Hamburg. Künstlerbetreuer pflegt mit seinen Mitarbeitern für Top-Pianisten die Steinway-Instrumente. Ein Job, der Feingefühl verlangt.

Rennpferde würde man ungeduldig wiehern hören, aufgeregt, weil sie wittern, dass sie bald zeigen sollen, was in ihnen steckt. Vor der Tür des Flügellagers in der Elbphilharmonie ist es still. Dahinter allerdings rauscht es hin und wieder von oben: Lüftungsrohre, ausgerechnet dort. Das Bauplan-Schicksal hat den Klaviertechnikern von Steinway, die hier regel­mäßig Hand an die Innereien legen, ein Stolpersteinchen auf dem Weg zur klanglichen Perfektion einzementiert.

Zehnte Etage im neuen Konzerthaus, einmal am Empfang der Intendanz durch die Glastür, schon ist man da. Dort stehen sie also, die glanz­lackierten Verzückungsmöbel mit der goldenen Lyra, bei 50 Prozent Luftfeuchtigkeit und 20 Grad Raumtemperatur dank Klimaschrank, in einem niedrigen Raum mit Cafeteria-Wasserflaschen. Drei große D-Flügel, jeder rund 500 Kilo schwer, ein kleinerer B-Flügel. Ein weiteres B-Modell hat seinen festen Wohnsitz im Dirigentenzimmer.

Jeder Flügel ist anders

Namen haben sie keine, aber so etwas wie Spitznamen – die letzten drei Ziffern ihrer Produktionsnummer, die Schwarz auf Gold im Metallrahmen zu sehen ist. Wenn vom „163“ die Rede ist, der von der Pianistin Mitsuko Uchida beim Auswahlverfahren für den Neubau über die Ziellinie gespielt wurde, weiß jeder im Lager sofort, wer gemeint ist. In der Flügel­garage der Laeisz­halle, wo weitere Steinways stehen, ist einer der Stars der 253. Ihn brachte Daniil Trifonov neulich bei seinem Recital zum Fliegen, den 264 spielte Argerich beim Schumann-Konzert mit den Symphonikern.

Hinter jeder Zahlenkombination steht ein Charakter, weil jeder Flügel anders ist. Dummerweise bleibt er nur so anders und individuell, wenn man sich ­regelmäßigst um ihn kümmert. Oder auch nicht, wenn man Pech hat, denn sie haben tief in ihrer Mechanik ein Eigenleben. Eine Seele. Stumme Höchstleistungsgalopper sind sie alle nur, bis der jeweils nächste Konzert­termin sich nähert und bestmöglich vorzubereiten ist. Das Basisprogramm: rund 90 Minuten für die objektive Stimmung, 30 für die subjektive Klangverfeinerung, dazu kommt das Therapiegespräch mit dem Kunden und kurz vor Konzertbeginn das Nachstimmen.

Sp regelmäßig gewartet wie Jets

Und da der Flügel jeden Hauch von Missachtung übler nimmt als eine russische Oligarchen-Verlobte ein zu billiges ­Geburtstagsgeschenk, werden die Elbphilharmonie-Instrumente an auftrittsfreien Tagen so regelmäßig gewartet wie Interkontinentalflieger. ­Mechanische Ungleichheiten, die sich festsetzen, sind so fies hartnäckig wie Zahnstein. Als Prophylaxe gegen Notfälle ist ein Techniker am Abend mit seinem Werkzeugkoffer vor Ort, mindestens bis zum Nachstimmen in der Konzertpause.

Für dieses Kümmern auf höchstem Niveau kommen die Experten von Steinway Hamburg ins Spiel, für die das Flügellager der wichtigste Arbeitsplatz neben der Bühne ist. Seit 15 Jahren haben Virtuosen und Virtuosinnen dabei vor allem mit einem zu tun: Gerrit Glaner, Chef der Abteilung C & A, „Concerts and Artists“, Weltfirma eben. „Künstlerbetreuer“ ist die sehr kurze Kurzfassung seiner Job-Beschreibung, „Pianistenversteher“ ist eine Vokabel, die er lächelnd dazu­liefert. Denn Glaner, 60 Jahre alt, muss alles Mögliche sein und dabei, wenn notwendig, auch Unmögliches für sie arrangieren. Man glaubt ja gar nicht, was schiefgehen kann, bevor der erste Ton vor Publikum erklingt.

