulsprecher-Posten. Dass beide in der SPD Karriere machten – Annen sitzt im Bundestag, Schemmel in der Bürgerschaft –, änderte nichts an dem guten Verhältnis der Kontrahenten. „Mit Marc Schemmel bin ich bis heute gut befreundet“, sagt Heintze, der das auch nicht als ungewöhnlich empfindet.
Ihm geht die Freundlichkeit in der Politik aber bisweilen schon zu weit. „Wir haben eine Konsensdemokratie“, sagt der CDU-Chef. „Aber bei zu viel Konsens verschwinden die Unterschiede. Und das ist nicht gut.“ Dass SPD und Grüne in Hamburg Probleme häufig einfach nur „wegmoderieren“, indem sie zum Beispiel mit Volksinitiativen teure Kompromisse aushandeln, das gehe ihm „auf die Nerven“, sagt Heintze. Dort und auch innerparteilich wünsche er sich mehr klare Kante.
3. These: Sie sind uneitel und legen keinen Wert auf Statussymbole
Eine dunkle Limousine fährt vor. Der Chauffeur steigt aus und öffnet die Fonds-Tür. Blitzlichtgewitter. Ehrpusselige Menschen treten herbei und umschmeicheln den „Herrn Senator“ oder die „Frau Senatorin“. Es gab durchaus schon Hamburger Politiker, die sich solche Szenen erträumten. Für die Generation Golf, die zwischen gebrauchten Volkswagen (Trepoll) und dem Opel Corsa der Mutter (Suding) aufgewachsen ist, spielen solche Insignien der Macht jedoch kaum noch eine Rolle. Mancher von ihnen verzichtet sogar freiwillig darauf.
Carola Veit etwa legt ihren Arbeitsweg meistens mit ihrem nicht mehr ganz neuen japanischen Kleinwagen zurück. „Oder mit Bus und Bahn“, sagt sie und zückt ihr Handy – in der Hülle steckt die HVV-Dauerkarte. „Am liebsten“ fahre sie aber mit dem Rad. „Aus dem Hamburger Osten an der Elbe entlang in die Innenstadt zu radeln – das ist für mich Freiheit und Luxus.“ Auch Till Steffen fährt so viel wie möglich Rad, gern auch mal ins Büro.
Dabei stehen sowohl dem Justizsenator als auch der Bürgerschaftspräsidentin natürlich Dienstwagen samt Fahrer zu, die sie auch gelegentlich in Anspruch nehmen. Das hat – man ahnt es – „ganz pragmatische Gründe“, sagt Veit, etwa wenn sich die Termine im Kalender ballen oder weil es das Protokoll erfordere. „Wenn ich den Bundespräsidenten am Flughafen begrüße, kann ich nicht mit meinem Kleinwagen vorfahren.“
Fiat 500 löst Dienstwagen ab
Katja Suding hat in ihrer Zeit als Fraktionschefin zwar den Dienstwagen der Bürgerschaft genutzt, mit dem Fahrer aber gleich am ersten Tag vereinbart, dass er ihr bitte nicht die Wagentür aufhalten möge. „Wir sind doch nicht bei Hofe“, sagt Suding. Auf dem Weg zu offiziellen Terminen sei sie oft eine Straßenecke vor dem eigentlichen Ziel ausgestiegen. „Ich bin nicht abgehoben und möchte auch nicht den Eindruck erwecken“, sagt sie, und das passt durchaus zu ihr. Auch wenn sie gern als Glamourgirl der Politik dargestellt wird und sich durchaus zu inszenieren weiß, ist sie ziemlich bodenständig und unaffektiert. Seit sie in den Bundestag gewechselt ist und ihr der Dienstwagen nicht mehr zusteht, fährt sie Fiat 500.
André Trepoll nutzt den Dienstwagen für den Fraktionschef dagegen auch privat – das ist bei entsprechender Versteuerung möglich. Aber er fährt meist selbst, um auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Rückweg noch schnell etwas zu erledigen.
