Hamburg . 26-Jähriger griff Kunden einer Edeka-Filiale in Barmbek und Passanten an. Verletzten fällt Aussage vor Gericht sichtlich schwer.
Auf einer Balustrade, vor einer Reihe mit lederbezogenen Sitzen, stehen in Gerichtssaal 237 acht Platzkarten. „Nebenkläger/In“ ist darauf zu lesen, darunter die dazu passenden Initialen. Acht Schilder für acht Menschen. Seit dem 28. Juli 2017 sind ihre Schicksale auf tragische Weise verknüpft – durch den Messerangriff des Islamisten Ahmad A. in und vor einer Edeka-Filiale an der Fuhlsbüttler Straße sind sie, die Verletzten und Hinterbliebenen, für ihr Leben gezeichnet.
Am Freitag ist der Prozess gegen Ahmad A. vor dem Oberlandesgericht fortgesetzt worden – es ist der Tag der Opfer. Sie berichten dem Gericht, wie sich die Tat aus ihrer Sicht abgespielt und auf ihr Leben ausgewirkt hat. Sechs Menschen hatte Ahmad A. – laut Anklage aus Wut über das den Muslimen weltweit angeblich widerfahrende Unrecht – mit einem Kochmesser schwer verletzt; für einen 50-Jährigen kam jede Hilfe zu spät, er verblutete noch am Tatort. Mutigen Augenzeugen gelang es schließlich, den Attentäter zu stoppen. Sie verhinderten, dass er noch mehr Menschen umbringen konnte. Denn das, so erzählte er später mit süffisantem Lächeln im Gesicht einem LKA-Beamten, sei sein Ziel gewesen: Er habe so viele (junge) deutsche Christen töten wollen wie nur irgendmöglich.
Zeugen scheuen Blickkontakt mit Ahmad A.
Die Bundesanwaltschaft hat den Palästinenser wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Über seinen Verteidiger hat er bereits alle Vorwürfe eingeräumt. Als das Gericht am Freitag die Verletzten nacheinander befragt, blickt Ahmad A. wie am ersten Prozesstag mit regungsloser Miene stur geradeaus. Wieder ist von dem bärtigen Mann kein Wort der Reue zu hören. Die meisten Zeugen scheuen den Blickkontakt mit dem 26-Jährigen, was nachvollziehbar ist: Bis auf eine Betroffene hat kein Opfer das Geschehen in Gänze verarbeitet.
Einer, der unter der blutigen Attacke weiterhin leidet, ist Ingo T., 56 Jahre, Redakteur. Er war Ahmad A.’s zweites Opfer. „Ich stand an der Wurst- und Käsetheke, als ich auf der anderen Seite einen Tumult bemerkte, es sah so aus, als würden zwei Männer miteinander kämpfen“, sagt der Zeuge. Einer sei plötzlich mit schnellen Schritten auf ihn zugekommen und habe ihm ein Messer in die Brust gerammt. „Ich habe nur leise um Hilfe gerufen, weil ich nicht noch mehr Blut verlieren wollte“, sagt Ingo T. Ein paar Meter habe er noch laufen können, dann sei er zusammengebrochen. Es folgten: eine Notoperation, die sein Leben rettete, drei Wochen im Krankenhaus und mehrere Wochen der Rekonvaleszenz. Körperlich habe er sich gut erholt, sagt Ingo T., aber es gebe da noch eine „seelische Seite“, die weitaus „komplexer“ sei. Seit der Tat befinde er sich in psychologischer Behandlung.
Opfer bricht in Tränen aus
Ahmad A. hatte die Tatwaffe, die er später als „Schwert“ bezeichnete, aus einer Auslage der Edeka-Filiale gestohlen. Nach den ersten zwei Messer-Attacken strömten die Menschen in Panik aus dem Laden. Wie alle anderen Opfer hatte auch Dirk M. (57) das Pech, dem offenbar völlig wahllos um sich stechenden Islamisten in die Quere zu kommen. Der Hausmeister wirkt auch Monate nach der Tat tief aufgewühlt. „An dem Tag, es war mein erster Urlaubstag, hatte ich gerade mein Fahrrad vor dem Edeka abgestellt, da hat mich jemand fast umgerannt“, sagt Dirk M. Direkt hinter dem Flüchtenden sei Ahmad A. auf ihn zugestürmt. „Er hat auf mich eingedroschen wie ein Wahnsinniger mit einem Riesenmesser“, so Dirk M. „Ich sah, wie das Blut meinen Arm herunterlief, mein Hemd und meine Hose waren voller Blut.“ Ahmad A. habe ihn „fürchterlich verletzt“. Psychisch gehe es ihm aber „langsam besser“.
Vor dem Supermarkt erwischte es am 28. Juli auch den Auszubildenden Jan-Lukas H. (19). Der junge Mann sah eine Menschenmenge, die vor dem bewaffneten Mann schreiend aus dem Laden flüchtete. Er habe sich umgedreht, um auch wegzurennen. „Doch es war zu spät, er stieß mir ein Messer in den Rücken“, sagt der Zeuge. Er müsse oft an die Tat denken, habe aber keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen.
"Ich dachte, ich musss sterben"
Deutlich stärker steht Klaus-Peter S. (65) unter dem Eindruck des Exzesses. Als der Vorsitzende Richter Norbert Sakuth fragt, wie er sich heute beim Einkaufen fühle, bricht er in Tränen aus. Er war damals Passant, wollte einkaufen, als Ahmad A. plötzlich neben ihm stand – und zustach. „Ich dachte, jetzt muss ich sterben.“ Glücklicherweise erlitt er nur eine Schnittverletzung am Oberarm. Glimpflich kam auch Eveline B. (31) davon. Der Attentäter traf die Radfahrerin nicht mit dem Messer, sondern mit der Faust wuchtig im Brustbereich. Es war knapp. „Die Messerspitze hatte sich durch mein Jeanskleid durchbohrt“, sagt die Zeugin unter Tränen. Eine Traumatherapie habe ihr geholfen, mit dem Erlebten umzugehen.
Ahmad A. attackierte sein letztes Opfer, die Krankenschwester Angela A., auf der Schwalbenstraße. Ein Pulk mit Stühlen bewaffneter Männer sei an ihr vorbeigehastet, plötzlich habe sie einen Schlag gegen die Brust erhalten, sagt die 50-Jährige. „Ich ging weiter und spürte einen brennenden Schmerz.“ Dass sie blutete, habe sie erst bemerkt, als ein Rettungssanitäter sie darauf hingewiesen habe. „Hatten sie später psychische Beschwerden?“, fragt der Richter. „Hatte ich nicht“, sagt Angela A. Auf dem Weg zum Ausgang lächelt sie, blickt dem Angeklagten mit der versteinerten Miene noch einmal direkt in die Augen. Der Prozess geht am Montag weiter.