Hamburg. Serie „Hamburgs Klassiker – neu entdeckt“. Heute: Eines der bekanntesten Gebäude der Stadt wird fast nur von Touristen besichtigt.
Das Herz von Hamburg ist 111 Meter breit, 70 Meter tief, 112 Meter hoch und nicht ohne Tücken. Wer es erkunden will, bekommt eine freundliche, aber durchaus ernst gemeinte Warnung mit auf den Weg: „Bleiben Sie zusammen“, sagt Isabel Wesselink. „Dieses Gebäude hat 647 Räume – wenn Sie hier verloren gehen, kann es eine Weile dauern, bis wir Sie wiederfinden.“
Die 30 Personen, die sich an diesem nasskalten Wintertag am oberen Ende des prächtigen Treppenhauses versammelt haben, nehmen den Hinweis regungslos zur Kenntnis. Die Damen und Herren – überwiegend im gesetzteren Alter, sieht man von drei jüngeren Paaren ab – erwecken auch nicht den Eindruck, als wollten sie dieses Labyrinth auf eigene Faust erkunden. Mal davon abgesehen, dass das natürlich auch nicht erlaubt ist, sind sie vermutlich auch neugierig auf die Erläuterungen von Isabel Wesselink – schließlich haben sie sich bewusst für eine offizielle Führung durch das Rathaus entschieden.
Klassisches Touristenziel
„Das ist ein klassisches Touristenziel“, sagt Axel Korn, und der muss es wissen. Der 55-Jährige ist der „Leiter Empfang im Hamburger Rathaus“ oder traditionell ausgedrückt: der „Dielenmeister“. Die Diele ist die zentrale Eingangshalle des Rathauses, und hier muss jeder durch: ob hoher Gast des Senats oder Tourist, ob Bürgerschaftsabgeordneter oder Journalist – oder eben Teilnehmer einer Führung, die Axel Korn und das Team des Hamburger Hostessen-Service anbieten.
Diese beginnt heute vor der Lobby der Bürgerschaft mit einigen Basisinformationen und überraschend vielen Elfen: 111 Meter breit, 1897 nach elf Jahren Bauzeit eröffnet, zu Kosten von elf Millionen Goldmark. Das wären heute etwa 60 bis 80 Millionen Euro. Die kostbare Einrichtung und die unzähligen Kunstwerke, meist Schenkungen Hamburger Kaufleute, seien darin aber noch nicht enthalten, betont Wesselink. „Der Gesamtwert des Rathauses ist heute kaum zu schätzen.“
Herz der Hamburger Demokratie
In der Lobby versammelt sich die Gruppe rund um einen dunklen, achteckigen Holztisch: Er wurde angeblich aus einem der Eichenpfähle gefertigt, auf denen früher das Kloster ruhte, das vor dem Rathaus an dieser Stelle stand. Ausführlich werden Details zweier Hafen-Gemälde erläutert, bevor es zwischen ihnen hindurch ins Herz der Hamburger Demokratie geht – den Plenarsaal der Bürgerschaft.
Handys und Kameras werden gezückt, während Wesselink erläutert, dass die Sitzbänke der Abgeordneten fest im Boden verankert seien, sodass mitunter Mitglieder verschiedener Fraktionen nebeneinander Platz nehmen müssen. „Das ist bislang gut gegangen“, sagt die 28-Jährige, und erstmals kommt etwas Stimmung auf. „Oha“, murmelt ein älterer Herr und scherzt: „Hat wohl niemand ‘nen Revolver.“
Das hier ist kein Museum
Im angrenzenden Bürgersaal macht ein junges Paar Selfies, während die Älteren über die grüne Original-Filztapete mit dem Hamburg-Wappen aus dem Jahr 1897 und den imposanten Kamin staunen, der noch nie befeuert wurde. Viel Zeit bleibt dafür aber nicht, schon geht es weiter in den Kaisersaal, wobei eine wichtige, aber unsichtbare Grenze überschritten wird – die zwischen den Räumen des Parlaments und der der Regierung, die einzig im Bundesland Hamburg unter einem Dach residieren.
Teil 1 der Serie: Aale-Dieter am Fischmarkt
Teil 2 der Serie: Eisarena Planten un Blomen
Teil 3 der Serie: Die Hamburger Hafenrundfahrt
Teil 4 der Serie: Der Ohlsdorfer Friedhof
„Sie werden sicher bemerken, dass es nun noch prunkvoller weitergeht“, kündigt Wesselink an, und natürlich bleibt das nicht unbemerkt. „Oooh“, staunt eine Dame beim Betreten des zweitgrößten Saals im Rathaus. Wieder zücken die Jüngeren ihre Handys, während die Älteren die aufgestellten Büsten, Gemälde und die überreiche Deckenverzierung inspizieren. „Graf von Moltke“, flüstert ein Herr in dunkler Outdoorjacke seiner Frau zu. „Und hier: Bismarck.“ Dabei ist der Saal natürlich Kaiser Wilhelm II. gewidmet, der hier 1895, noch vor Fertigstellung des Rathauses, die Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals feiern wollte.
Marokkanischer Onyx
Stehtische mit blütenweißen Tischdecken und das bereitgestellte Geschirr rufen eine ganze andere Besonderheit in Erinnerung: Das hier ist kein Museum, sondern ein lebendiges Rathaus! Wenn die Besuchergruppen weg sind, wird hier ein Empfang gegeben.
