Hamburg. Zehn Jahre lang wuchs Linos bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Dann erhielt der Vater das Sorgerecht.

Es ist ein Montag im Juni 2017, als Angela Barthelt nach einer richterlichen Anhörung ein zweites Mal mit Linos* spricht. Die Verfahrensbeiständin vertritt vor Gericht die Interessen des Kindes. Der Junge ist zwölf Jahre alt und lebt in einem Heim außerhalb Hamburgs. Es ist bereits die vierte Einrichtung, in die er vom Jugendamt eingewiesen worden ist. Angela Barthelt fragt Linos, wie es ihm geht und ob er sich schon eingelebt habe. Ihr Protokoll gleicht einem Hilfeschrei.

Linos: „Ich halte es nicht mehr in der Einrichtung aus. Ich darf meine Mama nicht mehr sehen, warum ist das so? Ich fühle mich eingesperrt, deshalb benehme ich mich so schlecht.“ Im Gespräch fing Linos an zu weinen, notiert Barthelt, und er versuchte, die Tränen zu verbergen, aber seine Traurigkeit bricht aus ihm heraus. Bis zum Ende des Gesprächs weinte der Junge.

Linos will seine Tränen verbergen

Linos: „Ich darf mit meiner Mama nicht telefonieren, ich darf ihr nicht schreiben, ich habe Kontaktverbot. Auch zu meinen Großeltern und zu meinen Schulfreunden habe ich keinen Kontakt. Meinen Vater darf ich sehen, mit ihm in den Urlaub fahren und, und, und. Aber mit meiner Mama darf ich gar nichts mehr machen. Das ist doch nicht gerecht. Ich möchte unbedingt wieder bei Mama wohnen und in den Sommerferien mit ihr zu meinen Großeltern nach Griechenland fahren. Auch meinen Opa in Griechenland vermisse ich sehr.“

Am Ende des Gesprächs fragt Linos, ob seine Tränen auch nicht mehr zu sehen sind? „Linos möchte auf keinen Fall, dass jemand seine Tränen sieht. Als ich ihn zum Vater zurückbringe, geht er sofort zum WC und kommt mit einem durch Wasser abgekühlten Gesicht wieder zurück“, schreibt Barthelt in ihrer Stellungnahme für das Oberlandesgericht in Schleswig. Und: „Als Verfahrensbeistand gebe ich zu bedenken, dass eine weitere zeitlich unbegrenzte Umgangsaussetzung zwischen Linos und seiner Mutter unverhältnismäßig sein könnte und nicht dem Kindeswohl entspricht.“ Das ist jetzt sechs Monate her.

Mutter verliert Sorgerecht im Eilverfahren

Das Kindeswohl. Um kaum etwas wird in diesem Lande so heftig gestritten. Mütter gegen Väter, der Staat gegen die Eltern, Gerichte gegen Pflegeeltern, Jugendämter gegen Großeltern. Beteiligt sind Eltern, Anwälte, Richter, Gutachter, Verfahrensbeistände, Jugendamtsmitarbeiter, Heimpädagogen. Nur die Kinder, um die es geht, geraten in Deutschland immer noch viel zu oft aus dem Blick. Oder auch: unter die Räder.

Dabei ist in der Uno-Kinderrechtskonvention festgeschrieben: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden und Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Vorrangig? Linos’ Worte werden protokolliert, aber nicht ernst genommen. Seine Wünsche werden angehört, aber nicht umgesetzt. Seine Tränen sieht niemand, weil er sich ihrer schämt. Und seine Wut wächst mit jedem Tag, den er „eingesperrt“ fern von seiner Mutter verbringen muss.

Linos wird auffällig in der Schule

Helene* ist Ende 30. Eine zierliche Frau, die seit Jahren einen Kampf um ihr Kind führt. Und vielleicht zu spät gemerkt hat, um was es wirklich geht. „Ich war viel zu lange zu naiv, wollte immer nur Frieden, habe mich immer nur gewehrt, statt selbst offensiv zu werden. Sonst hätte es nie dazu kommen können, dass mir nach zehneinhalb Jahren, in denen ich meinen Sohn alleine groß gezogen habe, im Eilverfahren das alleinige Sorgerecht entzogen worden ist.“

Mit dem Vater des Kindes hat die Tochter eines griechischen Gastronomen nie zusammengelebt. „Er zeigte wenig Interesse an Linos“, sagt die Hamburgerin. Als der Junge vier Jahre alt ist, beginnt trotzdem der Streit um das Sorgerecht. Zunächst werden alle Versuche des Vaters vor Gericht abgewiesen. Die Auseinandersetzung der Eltern aber geht an Linos nicht spurlos vorüber. Er wird auffällig in der Schule, schlägt Mitschüler in der 4. Klasse. Helene erhält Hilfe vom Jugendamt. Das ist eng an ihrer Seite und lobt 2009 in einer Stellungnahme den „liebevollen Umgang von Mutter und Sohn“, sie könne ihm in der Erziehung „sowohl die nötigen Freiräume geben als auch Grenzen setzen“. Die vom Amt installierte Familientherapeutin rät ihr im Frühjahr 2015 zu einer mehrwöchigen Therapie mit ihrem Sohn in einer Familienklinik im Bayerischen Wald.

