Hamburg. Serie Hamburgs Klassiker – neu entdeckt. Heute: Der Klassiker unter den Klassikern – auf der Barkasse mit einem erstaunlichen Kapitän.
Das erste Klischee zerschellt schon am Kapitän. Grauer Bart, Mitte 50, optisch verbraucht, innerlich verlebt, weit rumgekommen, in jedem Hafen ein Mädchen, Hamburger Mundart? Tja, weit gefehlt. Die Kapitänsplanstelle dieser Hafenrundfahrt ist anders besetzt.
Wadim Kühn ist 24 Jahre alt sowie bart- und faltenlos. Eben hat er den Leuten noch aufs Boot geholfen, danach das Ablegen übernommen und sich nun hinter das große Steuerrad des kleinen Ruderhauses gezwängt. Der Kapitän ist Schiffsjunge ist Kartenabreißer ist Getränkeverkäufer ist Mädchen für alles. Zur Begrüßung wird die Reisegruppe erst mal in Grund und Barkassenboden geduzt. „Ich weiß, ihr habt euch was anderes vorgestellt“, schnarrt er durchs Mikro, „einen älteren Herrn mit Bart. Vielleicht gefällt’s euch ja trotzdem.“ Die Herrschaften lachen. Ist ja alles bezahlt und runter kommen sie eh nicht.
Stilecht mit Barkasse
Draußen kann Hamburg auch mal schönes Wetter. Die Sonne krampft sich durch den letzten Nebel, kaum Wind, kaum Wellen. Perfekt für den einzig wahren Klassiker unter den Klassikern: die große Hafenrundfahrt XXL – mit Terminals, Köhlbrand, Speicherstadt und HafenCity, ein Original seit 150 Jahren. Die heute zugestiegenen Hobbyfotografen sind zufrieden. Superlicht, Superroute, vielleicht 20 Grad zu kalt, aber irgendwas ist ja immer.
An der Überseebrücke haben Schiffe mit Schaufelrad und ohne festgemacht, doppelstöckige und windschnittige Boten der Moderne. Antje vom Bodensee, Wolfgang aus Aachen und die anderen Hamburg-Touristen sind allerdings auf das kleinste geklettert, die Barkasse „Lütte Deern“, der Klassiker der Klassiker unter den Klassikern. Eine weise Entscheidung, wie sich zeigen wird.
Sonor und erwartungsfroh glucksend löst sich der traditionelle Hafenkahn vom Anleger, um stromabwärts zu dieseln. Tucker, tucker, tuff, tuff – „Cap San Diego“ in Sicht. „Für mich das schönste Schiff im Hafen“, schnurrt Kapitän Wadim. Ein Bekenntnis, das noch mit Wissen über den ausrangierten Stückgutfrachter garniert wird. 1961 gebaut, Liniendienst nach Südamerika, der Hamburger lehnt sich zurück, die Reisegruppe lauscht.
Schwankende Wasserperspektive
Die schwankende Wasserperspektive, das wird auf den ersten Flussmetern deutlich, ist für alle besonders. Stromabwärts erhebt sich steuerbord das Stadtpanorama, backbord die Hafenlandschaft. Nirgendwo puzzelt sich Hamburg besser zusammen als hier, zumal die Elbe mit Breite und Betriebsamkeit ein Minimeer spielen darf, das beide Welten kittet. Regelmäßige Fährpassagiere kennen das sich nicht abnutzende Theaterstück, die Fährlinie 62 ist ja im Sommer nicht grundlos voll.
Kommentierte Hafenrundfahrten bieten gut 20 Unternehmen an. Auf der „Lütte Deern“ von Barkassen-Meyer wird es eine Stunde und zehn Minuten dauern, bis der ultimative Klassikersatz im Klassiker unter den Klassikern fällt. „Wusstet ihr, dass Hamburg mehr Brücken hat als Venedig und Amsterdam zusammen?“ Zwei Gäste gähnen, die meisten nicken. Und freuen sich. Zur Abwechslung auch mal Bescheid gewusst, Statusupgrade zum Leichtmatrosen. Kein schlechtes Gefühl als Tourist.