Die Sitze für seine Kinder, drei und fünf Jahre alt, bleiben immer im Auto. Eine dunkle Staatskarosse mit Kindersitzen drin, und der Politiker fährt selbst – kaum ein Bild beschreibt so gut, wie diese Generation tickt. Nicht nur das Auto hat als Statussymbol bei den 40- bis 49-Jährigen längst ausgedient. „Freizeit bringt Lebensqualität“, sagt Trepoll. „Neulich war ich auf dem 40. Geburtstag eines Freundes – das ist mir wichtig. Nicht die Marke meines Autos.“
Weit weg vom Marken-Fetischismus
Andreas Dressel, der je nach Anforderung zwischen Bahn, Privatwagen und dem Passat Hybrid der Fraktion entscheidet, geht noch einen Schritt weiter: „Ich lege keinen Wert auf Statussymbole“, sagt er. „Aber ich lege auch keinen Wert darauf, demonstrativ zu zeigen, dass ich darauf keinen Wert lege.“
Und was ist mit dem Marken-Fetischismus, den Florian Illies der „Generation Golf“ attestiert? Den habe er in seinem Umfeld durchaus beobachtet, sagt Till Steffen, aber nur bedingt mitgemacht. „Ich habe mal Swatch-Uhren gesammelt“, erzählt er. „Aber ich bin nur bis drei gekommen ...“ Auch bei Sneakern halte er einer bestimmten Marke die Treue, aber das sei es auch schon. Überhaupt kann der Justizsenator mit Illies’ Grundthese über seine Generation wenig anfangen: „Hedonistische Menschen, die sich nicht kümmern – das traf auf mich nicht zu“, sagt Steffen. „Die gab es in meiner Generation zwar auch, aber von denen habe ich mich ferngehalten.“
Auch Roland Heintze ist nicht gerade von Markenbewusstsein geprägt: „Wir waren fünf Kinder, da stellte sich die Frage gar nicht, ob wir Lacoste-Klamotten tragen wollen.“ Der CDU-Chef glaubt, dass das Statusbewusstsein in der Gesellschaft insgesamt abgenommen hat, „in der Politik auch deswegen, weil man gemerkt hat, dass es bei den Bürgern nicht so gut ankommt“. Da dürfte etwas dran sein.
4. These: Die erste Generation, die Politik und Familie unter einen Hut bringt
Es ist noch keine zehn Jahre her, dass der damalige schwarz-grüne Senat das Haushaltsloch infolge der Finanzkrise unter anderem mit einer massiven Erhöhung der Kitagebühren stopfen wollte und so die Hamburger Eltern erzürnte. Auch wenn es nicht als alleinige Erklärung taugt – diese unglückliche Entscheidung hatte wohl auch mit einer fehlenden Sensibilität im Regierungslager zu tun: Vom Bürgermeister über die beiden Fraktionschefs bis hin zum zuständigen Senator waren alle kinderlos.
Dieses Bild hat sich völlig gedreht: Kinderlose wie Bürgermeister Scholz sind mittlerweile die Exoten im Rathaus, das zum reinsten Kindergarten mutiert ist. Carola Veit war 2013 die erste Bürgerschaftspräsidentin, die während ihrer Amtszeit Mutter geworden ist – zum dritten Mal. Sechs Tage später saß sie wieder im Büro, den kleinen Sohnemann auf dem Schoß. Ein Statement für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? „Nein“, sagt Veit. „Es gibt bei dem Thema kein Richtig und kein Falsch und keine Vorbilder. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was für ihn oder sie am besten ist.“ Dass sie es schaffe, das herausfordernde Amt und drei Kinder – 16, 12 und vier Jahre alt – unter einen Hut zu bringen, habe sich halt so ergeben. „Man wächst ja mit der Aufgabe“, meint Veit.
Schiedek bekam als erste Senatorin ein Kind
Jana Schiedek war 2014 die erste Senatorin in der Geschichte der Stadt, die während ihrer Amtszeit Mutter wurde. Auch sie wollte sich nie als Vorbild verstanden wissen, war sich dieser Rolle aber natürlich bewusst. Dass Schiedek das Justizressort 2015 freiwillig aufgab, um sich mehr ihrem Sohn widmen zu können, dürfte ebenfalls ein Novum gewesen sein.
Mittlerweile ist die 43-Jährige als Staatsrätin der Kulturbehörde zurück im Politikbetrieb und hat einen sehr verständnisvollen Chef: Kultursenator Carsten Brosda hat zwei Kinder, und für die sagt auch er schon mal einen wichtigen Termin ab. Beim Hamburger Theaterempfang 2017 in Berlin, eigentlich ein Pflichtauftritt für den Senator, ließ er sich kurzfristig entschuldigen, weil bei seiner Tochter wichtige(re) Ereignisse anstanden.
Dass eine Politikerin zugunsten der Familie sogar auf ein Senatorenamt verzichtet, hätte sich kurz nach Schiedeks Rückzug 2015 beinahe wiederholt. Melanie Leonhard hatte mit Rücksicht auf ihren damals gerade ein Jahr alten Sohn lange gezögert, die Nachfolge von Sozialsenator Detlef Scheele anzutreten, als der Chef der Bundesagentur für Arbeit wurde. Schließlich ließ sie sich doch in die Pflicht nehmen und kann seitdem sehr lebhaft über den Spagat zwischen ihren Rollen als junge Mutter und als Senatorin berichten.