Kata­strophale Konsequenz

Helene folgt dem Rat der Expertin. Was sie nicht ahnen kann, ist die kata­strophale Konsequenz für ihren Sohn. „Denn die neue zuständige Sachbearbeiterin hat aus dem Klinikaufenthalt eine Kindeswohlgefährdung konstruiert“, sagt Helene. Begründung: Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn sei symbiotisch, also für den Jungen entwicklungshemmend und deshalb schädigend.

Es geht in dieser Geschichte also nicht um den Vorwurf von Gewalt, Missbrauch, Drogen, Vernachlässigung oder Verwahrlosung. Es geht um eine subtile Konstruktion einer Kindeswohlgefährdung. Eine Entwicklung, die auch Wolfgang Hammer, Mitglied im Beirat des Deutschen Kinderhilfswerks im Projekt „Umsetzung der Uno-Kinderrechtskonvention in Deutschland“, in den letzten Jahren mit zunehmendem Entsetzen beobachtet: „Die fachlichen Begründungen bestehen meist aus unüberprüften Behauptungen oder handverlesenen Laientheorien über die Überforderungen der meist alleinerziehenden Mütter, denen fast nie Gewalt oder Vernachlässigung vorgeworfen werden sondern psychische Erkrankungen – die aber fast nie durch ein seriöses Gutachten belegt werden.“

Ein Debakel für Linos

Auch in Helenes Fall gibt es ein Gutachten, das dem Vater nützt. Ein Gegengutachten, das dieses anzweifelt, weil es nicht einmal die Mindeststandards erfülle. Und Gutachten, die die Erziehungsfähigkeit der Mutter bestätigen. Das Jugendamt aber beantragt die sofortige Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf den Vater, das dieser im März 2015 auch bekommt. Im Eilverfahren. Per einstweiliger Anordnung – und ohne Anhörung des Jungen. „Zu den Grundrechten des damals Zehnjährigen gehört auch der Anspruch auf rechtliches Gehör“, sagt Helenes Anwalt Rudolf von Bracken. Das habe auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder gefordert. Was folgt, ist eine bis heute andauernde juristische Auseinandersetzung.

Und ein Debakel für Linos. Sechs Monate später ist der Vater mit der Erziehung seines Sohnes so sehr überfordert, dass er ihn in die Psychiatrie der Uniklinik Eppendorf bringt. Und von dort wird der Junge nur zwei Tage später im November 2015 in ein Heim im schleswig-holsteinischen Dörpling gebracht, das später wegen der Erziehungspraktiken in die Schlagzeilen gerät. Im Juni 2016 folgt die Verlegung nach Rendsburg, im März 2017 kommt er in ein Heim im niedersächsischen Essen (Oldenburg), im August in ein anderes Heim im Ort.

Heimaufenthalte und Beziehungsabbrüche

Man kann es auch drastischer formulieren: Nach der Übertragung des Sorgerechts auf den Vater begann für Linos das Elend. Heimaufenthalte, Beziehungsabbrüche, Verlust der Mutter und der Freunde. Und: der erste Kontakt mit Alkohol, Pornos und Zigaretten – in der öffentlichen Unterbringung. „Sicher haben sie auch den Bericht der Schule über Linos erhalten“, schreibt Helene an die zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt Nord. „Dem ist zu entnehmen, dass mein Sohn mit zwölf – in Ihrer Obhut – 20-prozentigen Alkohol zu sich genommen hat.

Mit elf hat er in der Obhut des Jugendamtes u. a. intern Zigaretten angeboten bekommen und Pornos gesehen.“ Was sagt das Jugendamt zu den Vorwürfen? Warum wurde der Junge, als er nicht beim Vater bleiben konnte, nicht zur Mutter zurückgegeben mit entsprechender ambulanter Unterstützung? Und warum wird der Kindeswille nicht gehört? „Leider können wir die Auskünfte nicht geben. Sie unterliegen dem Sozialdatenschutz“, heißt es in den Bezirksämtern Eimsbüttel und Nord.

