Hamburg. Ungewöhnliche Maßnahme: An 13 Schulen sollen Kinder besser still sitzen, indem sie die bis zu fünf Kilogramm schweren Westen anlegen.

Sie können kaum still sitzen, haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und zuzuhören: Die Zahl der Kinder, die unter Wahrnehmungsstörungen leiden, wächst. Immer mehr Hamburger Schulen greifen deshalb zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sandwesten.

Von 56 Grund- und Stadtteilschulen mit Schwerpunkt Inklusion setzen nach Angaben der Schulbehörde bereits 13 diese Westen regelmäßig im Unterricht ein – mit großem Erfolg.

Sandwesten nach Vorbild aus den USA

Auch Gerhild de Wall, Sonderpädagogin und Leiterin der Abteilung Inklusion an der Harburger Schule Grumbrechtstraße, ist davon überzeugt. Sie hatte während ihrer Zeit als Lehrerin in den USA von den Sandwesten gehört und war so angetan, dass sie sich, kaum an der Harburger Schule angekommen, beim Schulverein für die Anschaffung einer derartigen Weste starkmachte. Das war im vergangenen Jahr. Jetzt steht fest: Die Schule wird sieben weitere dieser zwei bis fünf Kilogramm schweren Westen anschaffen.

Kinder, die unter Wahrnehmungsstörungen litten, hätten ein besonderes Problem, sagt die Sonderpädagogin. „Bei ihnen kommen all die Reize verquer an. Das stürzt sie ins Chaos.“ Die mit Sand gefüllten Westen tragen zur Beruhigung bei: „Sie verteilen Gewicht und Druck gleichmäßig und flächendeckend auf die Muskel- und Belastungssensoren. Das steigert die kognitive Leistungsfähigkeit.“

Lehrer vom Erfolg der Westen überzeugt

Kinder, die sich nicht konzentrieren können, mit dem Stuhl so lange kippeln, bis sie unterm Tisch liegen oder sonst wie den Unterricht stören – all das erlebt Maren Greuel, Lehrerin in den ersten und zweiten Klassen an der Schule Grumbrechtstraße, immer wieder. Auch sie ist von der positiven Wirkung der Sandweste überzeugt: „Für die Kinder ist das wie behutsames Handauflegen, das guttut“, sagt sie.

Auch Andrea Bonifacius, Schulleiterin der Heinrich-Wolgast-Schule in St. Georg, möchte die Westen nicht mehr missen. Ganz im Gegenteil: „Ideal wäre, wenn wir für jede unserer 20 Klassen eine hätten. Immer griffbereit an einem Kleiderhaken.“

Als Sonderpädagogin de Wall an diesem Tag mit der Sandweste in der Hand den Klassenraum betritt, in dem ihre Kollegin Maren Greuel Kinder zwischen sechs und acht Jahren unterrichtet, rufen die Mädchen und Jungen sofort durcheinander: „Kann ich sie haben?“ „Ich will auch.“ „Aber zuerst ich, bitte.“ Spätestens jetzt wird klar, wie begehrt das gute Stück ist. Warum? Die Kinder erklären es auf ihre ganz eigene Weise.

„Die macht mich ruhig“, sagt ein Junge. „Ich kann mich besser konzen­trieren“, ein anderer. Ein Mädchen findet sie schlicht „cool“, und ihr Sitznachbar fühlt sich wohl wie Superman, wenn er die Weste trägt. „Die macht mich stark“, sagt er mit der ganzen Kraft der Überzeugung seiner sieben Jahre.

Ähnliches hört auch Jörn Westphal, Leiter der Schule Öjendorfer Damm in Jenfeld, von seinen Schülern. Seit einigen Monaten sind an dieser Schule fünf Westen im Einsatz – leihweise. „Wir sollten sie nach einem halben Jahr zurückgeben.“ Aber davon ist längst nicht mehr die Rede: „Wir verhandeln, damit wir sie dauerhaft einsetzen können.“

Bis zu fünf Kilogramm auf Kinderschultern

Je nach Gewicht (zwei bis fünf Kilogramm) und Größe (Medi, Maxi, Supermaxi) kosten diese Sandwesten 145 bis 165 Euro. Barbara Truller-Voigt, deren Sohn Frederick (9) die Harburger Schule besucht, war von der Wirkung der Sandwesten schnell überzeugt.

Als Gerhild de Wall ihr von den Erfahrungen erzählte, die sie in Amerika gemacht hatte, recherchierte sie und wurde im Internet fündig. Vor drei Jahren kaufte sie Frederick eine Zweikilogramm-Sandweste, die er bis heute nutzt. „Er zieht sie von ganz allein an“, sagt seine Mutter. „Er hat das Gefühl, dass sie ihm hilft.“

Ihr Sohn bestätigt das: „Die Weste macht mich ruhiger. Und meine Schrift ist dann nicht mehr so krakelig.“ Frederick habe mehr Kontrolle über seinen Körper, sagt seine Mutter. „Sie hilft ihm, sich zu konzentrieren. Und er kann besser mitarbeiten, weil er nicht ständig damit beschäftigt ist, seine Arme und Beine unter Kontrolle zu halten.“

Diese Wirkung ist es, die auch Stephan Peter, Leiter der Schule Bekkamp im Stadtteil Jenfeld, beeindruckt: „Das ist ganz faszinierend.“ Immer wieder forderten die Schüler selbst die Westen ein. „Sie nehmen sie nicht als therapeutisches Hilfsmittel wahr“, sagt der Schulleiter.

Schulbehörde begrüßt Einsatz – in Einzelfällen

Diesen Eindruck teilt auch Andrea Bonifacius von der Heinrich-Wolgast-Schule: „Die Westen wirken keinesfalls stigmatisierend.“ Für die Schulleiterin ist unstrittig: „Sie hilft den Kindern runterzukommen.“ Allerdings tragen sie sie nicht länger als 30 Minuten, sonst könnte ein Gewöhnungseffekt einsetzen.

Die Reaktion der Schulbehörde ist eher zurückhaltend. Diplom-Psychologin Michaela Peponis von der Fach­abteilung sagt, die Westen könnten eine Unterstützung sein, wissenschaftlich abgesicherte Ergebnisse lägen dafür jedoch nicht vor. „Aber die Bildungs­behörde begrüßt den Versuch, in Einzelfällen auch diesen Weg der Förderung von Konzentration und Aufmerksamkeit zu wählen.“