Ein gesellschaftlicher Wandel hat stattgefunden
Wie herausfordernd die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sein kann, verschweigt denn auch keiner der Protagonisten. Carola Veit bringt es ohne Anflug von Selbstmitleid auf den Punkt: „Ich habe einen tollen Job und eine tolle Familie, und dann ist der Tag auch rum.“
Till Steffen hat mit Rücksicht auf seine sieben und elf Jahre alten Söhne in der Justizbehörde die Anweisung gegeben, dass man ihm am Freitag nach 15 Uhr möglichst keine Termine mehr geben solle – dann will er seine Jungs von der Schule abholen und für sie da sein. Es habe einige Zeit gebraucht, bis die Mitarbeiter das verinnerlicht hätten, sagt Steffen. Aber mittlerweile sei diese Begründung absolut akzeptiert. „Da hat auch ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden. Vor zehn oder 15 Jahren hätte man mit so einer Ansage wohl noch Probleme bekommen. Aber die Maßstäbe haben sich zum Glück verschoben.“
Auch Dreifach-Papa Andreas Dressel versucht, sich den Freitagnachmittag frei zu halten, um zum Beispiel die Kinder zum Sport zu chauffieren. Für die Wochenenden gewährt er sich einen Tag oder zwei halbe Tage Arbeit. „Wenn das überschritten wird, gibt es Ärger ...“
Kritik an familienunfreundlichen Sitzungszeiten
Dass die Bürgerschaft ein Teilzeitparlament ist, dessen Plenar- oder Ausschusssitzungen mit Rücksicht auf berufstätige Abgeordnete erst am Nachmittag beginnen, empfindet Dressel als familienunfreundlich: „Wenn hier die Hauptarbeit beginnt“, sagt er und zeigt auf das gegenüberliegende Rathaus, „kommen die Kinder aus der Schule.“ In der Abendbrot- und Zubettgehphase sei er daher sehr selten zu Hause: „Das vermisse ich schon. Ich würde den Kindern gern häufiger etwas vorlesen.“ Umso mehr Wert wird auf die gemeinsame Zeit am Morgen und am Wochenende gelegt. Und wenn dann der Bürgermeister anruft? „Dann sage ich, dass ich zurückrufe.“
André Trepoll betrachtet es als Selbstverständlichkeit, dass er neben dem 60-Stunden-Job als Fraktionschef auch häusliche Pflichten übernimmt. Wenn seine Frau, die eine Zweidrittelstelle als Lehrerin hat, morgens aus dem Haus geht, räumt er die Küche auf, bringt die fünfjährige Tochter und den dreijährigen Sohn zum Kindergarten und geht auf dem Weg zur Arbeit noch einkaufen. Manchmal werde er dabei angesprochen und habe den Eindruck, die Menschen wunderten sich, dass der Typ aus der Zeitung selbst sein Leergut abgibt. Was ihn wiederum wundert: Warum sollte er das nicht machen? „Wir Männer haben heute andere Ansprüche, wir wollen am Familienleben genauso teilhaben“, sagt Trepoll.
Sudings Kinder waren schon oft mit
Katja Suding hat ihre Söhne schon mehrfach zu politischen Terminen mitgenommen, etwa 2011 zur ersten Sitzung in der Bürgerschaft, 2017 zur Konstituierung des Bundestags oder auch in ihr damaliges Büro im Rathaus. „Die finden das spannend“, sagt sie. Also alles problemlos? „Nein, das ist schon schwierig“, räumt Suding ein. „Einer muss sich ja um die Kinder kümmern. Als ich die Chance hatte, Fraktionschefin zu werden, hat mein damaliger Mann im Job zurückgesteckt und gesagt: Mach es.“ Dass ihre Ehe auseinanderbrach, habe nichts mit der Politik oder diesem Rollenmodell zu tun gehabt, betont Suding. Immerhin kümmerten sie und ihr Ex-Mann sich nach wie vor gemeinsam um die Kinder.
Für die Kleinen sei es ja meist kein Drama, wenn ein Elternteil mal nicht da sei, sagt Suding: „Aber man selbst vermisst sie.“ Sie sage daher inzwischen öfter mal Nein zu Einladungen oder Terminanfragen. Und als FDP-Landesvorsitzende hat sie dafür gesorgt, dass Vorstandssitzungen nicht mehr bis Mitternacht ausfransen, sondern möglichst um 21 Uhr beendet sind. Das sei auch so akzeptiert.
5. These: Die Politik dieser Generation ist anders als die ihrer Vorgänger
Dass noch mal ein Senat die Gebühren für Kitas oder andere für Familien wichtige Einrichtungen drastisch erhöht, ist heute kaum noch vorstellbar. Es war 2011 eine der ersten Maßnahmen des neuen Senats und von SPD-Abgeordneten wie Dressel, Veit und Leonhard, die Erhöhung zurückzunehmen und die Gebühren sogar weitgehend abzuschaffen. Auch CDU-Politiker wie Trepoll und Heintze räumen heute ein, dass sie das nicht mehr zurückdrehen würden – obwohl sie die Gebührenfreiheit auch kritisch sehen, weil aus ihrer Sicht die Betreuungsqualität darunter leide.
