Hamburg. Am Sonntag hat Beethovens „Fidelio“ Premiere an der Staatsoper Hamburg, inszeniert von Intendant Georges Delnon.
Falk Struckmann braucht dringend Eis, gegen die Schmerzen. Gerade erst hatte die zweite Bühnenorchesterprobe für „Fidelio“ begonnen, Struckmann singt – gegen sein bisheriges Rollensortiment besetzt – den Gefängniswärter Rocco und nicht den Gouverneur Don Pizarro, da klemmt er sich im Kerker die Hand in einer übersehenen Zellenwand-Lücke ein. Schmerzensschrei statt Gesangskunst. Klassisches Künstlerpech.
In solchen Schrecksekunden, wenn die komplexe Maschinerie Opernhaus jäh aus dem Takt kommt, sind alle überfallartig verwirrt, besorgt, von der Rolle. Jemand eilt mit lindernder Kühlung herbei, Kollegen trösten den Bassbariton, während im Graben an einigen Stellen an der Musik gefeilt wird. Entwarnung, aufatmen, durchatmen. Stimmsitz richten, weitermachen. Die nächsten Abschnitte singt Struckmann einhändig, bis der Schmerz nachlässt. Wenige Minuten nur sind vergangen, und schon ist klar: Oper ist nichts für schwache Nerven.
Puzzle muss sich zum Gesamtbild fügen
Bühnenorchesterprobe in der Staatsoper, morgens um zehn, das ist jedes Mal aufs Neue ein kunstvoll arrangiertes Paralleluniversum aus Ideen und Tönen, während der Rest der Stadt sein Leben lebt. Im Foyer, hinter der Tür in den Alltag am Ende des Parketts, wird für den Abend durchgewischt. Manche Orchestermusiker haben sich womöglich im Drogeriemarkt nebenan noch Nervennahrung gekauft, um durch drei Stunden Beethoven zu kommen.
Man arbeitet am Versprechen, für einige Stunden eine Welt zu erschaffen. Nicht aus dem Nichts, sondern aus etlichen Einzelteilen. Komplette Kostüme müssen noch nicht sein, alles voll auszuspielen oder auszusingen ebenso wenig; wichtig ist jetzt vor allem, das auf der Probebühne erarbeitete Regiekonzept auf der tatsächlichen Bühne weiter zu verinnerlichen. Den Klang in diesem Raum zu finden und diesen Präsentierteller zu nutzen. Die Sänger hören sich hier anders. Es wird ernster. Die Premiere kommt näher. Fünf Wochen, ein übliches Pensum, dauerte die Probenzeit – bei Bergs „Lulu“ waren es sechs gewesen –, und sie ist nie ausreichend.
Schwer und kompliziert
Im Dämmerlicht des Zuschauerraums verteilen sich einige Mitarbeiter. Direkt hinter dem Chefpult von Generalmusikdirektor Kent Nagano sitzt seine Assistentin Nadège Foofat in Reihe 1 Mitte vor ihrem Notenpult und verfolgt als Kopilotin, was vor ihr passiert. Viel weiter oben haben sich Frederick Brown (Musikalische Einstudierung) und Kapellmeister Nathan Brock postiert, um von dort aus das größere Ganze zu kontrollieren. Irgendwer geht immer von der Bühne oder auf die Bühne, der technische Direktor Christian Voß ist da, Cornelius Seydel, Leiter der Tontechnik, Produktionsleiterin Stephanie Funk. Alle kennen ihren Platz, nun muss sich das Puzzle zum Gesamtbild fügen.
Das Regiepult befindet sich mittig in Reihe 11. Dahinter sitzt Intendant Georges Delnon auf der Stuhlkante, neben ihm die beiden Spielleiter Tim Jentzen und Holger Liebig. Delnon ist nicht mehr nur Intendant, was durchaus Vollzeitjob genug ist, sondern führt erstmals auch im Großen Haus Regie. Und das auch noch bei einer Oper, von deren dramatischer Substanz alle sofort behaupten: Oha. Nun ja. Schwer. Kompliziert. Dann mal viel Glück. Und die Musik ist da noch gar nicht mitgerechnet. Keines jener handzahmen Stückchen mit verbindlicher Musik und klarer Erzähllinie, die sich immer gut machen und gut machen lassen.