Wadim Kühn kennt sich bestens aus
Die Norderelbe schiebt sich gemütlich grüngrausilbrig an „Rickmer Rickmers“ und Landungsbrücken, „einem der längsten Seebahnhöfe der Welt“, vorbei. „Und da ist schon der Fischmarkt“, ruft der Kapitän. „Da könnt ihr euch sonntags ’ne Rolex für 15 Euro kaufen.“ Für einen Schaufelraddampfer des großen Mitbewerbers Abicht ist während der Vorbeifahrt auch noch Spott übrig: „Wisst ihr, wofür das A am Heck steht? Nein? Für Attrappe! Fake News!“ Denn die Heckräder des Gefährts sind bloße Zierde – und die Elbe ist nicht der Mississippi.
Kapitän Wadim Kühn kommt aus der Gastronomie, hat danach Hafenschiffer gelernt und kennt sich bestens aus. Unterhaltsam spult er die Informationen ab oder empfiehlt das Augustinum als Alterswohnsitz. Die Senioren? Sind amüsiert. Mit Quiz-Fragen wird die Reisegesellschaft bei Laune gehalten. „Ich versuche, die Leute einzubinden“, wird er später erklären. Mit Blick auf das Airbus-Gelände gibt es eine Kostprobe: „Wer hat Vorfahrt: Flugzeug oder Schiff?“ Viele Gäste an Bord raten richtig: Ab 19 Metern Länge: das Schiff.
Dann endlich: die dicken Pötte an Eurogate und Burchardkai. Darauf haben vor allem die Herren an Bord gewartet. Trotz eisiger Temperaturen klettern viele an Deck, bringen die Fotoapparaturen in Position. Hochhaushoch schieben sich containerbeladene Stahlkolosse ins Sichtfeld der Objektive. Erläuternde Sätze lassen nicht auf sich warten: „Links seht ihr die „Al Zubara“, fast 400 Meter lang, 16 Meter Tiefgang, aber nur 13 Mann Besatzung. „Wahnsinn“, raunt ein Fotograf. Containerdetails für Feinschmecker werden nachgereicht, bevor die „Lütte Deern“ durch die Rugenberger Schleuse („eine sogenannte Strömungsschleuse“) in den Köhlbrand schnauft.
Wirtschaftliches Herz
Die verzweigte Hafenlandschaft fasziniert die meisten Touristen. Jahr für Jahr landet das wirtschaftliche Herz auch touristisch ganz oben in den Umfragen, ist eine Art befahrbares Industrie- und Kulturdenkmal, und zwar ein ziemlich lebendiges. 120 Linien, fast 9000 Schiffe jedes Jahr, dazu die Kreuzfahrer. Einzige Konkurrenz bei der Anziehungskraft im Moment: die Elbphilharmonie. Konkurrenz der klassischen Rundfahrtsunternehmen mit Tourenschwerpunkten wie Geschichte und Entwicklung des Hafens sind indes die alternativen Hafenrundfahrten, bei denen auch kritische Töne zu Themen wie Umwelt oder Kolonialgeschichte angeschlagen werden.
Unter dem eleganten wie monumentalen Bogen der Köhlbrandbrücke hebt Kapitän Wadim aber die hübsche Extravaganz des Hafens hervor und bemerkt nicht ganz unpassend: „Hier seht ihr unsere Golden Gate Bridge.“ Die Spiegelreflexkameras laufen heiß. Vom Terminal Altenwerder sehen auch alle, was von der Stadtseite nicht zu sehen ist: Die Digitalanzeige der tideabhängigen Durchfahrtshöhe unter der Brücke. Heute: 54 Meter 33 Zentimeter. „Die Tafel hängt da, seit ein Kapitän sich mal gründlich verschätzt hat.“ Und spätestens, seit die „New York Times“ Hamburg als Top-Reiseziel bezeichnet hat, erzählt jeder Hafenkapitän, dass Hamburg Erwähnung in der „Times“ gefunden hat. „Und jetzt mach ich erst mal Pause“, sagt Wadim, während er Kurs auf Roßkanal und Roßhafen nimmt.