Erbitterter Machtkampf

Längst ist aus der Auseinandersetzung ein erbitterter Machtkampf geworden. Es geht nur noch um die Durchsetzung des eingeschlagenen Weges. Auch das kennt Wolfgang Hammer, der 30 Jahre die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde leitete, zur Genüge: „Bei Beschwerden wird der Druck erhöht. Es gibt keine Offenheit mehr, den Fall neu zu bewerten oder Fehler rückwirkend zuzugeben. Eine Spirale von Verzweiflung und amtlicher Rechthaberei ist die Folge.“ Fälle wie diese häuften sich, sagt Hammer. Er selbst kenne mittlerweile 14 Fälle, in denen Kinder aus Familien genommen wurden, ohne dass es eine substanzielle Kindeswohlgefährdung gab.

Das Schlimmste aber: Immer gerät in diesen Auseinandersetzungen das Kind aus dem Blick. Ein Junge wie Linos, den ein professioneller Beteiligter des Falles so beschreibt: „Lustig, gewitzt, sehr schnell im Kopf, fußballverrückt.“ Aber auch „sehr verletzlich und sehr belastet, weil er zum Objekt staatlicher Intervention geworden ist, und zwar durch einen Streit, den er nicht versteht und für den er nichts kann.“ Der Skandal sei, so der Experte, dass es in dem Verfahren nicht einen Entscheidungsträger gegeben habe, der mal drei Schritte zurückgetreten sei und den Blick auf das Kind gerichtet habe. „Stattdessen befindet man sich im Tunnel, sieht das Kind nicht mehr, findet aber auch den Ausgang nicht.“ Und spätestens, als der Vater das Handtuch geworfen habe und vom Jugendamt nicht ernsthaft umfangreiche Hilfsmaßnahmen für die Familie geprüft worden seien, „ist das Kindeswohl auf der Strecke geblieben“.

„Ich möchte mit Mama telefonieren“

Es gibt noch ein Protokoll, in dem Linos ausführlich zu Wort kommt. In einer Kindesanhörung am Hanseatischen Oberlandesgericht am 9. Februar 2016 erzählt Linos der Richterin, wie sein Tagesablauf im Heim in Dörpling sei, und dass er es hasse, dort sein zu müssen. Und dass er nur mittwochs telefonieren dürfe. Eigentlich mit beiden Eltern, aber zur Zeit nicht mit seiner Mutter, weil eine Telefonsperre bestehe. Dann fragt der Elfjährige die Richterin: „Kannst du mir das erklären? Weißt du, warum ich nicht mit Mama telefonieren kann?“

Die Vorsitzende antwortet, dass sie die Gründe nicht kenne, da dies nicht Thema im Beschwerdeverfahren sei. Möglich sei, dass es Meinungsverschiedenheiten zwischen seiner Mutter und der Einrichtung gegeben habe. Sie rät Linos, sich bei Herrn P. oder bei seinem Vater zu erkundigen. „Das habe ich schon, aber keine richtige Antwort erhalten“, sagt Linos und redet ungefragt ­weiter: „Ich möchte mit Mama telefonieren und vor allem auch Besuch von ihr erhalten.“ Auf einer Skala von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) gibt er seinem Leben eine 2 – und dem Leben bei seiner Mutter eine 10.

Weihnachten 2016 zuletzt bei seiner Mutter

Auch die Gutachterin spricht sich vor Gericht am 15. Dezember 2015 für einen Kontakt von Mutter und Sohn aus. Es sei dringend notwendig, dass gerade auch die Mutter intensiv eingebunden werde. Besuche sollten so „normal“ wie möglich stattfinden, damit Linos sich überhaupt auf eine Therapie dort einlassen könne. All das verhallt scheinbar ungehört: Seit Januar 2017 besteht für die Mutter eine Umgangs- und Kontaktsperre. Begründung: Der Junge würde sonst nicht „im Heim ankommen“.

Zuletzt durfte Linos Weihnachten 2016 bei seiner Mutter sein. „Am 10. Januar rief er mich dann aufgelöst an und erzählte, dass man ihm einen Tag vorher im Jugendamt mitgeteilt hatte, es werde ab sofort keine Umgänge mehr mit seiner Mutter geben. Und er würde sie auch nie wieder sehen.“ Zu seinem 13. Geburtstag im Oktober durfte sie ihn nicht anrufen und auch keinen Brief schreiben, weil der Vater das nicht erlaubt.„Das letzte Mal habe ich Mama zu Weihnachten gesehen. Das war das letzte Mal, dass ich mich richtig wohlgefühlt habe“, hat Linos zu Protokoll gegeben. In zehn Tagen ist wieder Weihnachten. Was ist, wenn Helene ihren Sohn dann auch nicht sehen darf? „Ich weiß es nicht.“ Sie weiß nur, dass sie nicht zerbrechen darf. „Wenn ich zerbreche, ist mein Kind verloren, und das wollen die ja nur“, sagt sie. Lange Pause. „Aber das wird nicht passieren.“

*Die Namen von Helene und Linos sind geändert