„Es gibt Stücke, die muss man spät machen“
Keine Überraschung also, dass Delnon Beethovens einzige Oper mit einer Menge Respekt als „sehr sperriges Stück“ bezeichnet, als „große Herausforderung“. „,Fidelio‘ bin ich bewusst immer wieder ausgewichen“, sagt er, „erst jetzt hatte ich wirklich Lust darauf, es zu machen.“ Im März wird er 60, auch das könne damit zu tun gehabt haben: „Es gibt Stücke, die muss man spät machen.“ Und es sei auch der Wunsch von Staatsopern-Chefdirigent Kent Nagano gewesen, einmal nicht nur zu delegieren, sondern gemeinsam etwas „in der praktischen Arbeit“ zu entwickeln.
Delnons Pult ist an diesem Morgen erstaunlich leer; er führt kein Regiebuch als Sammelbecken für Detailnotizen, die dicke Kladde liegt vor einem seiner Assistenten; es gibt auch keine Partitur als Fahrplan durch die Musik. Noch nicht mal ein Reclam-Textheft als kleinsten gemeinsamen Nenner. Nur die Lampen, das Mikro für die Durchsagen und eine Flasche Wasser. Bringe ihm alles nichts, meint Delnon später in einer Probenlücke, er müsse das Stück im Kopf haben, dort muss sein, was er will, aber auch, was er nicht will.
Kein regieführender Intendant
Vor der Bühne wird es dunkel, als das Spiel beginnt und Tenor Christopher Ventris als Florestan sein erstes „Gott! Welch Dunkel hier“ dieses Morgens singt. Etliche werden noch kommen, bis es 13 Uhr ist und sich alle, pünktlich wie bei den Maurern, in die Mittagspause verflüchtigen. Kunst ist Kunst, Tarifvertrag ist Tarifvertrag.
Bislang war die Rollenverteilung im Haus für Delnon eindeutig: Er hat bestellt, andere haben inszeniert. Nun ist das anders. Obwohl es im Laufe seiner Karriere Phasen gab, in denen er viele bis sehr viele Produktionen erarbeitet hat, will er an der Dammtorstraße kein regieführender Intendant sein. „Punktuell etwas machen“, das ja, doch dann ist immer die Gewissheit mit dabei, dass man in dieser Doppelrolle mehr unter Druck steht.
Praktische Grundsatzdebatten
Die Schwierigkeiten des Stücks seiner Wahl erleichtert das nicht. Ist „Fidelio“ Oper, Oratorium, geht es um Philosophie oder um ein „Metapherstück für Freiheit“, lautet Delnons rhetorische Frage an sich selbst. Und was will er daraus machen? „Eine Oper. Ich möchte eine Geschichte erzählen, sogar eine relativ kleine. Mal sehen, ob sie auch als Kammeroper funktionieren kann.“ Spiel auf kurze Distanz statt Welt-Musik-Theater.
Um den Orchestergraben herum laufen parallel noch ganz praktische Grundsatzdebatten. Die nicht allzu große zeitliche Entfernung von Beethovens Unikat zu den Opern Mozarts ist Delnon wichtig, die sind für ihn Fixsterne im eigenen Musiktheater-Bewusstsein: dreimal hat Delnon den „Don Giovanni“ inszeniert, zweimal die „Così“ und zweimal die „Zauberflöte“. Also geht es nun um die Frage: Auf welcher Höhe soll das Orchester spielen? Zwei Meter über Normalmaß, damit würde man den Klang mozartiger, durchhörbarer, schlanker in den nun mal sehr großen Saal stellen, und dazu vielleicht auch noch eine kleinere Besetzung?