Dann lügt er: „Hier gibt es sowieso nichts zu sehen“, während Industrie vom Feinsten vorbeizieht. Fabrikneue Schiffsschrauben, Schrott von ungekanntem Ausmaß und den Liegeplätzen der Schwimmkräne, weshalb die Lautsprecher bald wieder Feuer fangen. Info reiht sich an Info, Tollerort schmiegt sich wie Musik in die Ohren der Reisegruppe, bevor, huch, ein Blick ins Trockendock von Blohm+Voss gewährt wird. „Großartig“, jubelt ein Fahrgast. Dabei wird es noch großartiger: Links Michel, mittig der schlanke Bug der Elbphilharmonie, rechts Dock 10, Kurs: Tränendrüse. Wäre es nicht so kitschig, wäre jetzt, flussaufwärts fahrend, der ideale Zeitpunkt für feuchte Augen.
Vor 150 Jahren begann die Erfolgsgeschichte
Zeit für Wadim, zu intervenieren: „Ich weiß, ihr könnt es kaum erwarten, unsere Elphi zu sehen“, frohlockt er. „War zwar sauteuer, aber ist fertig. Das müssen uns Berlin und Stuttgart erst mal nachmachen.“ Und um alle noch ein wenig auf die Folter zu spannen, macht er vor der ersehnten Umrundung des Konzerthauses einen Abstecher in die Speicherstadt. Das Weltkulturerbe ist dank Tide und – jetzt zahlt es sich aus – wendiger Barkasse schiffbar. Ab geht’s durch 5000 Eichenpfähle.
Kehrwieder, Kehrwiederfleet, Pickhuben, Kleines Fleet, Wandrahmsfleet, Holländischbrookfleet – das Schmeichelprogramm für Fleetfetischisten beginnt. „Vom Wasser aus ist das wirklich noch schöner“, schwärmt Antje Köhler. „Hier lagern orientalische Teppiche im Wert von 500 Millionen Euro“, lässt Kapitän Wadim wissen. Den Schlenker über Brooktorhafen, Maritimes Museum und Störtebeker-Denkmal nehmen da alle gern mit.
Am Ende wartet der Höhepunkt
Wie schnell und hart das alte auf das neue Hamburg trifft, wie sehr sich die Stadt an der Elbe häutet, wird vielleicht nirgendwo deutlicher als bei den Hafenrundfahrten. Nach altem Backstein kommen preisgekröntes Unilever-Haus und Marco-Polo-Tower mit Wohnungen im Kaufwert von einem Hundertstel der Elbphilharmonie. Womit wir beim Thema wären, wie der Kapitän sagt: „Jetzt werdet ihr ganz aufgeregt, stimmt’s? Darauf habt ihr gewartet.“
Die Elbphilharmonie! Ort der Hochkultur, Haus für alle, Ziel der Sehnsucht, Höhepunkt der Fahrt und – von jeder Seite anders. Die „Lütte Deern“ schippert links vorbei, vorn vorbei, in den Sandtorhafen rechts vorbei und noch einmal von vorn. An der Fassade glitzert, spiegelt und strahlt es wie bestellt, auf dem Schiff machen die ersten Kamera-Akkus schlapp. „Es ist schon irre“, sagt Wolfgang Brand aus Aachen. „Die riesigen Containerfrachter, dieses Konzerthaus, die Speicherstadt und die Unmengen Industrie. Unglaublich, was in zwei Stunden passt.“
Da gerät für ihn auch der jungenhafte Kapitän zum Glücksfall. Dessen Lohn am Ende: ehrlicher Applaus.