Manch einer würde vermutlich gern allein den Kaisersaal eine halbe Stunde lang bewundern. Doch weil für die ganze Führung nicht mehr Zeit zur Verfügung steht, geht es schnell weiter in den kreisrunden Turmsaal – in dem der Bürgermeister jedes Jahr am 1. Januar zum Neujahrsempfang bittet. Hier erfahren die Besucher zwar unter anderem, dass die acht imposanten Säulen aus marokkanischem Onyx gefertigt sind und dass den Balkon vor dem Saal nur der Bürgermeister, die Bürgerschaftspräsidentin und Staatsgäste nutzen dürfen. Dass bei Titelgewinnen des HSV eine Ausnahme gemacht und auf dem Rathausbalkon gefeiert wurde, bleibt indes unerwähnt – ist ja auch schon mehr als 30 Jahre her ...
Mitten aus dem Leben
Mitten aus dem Leben sind dagegen die Erläuterungen im Bürgermeistersaal: Die schweren Roben der Senatsmitglieder, die auf dem imposanten Gemälde von Hugo Vogel in das neue Rathaus einziehen, hätten 35 Kilo gewogen und seien schwer zu reinigen gewesen. „Da die Senatoren damals noch auf Lebenszeit gewählt wurden, können Sie sich vorstellen, dass die Roben irgendwann ein bisschen gerochen haben“, sagt Wesselink und sorgt für dezente Heiterkeit.
Die setzt sich im angrenzenden Waisenzimmer fort: Welche Gemeinsamkeit den Besuchern an den Bürgermeister-Porträts auffalle, will die Gästeführerin wissen. „Ich hätte fast gesagt: die Namen“, flüstert eine Dame ihrer Begleiterin zu und amüsiert sich prächtig über den eigenen Humor. In Wahrheit ist es der „Mona-Lisa-Effekt“, eine Technik der Maler, die es möglich macht, dass alle Bürgermeister die Betrachter immer direkt anschauen. Ein älterer Herr wird derweil ungeduldig: „Sagen Sie, wo ist das Senatsgehege?“, fragt er Isabel Wesselink. „Da kommen wir noch hin“, beruhigt sie ihn freundlich, aber bestimmt.
Das Publikum ist heute, wie auch sonst, in der Regel pflegeleicht. Besucher wie der nervige Hamburger, der mal drei Tage in Folge bei ihren Führungen auftauchte und neunmalkluge Anmerkungen machte, seien die Ausnahme, erzählt die gelernte Journalistin. Dielenmeister Axel Korn hat beobachtet, dass überhaupt selten Hamburger an den Führungen teilnehmen. „Die Gäste kommen fast alle von außerhalb.“ Wenn doch mal ein Hamburger dabei sei, höre er fast immer die Geschichte, dass man nun so lange in der Stadt wohne und es nie ins Rathaus geschafft habe ...
Immer noch Neues entdecken
Was schade ist, denn in diesem Gebäude kann man sich Tage und Wochen aufhalten und immer noch Neues entdecken. Im prächtigen Phönixsaal, der ganz dem Großen Brand von 1842 und damit dem Grund für den Bau dieses Rathauses gewidmet ist – das alte wurde seinerzeit gesprengt, um die Flammen aufzuhalten –, studieren die Besucher intensiv Details wie das geheimnisvolle Einschussloch in einem Kronleuchter oder den kunstvoll in ein geschnitztes Medaillon eingebetteten Stadtplan mit den rot hervorgehobenen Quartieren, die ein Opfer der Flammen wurden. Das Kleine Dienstzimmer mit den vielen Porträts in Miniatur wird nur rasch durchquert, unbeachtet bleibt auch die einzige Frau, die es im folgenden Vorzimmer auf ein Bürgermeistergemälde gebracht hat (Elsbeth Weichmann), denn nun geht es ins Zentrum der Macht.
Sowohl das Bürgermeisteramtszimmer mit dem Goldenen Buch der Stadt als auch das Senatsgehege können zwar nur durch die Tür betrachtet werden, aber die Vorstellung, dass Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) hier regelmäßig Gäste empfängt und jeden Dienstag der Senat hier tagt, beflügelt offensichtlich die Fantasie der Besucher. Fast alle zücken Handy oder Kamera und halten das Gesehene fest. Bis die Letzten auf dem „Spiegel“ angekommen sind, wo der Bürgermeister traditionell auf seine Gäste wartet – die dem Protokoll gemäß die Treppe zu ihm heraufsteigen müssen und nicht umgekehrt –, muss Isabell Wesselink schon wieder zum Aufbruch drängen: „Folgen Sie mir nun zum Höhepunkt der Führung.“
1,5 Tonnen schwere Leuchter
Durch einen Nebeneingang geht es in den Großen Festsaal. „Oh“, „Ah“, „Oha“, murmeln die Gäste, als sie den 722 Quadratmeter großen und 15 Meter hohen Saal betreten. Die schieren Ausmaße, die 1,5 Tonnen schweren Leuchter, die vergoldeten Figuren, die prunkvoll aus Holz und Leder gearbeitete Senatsestrade, die gigantischen Wandgemälde über die Geschichte Hamburgs oder das alljährliche Matthiae-Mahl mit früheren Ehrengästen wie Prinz Charles und Lady Diana, Königin Silvia oder zuletzt Kanadas Premier Justin Trudeau – stundenlang könnte sich man nur in diesen Saal vertiefen.
Doch die Führung neigt sich dem Ende entgegen. „Sind noch Fragen offen?“, will Isabell Wesselink wissen. Aber bis auf zwei schüchterne Nachfragen zum Stadtstaat-Status Hamburgs ist der Wissensdurst der Besucher gestillt. Als es durch ein Nebentreppenhaus wieder hinab in die Diele geht, wirken die meisten so, als müssten sie all die Pracht und die Geschichte dieses Hauses erstmal sacken lassen. Immerhin: Verloren gegangen ist niemand.