Hamburg. Wandsbeker Jugendamt bringt Zweijährige in einer Wohngruppe in Kiel unter. Ihre Familie will sie nach Hamburg zurückholen.
Einmal in der Woche fährt Wafaa (23) mit der Bahn von Hamburg nach Kiel, um ihre zweijährige Tochter zu besuchen. Die kleine Shaimaa ist seit einigen Monaten im dortigen St. Antoniushaus untergebracht. Sie lebt in einer Wohngruppe für schwerstbehinderte Kinder. Sie liegt in einem Doppelzimmer und wird durch eine PEG-Sonde direkt über den Magen-Darm-Trakt künstlich ernährt.
Wafaa und ihr Mann Mohamed (30) würden ihre Tochter gerne nach Hamburg zurückholen, um sie zu Hause zusammen mit einer Tagesmutter und anderen Helfern aus der Familie selbst zu versorgen. Die Nahrungsgabe zu überwachen, die Medikamente zu geben und bei Bedarf den Schleim abzusaugen. Mit ihr zu sprechen und zu singen, sie zu streicheln und zu waschen und mit ihr jeden Tag mindestens einmal an der frischen Luft spazieren zu gehen, weil ihr das so guttut.
Das Jugendamt holte das Mädchen ab
Doch die Eltern haben nicht darüber zu entscheiden, wo ihre schwerstbehinderte Tochter leben darf. Denn das Hanseatische Oberlandesgericht hat per einstweiliger Anordnung vor sechs Monaten entschieden, dass das Sorgerecht für die kleine Shaimaa beim Jugendamt Wandsbek verbleibt. Ein Vergleich wurde abgelehnt. „Tags darauf hat das Jugendamt die kleine Shaimaa abgeholt und nach Kiel gebracht“, sagt Rudolf von Bracken, Anwalt der Eltern.
„Aufgrund der höchst prekären gesundheitlichen Situation des Kindes ist zunächst davon auszugehen, dass die Aufrechterhaltung der Amtspflegschaft eher dem Kindeswohl entspricht als dessen Aufhebung“, so die Richter. Sie wollten durch die Unterbringung des schwerstbehinderten Kindes in einer stationären Einrichtung die „Verringerung der Leiden des Kindes“ sicherstellen.
"Wenn sie dir dein Kind wegnehmen, nehmen sie dir dein Herz"
Die Frage aber ist, ob die kleine Shaimaa in der Einrichtung in Kiel, weit weg von ihren Eltern, jetzt nicht viel mehr leidet als in ihrer vertrauten Umgebung, in der sie rund um die Uhr eine liebevolle Pflege erfahren hat.
„Es ist kaum zu ertragen, dass wir unsere Tochter nur zwei Stunden in der Woche besuchen dürfen“, sagen Wafaa und Mohamed. Sie sind völlig verzweifelt. „Wenn die Menschen dir dein Kind wegnehmen, dann nehmen sie dir dein Herz weg.“
Shaimaa leidet seit ihrer Geburt an einer komplexen Behinderung, die eine schwere Entwicklungsverzögerung zur Folge hat. Sie kann nicht krabbeln oder laufen, nur schwer hören, kaum sehen, nicht sprechen. Sie leidet an epileptischen Anfällen und wird über Nacht an einen Monitor angeschlossen, der die Sauerstoffsättigung überprüft.
