Hamburg . Eine Hamburger Schule benutzt die Sandwesten seit Jahren. Die Pädagogen möchten zur Versachlichung der Debatte beitragen.

Kinder laufen lautstark durch die Gänge, spielen, tauschen Neuigkeiten aus und genießen augenscheinlich ihren Schultag. So auch die Grundschülerin Nina. Sie blickt freudig auf, als sie für ein Foto aus der Klasse gerufen wird. Über ihrem Oberteil trägt sie eine sogenannte Kugelweste, die – ähnlich wie Sandwesten – der Schülerin dabei helfen soll, ihren eigenen Körper besser wahrzunehmen und sich konzentrieren zu können.

Viele Kommentare im Internet

„Gut“ lautet die knappe Antwort der Schülerin auf die Frage, wie sich die Weste anfühlt. Seit rund 20 Jahren seien schwere Kugel- und Sandwesten in der Hamburger Schule am Hirtenweg im Einsatz, erzählt Schulleiter Arik Gotthardt. Mittlerweile ist eine bundesweite Debatte über Sinn und Unsinn dieser Westen entstanden. In Sozialen Netzwerken lassen sich zahlreiche emotionale Kommentare zu dem Thema finden: „Krank einfach nur krank!!!“, kommentiert eine Nutzerin auf Facebook. Dies sei die nächste Stufe der Ganzkörperfixierung, schreibt eine Andere. Solche Kinder bräuchten stattdessen viel Liebe und Verständnis, beschwert sich eine weitere Nutzerin.

Der Schulleiter betont jedoch, dass die Westen nur ein sehr kleiner Bestandteil der therapeutischen Mittel seien. Drei von 180 Kindern würden die Westen tragen, sagt Gotthardt. Außerdem würde den Kindern natürlich auch mit pädagogisch-therapeutischer Zuwendung begegnet. Ihm sei es wichtig, zur Versachlichung der Debatte beizutragen. Die Mittel seien eine zeitlich begrenzte Hilfestellung. „Der Sinn dieser ganzen Westen ist nicht, die Kinder durch Gewicht am Platz zu halten“, sagt Gotthardt. Vielmehr solle sie durch äußeren Druck Informationen über den eigenen Körper vermitteln.

14 von 230 Schulen nutzen Westen

Wenn Nina sich selbst male, hätten die Zeichnungen beispielsweise keinen Rumpf, da sie sich selbst nicht so spüren würde, wie es für ein ausgewogenes Lernverhalten notwendig sei. Beobachtet man Nina, wie sie mit der Weste durch die Gänge der Schule läuft, entsteht tatsächlich der Eindruck eines zufriedenen Kindes. Insgesamt nutzen 14 von 230 befragten Hamburger Schulen diese Westen. Das geht aus einer Senatsantwort auf eine Anfrage der FDP hervor. „Die Freiwilligkeit ist immer die oberste Prämisse“, sagt die leitende Ergotherapeutin der Schule, Maren Gehrmann. Genauso seien die Eltern in diese Therapieform eingebunden und es werde regelmäßig Rücksprache mit Ärzten gehalten. „Der Einsatz erfolgt immer durch Ergo- oder Physiotherapeuten“, betont Gehrmann. Die Therapeuten müssten zudem über Zusatzqualifikationen verfügen und die Westen seien nur eine Facette von verschiedenen Methoden.

Zudem trügen Kinder die Westen maximal 20 Minuten am Stück. Wissenschaftliche Studien seien aber auch ihr nicht bekannt. Genau das kritisiert unter anderem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „Unruhige Kinder als krank 'auszusortieren' und ihnen die Sandweste überzuziehen, löst diese Probleme nicht“, teilte der Sprecher des Verbandes, Hermann Josef Kahl, jüngst mit. Zudem sieht der Verband die Gefahr, dass Kinder als Störenfriede stigmatisiert werden könnten. Ähnlich äußern sich die Hamburger FDP und die ehemalige Initiative „Gute Inklusion für Hamburgs SchülerInnen“.

"Sonderschule für Extrawürste"

Derartigen Vorwürfen begegnet Gotthardt gelassen. „Wir sind die Sonderschule für Extrawürste“, sagt er und lächelt. Kollegin Gehrmann ergänzt: „Wir haben so viele individuelle Kinder mit individuellen Hilfsmitteln, dass die Weste sozusagen das Kleinste überhaupt ist.“ Und in der Tat steht auf den Fluren der Schule beispielsweise ein Rollstuhl neben dem anderen. Wegen der Westen würde niemand gehänselt werden. Außerdem ist es laut Gotthardt paradox, dass Schüler mit Förderbedarf in der Inklusion keine besonderen Stühle oder andere Hilfsmittel bekommen sollen, nur um möglichst normal zu sein, „aber genau diese Dinge brauchen sie, um ihr Potenzial ausschöpfen zu können“, betont er. Dieser Widerspruch müsse so langsam aufgelöst werden.

Dass sich nun eine Debatte über den Einsatz der bis zu sechs Kilo schweren Westen entwickelt hat, wundert den Schulleiter nicht. „All diese Dinge sind hochemotional besetzt“, sagt Gotthardt. Kein Kind an der Schule Hirtenweg trägt eine derart schwere Variante. Hin und wieder habe er die Diskussion so empfunden, dass Sandwesten kurz vor Zwangsjacken gehandelt würden. Kurios sei aber, dass eine Hamburger Sonderpädagogin die Westen jetzt als Neuheiten empfunden habe, die sie in den USA kennengelernt hätte. Dabei seien vor allem Sonderschulen häufig an der Spitze, was Innovationen angehe. „Wir müssen so viele individuelle Wege finden, wie wir Schüler haben“, ergänzt Gehrmann.