Hamburg. An Hamburger Schulen sollen Kinder ruhiger werden, wenn sie schwere Westen tragen. Experte fordert Diagnosen statt „Zaubermittel“.

Die mit Sand beschwerten Westen, die neuerdings an 13 Hamburger Grundschulen zur Beruhigung von verhaltensauffälligen Kindern eingesetzt werden (das Abendblatt berichtete), haben enorme Kritik hervorgerufen. Und zwar nicht nur in sozialen Netzwerken, wo von einem „Armutszeugnis“ und „Unsinn“ die Rede ist, sondern auch von Experten wie Michael Schulte-Markwort, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).

Die genannten Symptome der Kinder (Konzentrationsschwierigkeiten, Unruhe, Stören) bräuchten differenzierte Diagnosen statt schneller Lösungen. „Bei komplexen Ursachen sind Westen als Zaubermittel viel zu einfach“, so Schulte-Markwort. Damit werde das Problem nicht gelöst, sondern die Symptome (möglicherweise nur kurzfristig) behoben. Nicht Schüler mit psychologisch diagnostizierten Wahrnehmungsstörungen müssten sich ändern, sondern Pädagogik und Schule, etwa mit kleineren Klassen und angepassten Konzepten. „Statt der Weste wäre mir die beruhigende Hand der Lehrerin auf der Schulter der Schüler jedenfalls lieber.“

„Ethisch sind Westen nicht zu vertreten“

Der gewünschte beruhigende und konzentrationsfördernde Effekt der Westen mag erkennbar sein, wissenschaftlich untersucht sei er nicht, gibt der Kinderpsychologe zu bedenken. Zuvor hatte sich die Schulbehörde, die den Westeneinsatz toleriert, ähnlich geäußert. Schulte-Markwort sieht die Westen aber auch aus anderen Gründen kritisch: Denn selbst wenn die Kinder die Westen eigenem Bekunden nach gern tragen würden, werden sie damit doch gekennzeichnet und abgegrenzt. Ganz abgesehen, so der Experte, von orthopädischen Wirkungen: „Wir diskutieren über das Gewicht von Ranzen, ziehen Kindern aber zusätzlich schwere Westen an. Ich wage, den positiven Nutzen zu bezweifeln.“

Ethisch seien die zwei bis fünf Kilogramm schweren Westen nicht zu vertreten, sagt der Kinderpsychologe. Er hofft, dass es Ausnahmen bleiben und wünscht sich stattdessen eine Sachdiskussion über Ursachen und daraus folgende pädagogische Konzepte.