Zeit ist Mangelware
Das wäre – heute sind die entscheidenden Würfel noch nicht gefallen – womöglich eher in Delnons Sinn. Oder doch die reguläre, tiefere Einstellung für den Graben nehmen, die gängige Orchestergröße und damit einen etwas wuchtigeren, volleren Klang? Mehr Romantik, weniger Klassik? Auch auf der Bühne ist in dieser Hinsicht noch nicht alles eindeutig, deswegen werden in einen Teil des Bühnenbilds Fenster eingehängt.
Zu Delnons Job als Regisseur gehört in dieser Phase das geduldige Warten auf Kollegen; diese Proben seien eher Kent Naganos Termine, viele szenische Details haben sich im Vorfeld gefunden, der Dirigent nutzt die wenigen Stunden mit Bühne, die es bis zur ersten Vorstellung gibt, in dieser Phase intensiver als die Regie. Weil Zeit Mangelware ist, kommen die heikelsten Stellen zuerst, ein Durchlauf wäre Luxus. Es gibt ja auch noch Haupt- und Generalprobe. Während vorn am Stück gearbeitet wird, laufen im hinteren Teil der Kulisse Techniker durchs Szenario. Und im Halbdunkel des Parketts studieren Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer und seine Assistentin Naomi San die Skizzen.
Delnon spielt vor, wie er sich die Szene denkt
Für das Finale mit „Wer ein holdes Weib errungen“ kommt deswegen nun auch der Chor ins Spiel. Chordirektor Eberhard Friedrich nimmt am Bühnenrand Platz, wie ein Fußballtrainer, dem man am Rücken abliest, dass er in Gedanken bei seinem Team ist. Viele Menschen statt einiger weniger Solisten, daher auch viele Möglichkeiten für Personenregie.
Delnon verlässt seine Arbeitsplatte im Parkett und spielt dem einen oder anderen vor, wie er sich den Auftritt in dieser Stelle denkt, auch für einen Kuss gibt es Choreografie-Anweisungen vor dem Bühnenrand. Unterdessen, eine Etage tiefer, regelt Nagano die musikalische Seite des Happy Ends, komplett happy klingt er allerdings noch nicht. „Wir sind unstabil mit dem Orchester im Rhythm“, verkündet er, „Können Sie just ein bisschen früher kommen“ und „Die Text ist wirklich nicht da“ sagt er auch noch.
Delnon scheint zufrieden
11.30 Uhr, Pause. Ein Fagott nutzt die Zeit, um im Graben für sich allein Stellen durchzuspielen. Die Souffleuse taucht für einen Plausch mit einer Kollegin aus dem Versteck ihres Kastens auf. Die Montagegeräusche im Hintergrund werden, warum auch immer, lauter, zu sehen ist jedenfalls nichts. Vor wenigen Momenten noch galt es der Kunst. Nun hat sich das Spielfeld rasant schnell geleert und die Kantine wahrscheinlich im gleichen Tempo gefüllt.
Im Rest der Probenzeit geht es noch mal um Florestans „Gott! Welch Dunkel hier“, man feilt, hier, da, dort. Falk Struckmanns Hand hat nun mehr Glück mit der Zellenwand. Die Zeit vergeht, Delnon scheint zufrieden und wirkt entspannt. Noch ist Zeit bis zur Premiere und zum Lampenfieber, das sei für ihn als Regisseur eindeutig garstiger als in der Position des Intendanten. Wo und wie er die Zeit am Sonntagabend verbringen wird? Das weiß der Intendant Delnon jetzt noch nicht. Doch eine Andeutung, was passieren könnte, hat der Regisseur Delnon parat: „Ich habe in anderen Städten während einer Premiere schon so viele Kilometer zu Fuß zurückgelegt, das glauben Sie nicht.“
„Fidelio“: Premiere am 28.1., 18.00 (ausverkauft), auch am: 1./4./6./9.2., 27.4., 2./5./9.5. Karten: 6 bis 109 Euro unter T. 35 68 68