Erinnerung, wie an an eine feine Weinprobe

In der Elbphilharmonie ist der Weg vom Lager zur Bühne vergleichsweise kurz, doch wenn ein frisch ondulierter Flügel stundenlang in trockener, durch Scheinwerfer erhitzte Saalluft stünde, es kämen Tausende von Menschen aus der Kälte, in winterfeuchter Kleidung, sie atmeten alle ständig … Albtraum. Katastrophe. Dann geriete die Stimmung und der Klang so sehr ins Trudeln, dass selbst die besten ­Klaviertechniker es nicht komplett einrenken könnten.

„Wir sind alle wie gute Concierges in einem Hotel“, ist Glaners diplomatische Umschreibung der Teamarbeit seiner Abteilung. Er macht sich Notizen, den Rest lagert er in Computer, Smartphone und einem enormem Detail-Gedächtnis. Kommen besonders pflegebedürftige Virtuosinnen oder Virtuosen nach Hamburg, hat Glaner den Termin Monate vorher auf dem Schirm und richtet danach aus, welcher Flügel und welcher Klaviertechniker dann verfügbar sein müssen. „Der 264 passte gut, mit dem leichten romantischen Anklang und ihrem ­Anschlag“, erinnert sich Glaner an die letzte Begegnung mit Martha Argerich, und es klingt wie die Erinnerung an eine besonders feine Weinprobe.

Vielschichtige Vita

Glaners Vita ist vielschichtig: Banklehre, Musikwissenschafts-Studium, Programmheft-Autor, Filmemacher, Jobs bei EMI und Universal, auch mal Barkeeper im Jazzclub Birdland. Gemeinsamer Nenner bei allen Jobs: sich ständig und schnell auf neue Menschen einstellen zu können. Zu Glanerts Spezialitäten gehört auch das Dolmetschen in den Sprachen Pianist und Deutsch, wenn trotz mitunter langjähriger Bekanntschaften zwischen Techniker und Musiker nicht sofort und ganz klar ist, wie man den jeweiligen Wunsch deuten soll. Manche sind aber auch klar und frontal bei ihren Thesen: „Ich möchte den lautesten Flügel, den ihr habt“, sagte Rudolf Buchbinder einmal, „Pianissimo kann ich selber.“

Wichtig können einfachere ­Begleitumstände sein, wie die Wahl des Sitzmöbels. Doch wenn es um die ­Details jenseits der eindeutig stimmbaren Tonhöhen geht, treffen Welten aufeinander. Alfred Brendel, ein Extrembeispiel, mochte seinen Flügel immer ­legendär weich intoniert haben. Das genaue Gegenteil davon: Hélène Grimaud, die auf einen Sound steht, den andere schon als metallisch empfinden würden.

Künstler brauchen eine besondere Behandlung

Eine Verhaltensregel für den Umgang mit Künstlern, Lob und Wahrheit hat Glaner vor etlichen Jahren, er war damals beim Schleswig-Holsten Musik Festival, von dem Geiger Vadim Repin erhalten: Ich will unbedingt wissen, was du denkst, sagte der, aber nicht gleich nach dem Konzert. „Künstlern nach dem Mund zu reden“, betont Glaner, „das ist wahnsinnig gefährlich.“

Glaner ist etliche Wochen im Jahr unterwegs zu und Stammgast auf allen großen Wettbewerben, wenn er bei Wettbewerb A ist, kontrolliert er Zwischenstände in B oder C über das Internet. Lange Tage sind das dann, Debatten bis in die Nacht. Nebenprodukt ist eine Konzertreihe in etlichen Sälen, bei denen Karrierestarter vorgestellt werden, von denen man sich viel verspricht. Seit etwa einem Jahr ist er auch noch Aufnahmeleiter: Damit die selbst spielenden Spirio-Flügel genügend Repertoire haben, betankt Steinway das System mit hausgemachten Einspielungen, unter denen die Kunden in der dazugehörigen iPad-App die Wahl haben.

Wegen Faulheit aus der Klavierstunde geworfen

Entspannt sein in einem Konzert mit einem Steinway auf der Bühne? Diesen Luxus kennt Glaner längst nicht mehr. Wie jeder Konditor, der privat die Finger von Süßem lässt, hat Glaner zu Hause keinen mächtigen Flügel, sondern ein Klavier. Mit zehn habe man ihn wegen Faulheit aus der Klavierstunde geworfen, berichtet er breit lächelnd. Stattdessen wurde es die Klarinette, Glaner war Gründungsmitglied vom Führungskräfte-Orchester „The Management Symphony“ und singt im Symphonischen Chor Hamburg. Auf einem Flügel vor Publikum glänzen sollen andere. Dass sie es könnten, dafür sorgt er dann schon. Spielen müssen sie noch selbst.