Die Eltern haben sich früh beim Jugendamt um Unterstützung bemüht. „Wir brauchten Hilfe und haben sie auch bekommen“, sagen sie. Aber auch: „Wir haben uns nie etwas zu schulden kommen lassen. Wir haben Shaimaa gepflegt und umsorgt, sie gestreichelt, mit ihr gesprochen, sie in den Arm genommen und sie zu den verschiedensten Therapien begleitet. Wenn wir sehen würden, dass es Shaimaa in Kiel besser geht als bei uns zu Hause, dann würden wir sie doch dort lassen, wo sie mehr Geborgenheit erfährt.“
Vergeblicher Kampf um Shaimaa
Was sie stattdessen sehen, zeigt Mohamed auf seinem Handy. Fotos von Shaimaa mit einem Pilzausschlag im Gesicht und dreckiger Kruste hinter dem Ohr, die belegen sollen, dass die Zweijährige im Heim nicht genügend Pflege erfährt. Dann zeigt Wafaa auf ihrem Handy ein Video, auf dem das kleine Mädchen mit Füßen gegen die Tasten eines Keyboards tritt und sich über die erzeugten Töne freut. Der kurze Film ist aus einer Zeit, als Shaimaa noch in Hamburg war. „Wenn sie bei uns wäre, würden wir mit ihr wieder zur Musiktherapie gehen“, sagen die Eltern. Zur Krankengymnastik und zur Schlucktherapie. Und sie würden wieder mit der Tagesmutter zusammenarbeiten, die Shaimaa am besten kennt.
„Ich habe Shaimaa im Januar und Februar zehn Stunden täglich betreut“, sagt Claudia Delorme, „und danach hat sie im Auftrag des Jugendamts bis August bei mir und meiner Familie gewohnt.“ In dieser Zeit haben sie die Eltern fünfmal in der Woche besucht. „Die Eltern sind liebevoll und zuverlässig, freundlich und kooperativ“, sagt Claudia Delorme. Sie hat vergeblich darum gekämpft, dass Shaimaa ihr Dauerpflegekind wird und nicht in ein auswärtiges Heim kommt.
Kindswohlgefährund aus seelischer Sicht
Dass es dazu gekommen ist, liegt auch an einem Gutachten aus dem Mai. Darin heißt es: „Eine häusliche Versorgung ist nur in einem stabilen, hochzuverlässigen, rund um die Uhr einsatzfähigen Umfeld möglich, dieses ist derzeit bei Frau M. nicht gegeben, zumal im Mai 2017 ein weiteres Kind geboren wird.“ Aus sozialmedizinischer Sicht werde deshalb ausdrücklich die Aufnahme in das St. Antoniushaus befürwortet, da dies die einzige Einrichtung in der näheren Umgebung Hamburgs ist, die personell entsprechend ausgerüstet ist mit medizinischem und pädagogischen Personal.
Wafaa sagt: „Die Gutachterin war gar nicht bei uns. Sie hat überhaupt nicht mit uns geredet.“ Claudia Delorme sagt: „Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes durch das Tun oder Unterlassen der Eltern oder Dritter gravierende Beeinträchtigung erleidet, die dauerhafte oder zeitweilige Schädigungen in der Entwicklung des Kindes zur Folge haben können. In diesem Fall ist das Handeln des Jugendamts eine Kindeswohlgefährdung für Shaimaa.
Aus seelischer und menschlicher Sicht sowieso, aber auch aus pflegefachlicher Sicht. Unser großes multiprofessionelles Team, welches ich installiert habe, wurde trotz Angebots nicht einmal befragt. Das überfallmäßige Überführen von Shaimaa war für alle Beteiligten ein Schock. Hier geht es nur um Machtausübung des Jugendamts.“
Besuchszeit zweimal in der Woche
Frage an das Jugendamt: Warum ist es für Shaimaa besser, jetzt in Kiel und nicht bei ihren Eltern zu sein? „Aus Gründen des Datenschutzes ist es uns nicht möglich, Ihre Fragen zu beantworten“, lautet die Antwort vom Bezirksamt Wandsbek.
Wie geht es juristisch weiter? „Wir klagen jetzt vor dem Familiengericht in Kiel, um das Sorgerecht zurückzubekommen, das den Eltern bisher nur per einstweiliger Anordnung, also vorläufig, entzogen worden ist“, sagt von Bracken. Unterstützung kommt von Waltraud Timmermann, Bundesverband behinderter Pflegekinder: „Das Recht und die Pflicht zur vorrangigen ambulanten familiären Unterbringung ist im Gesetz eindeutig geregelt.“
Nach dem letzten Hilfeplangespräch darf Wafaa ihre Tochter jetzt zweimal in der Woche für zwei Stunden besuchen.