Erst in dieser Woche haben Dressel und Tjarks eine große Offensive zur Sanierung der Hamburger Spielplätze angekündigt. Die CDU hatte das schon lange vorher gefordert – in Person von André Trepoll, der einige marode Anlagen aus eigener Anschauung kennt.
Persönlicher Hintergrund beeinflusst Politik
Während Heintze, der mit einem Mann zusammenlebt und kinderlos ist, eine Wechselwirkung zwischen Privatleben und Politik eher verneint, ist für die meisten Vertreter dieser Generation klar, dass ihr persönlicher Hintergrund sich auch auf ihre Politik auswirkt: „Das Sein bestimmt doch das Bewusstsein“, sagt Trepoll. Er wisse halt aus der Kita seiner Kinder, mit welchen Problemen die Erzieherinnen zu kämpfen haben. „Und ich stehe wie viele andere Hamburger auch fast jeden Tag im Stau.“ Der Oppositionsführer glaubt auch, dass Familie die Bodenhaftung fördert: „Der Alltag mit Kindern und Familie, das erdet.“
Andreas Dressel sieht es ähnlich. Sein „Kraftzentrum Familie“ wolle er keinen Moment missen, sagt er. Zumal er seine Erfahrungen als Familienvater auch politisch anwenden könne: „Was ich bei meinen Kindern in Sachen Ganztagsbetreuung erlebe, konnte ich in den Verhandlungen mit der Volksinitiative Guter Ganztag nutzen. Und was ich beim Thema Inklusion mitbekommen habe, war für mich auch ein Antrieb, mit der Ini Gute Inklusion zu einer Lösung zu kommen.“
Auch bei anderen Themen wie Verkehr oder Wohnungsbau helfe das Wissen um die Kostspieligkeit des Familienlebens in Hamburg. Dass er auch auf Elternabenden oft mit Politik konfrontiert werde, nimmt er dafür in Kauf: „Ich bin halt Papa und Politiker. Das lässt sich ohnehin nicht trennen.“
6. These: Einer von ihnen wird mal Bürgermeister
Im vergangenen Sommer wäre der Fall beinahe eingetreten. Wäre Olaf Scholz infolge der G-20-Krawalle zurückgetreten – was er nach eigener Aussage zumindest abgewogen hatte –, hätte viel dafür gesprochen, dass Dressel Bürgermeister geworden wäre. Nach 13 Jahren in der Bürgerschaft, davon sieben als Fraktionschef, in denen er sich als Moderator, Kommunikator und Troubleshooter bewährt hat, gilt der 43-Jährige als klare Nummer zwei der SPD-Hierarchie. Dass der Jurist die hamburgische Verwaltung bestens kennt – er hat früher in der Stadtentwicklungsbehörde gearbeitet –, erhöht seine Eignung noch.
Dressel ist sich seiner Stellung durchaus bewusst, aber er kokettiert nicht damit. Darauf angesprochen, schmunzelt er und sagt: „Wir wissen alle, was wir an Olaf haben.“ Und damit ja kein Missverständnis aufkommt, schiebt er noch hinterher, dass die Aufgabenteilung zwischen dem Bürgermeister und ihm doch gut funktioniere: „So soll es bleiben.“ Den Söder machen – also wie der bayerische Finanzminister jahrelang am Stuhl des Ministerpräsidenten sägen –, das käme ihm nie in den Sinn.
Zeit für einen Generationenwechsel
Auch wenn nicht Dressel der nächste Bürgermeister werden sollte, spricht einiges dafür, dass es jemand aus der „Generation Golf“ wird. So wird innerhalb der SPD auch Melanie Leonhard zugetraut, dass sie eines Tages in dieses Amt hineinwachsen könnte. Und sollte die CDU 2020 oder später den Machtwechsel schaffen, würden dabei nach heutiger Lage Trepoll oder Heintze in der ersten Reihe stehen.
Die beiden CDU-Anführer halten sich zwar noch bedeckt, wer es letztlich machen wird – oder ob nicht doch eine auswärtige Frau als Überraschungskandidatin aus dem Hut gezaubert wird. Aber Trepoll findet die Aussicht, dass jemand aus seinen Jahrgängen mittelfristig das Ruder übernimmt, schon in Abgrenzung zum Amtsinhaber Olaf Scholz (59) reizvoll: „Es ist auf jeden Fall Zeit für einen Generationswechsel.“