Hamburg. Vor 200 Jahren gründete sich die Liberale Gemeinde. Sie brach mit orthodoxen Traditionen, gab Frauen gleiche Rechte im Gottesdienst.
Man ist evangelisch in Hamburg. Seit Einführung der Reformation 1529 gibt es jahrhundertelang zum neuen Glauben keine Alternative. Katholiken, Reformierte und natürlich auch Juden dürfen hier keine Gottesdienste feiern und erst recht keine Kirchen oder Synagogen bauen. Und seit dem Mittelalter dürfen Juden eigentlich auch nicht in der Hansestadt leben, zumindest nicht offiziell. Erst 1612 findet sich der Rat dazu bereit, gegen den Widerstand der Hauptpastoren einen Niederlassungsvertrag mit jenen Juden zu schließen, die ihre portugiesische Heimat als Glaubensflüchtlinge verlassen mussten.
Nun sind sie zwar quasi „anerkannte Asylbewerber“ und nutzen ihre neue Heimat mit vielfältigen wirtschaftlichen Kontakten, aber die Religionsausübung bleibt ihnen trotzdem verwehrt. Nicht einmal ihre Toten dürfen sie in Hamburg bestatten, die kommen seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Altona unter die Erde, auf dem Friedhof an der Königstraße, der später berühmt werden soll und inzwischen sogar Kandidat für die Unesco-Welterbe-Liste ist. Mit den deutschen, den aschkenasischen Juden verfährt der Rat sogar noch restriktiver, diese dürfen nicht in Hamburg bleiben, Ostern 1649 müssen sie die Stadt verlassen, nun siedeln sie sich vor allem in Altona an.
Nach Napoleons Niederlage verstärkte sich der Antisemitismus
Ab 1806 zeichnet sich mit der französischen Besetzung zwar eine rechtliche Verbesserung der Lage ab, aber nach Napoleons Niederlage verstärkt sich der Antisemitismus sogar. Trotzdem entschließen sich 65 Hamburger Juden am 11. Dezember 1817 zur Gründung einer Tempelgemeinde. Der „Neue Israelitische Tempelverein in Hamburg“ ist ein Aufbruch, der nicht nur für die Stadtgeschichte Bedeutung hat, sondern weit darüber hinaus. Es ist die Geburtsstunde des liberalen Judentums in Deutschland.
Soll man an allen alten Riten und den in Jahrhunderten entstandenen Vorstellungen und Bräuchen festhalten oder stattdessen versuchen, den jüdischen Glauben so zu praktizieren, dass er mit dem Leben und den gesellschaftlichen Normen der Gegenwart besser in Einklang zu bringen ist? Daran scheiden sich die Geister. Für jene Hamburger Juden, die vor genau 200 Jahren ihren Tempelverein gründen, ist die Sache klar: Sie stehen für eine liberale und reformerische Religionsausübung im Sinn der philosophischen Aufklärung.
Die Ideen hatten Erfolg, der erste Tempel war bald zu klein
Und das ist auch andernorts für viele Juden attraktiv, vor allem in den USA bilden sich bald liberale Gemeinden. Es dauert knapp ein Jahr, bis die Liberalen an der Brunnenstraße in der Neustadt ihren ersten Tempel eröffnen können. Es ist keine repräsentative Sakralarchitektur, sondern ein ehemaliger Tanzschuppen, der nun umgewidmet wird. Er steht an der Ecke Alter Steinweg/Erste Brunnenstraße. Gleich nebenan gibt es zu dieser Zeit eine zweite Synagoge, in der sich die orthodoxen Juden treffen.
Aber warum braucht man zwei Synagogen in direkter Nachbarschaft? Wenn man Wolfgang Georgy vom heutigen Vorstand der Gemeinde fragt, erzählt er gern einen Witz: „Auf einer einsamen Insel hat ein Jude eine ganze Stadt aufgebaut, allerdings mit zwei Synagogen. Als er von einer Schiffsbesatzung entdeckt wird, fragt ihn der Kapitän verblüfft: ‚Warum hast du denn zwei Synagogen gebaut, wo du doch nur eine brauchst?‘ Darauf antwortete der Jude: ‚In die eine gehe ich beten, die andere würde ich aber nie betreten.‘“
Liberale Gemeinde wird von Orthodoxen abgelehnt
Die Form der Religionsausübung ist im Judentum schon immer umstritten. Kein Wunder also, dass die Liberale Gemeinde von den orthodoxen Juden abgelehnt wird. Und Unterschiede gibt es bis heute. „In unserem Gottesdienst wird auch deutsch gebetet. Musik spielt eine große Rolle, und schon vor 200 Jahren wurde das Gebetbuch theologisch überarbeitet und von manchen in früheren Jahrhunderten hinzugekommenen Auslegungen befreit“, erklärt der liberale Landesrabbiner Moshe Navon.
Mit diesen Ideen hat der Tempelverein von Anfang an Erfolg. Der erste Tempel an der Brunnenstraße ist bald zu klein, nach 25 Jahren eröffnet man eine neuen an der Poolstraße. Es ist ein repräsentatives Gebäude mit einer großen Rosette über dem Portal und zwei flankierenden Ecktürmen, die orientalisch anmuten und ein wenig an Minarette erinnern. Innen mutet der klassizistische Bau wie eine dreischiffige Kirche mit Apsis an. Außergewöhnlich sind auch der gemeinsame Eingang für Frauen und Männer sowie die Orgel, die in einer orthodoxen Synagoge undenkbar wäre.
Heute befindet sich auf dem Gelände eine Autowerkstatt, nur ein paar Reste erinnern an die Geschichte des Tempels, den die liberalen Juden fast 90 Jahre genutzt haben. 1931 eröffnet die Gemeinde an der Oberstraße in Harvestehude einen neuen Sakralbau mit 1200 Plätzen.
Die Gemeinde hat seit 2015 einen Rabbiner
Das Mahnmal der Künstlerin Doris Waschk-Balz, das heute vor dem ehemaligen Tempelgebäude steht, erinnert an dessen Verwüstung während der Pogromnacht am 9. November 1938. Anschließend musste die Gemeinde den Tempel zwangsweise verkaufen. Seit 1953 nutzt der NDR das Gebäude, in dem sich heute das Rolf-Liebermann-Studio befindet.
Doch auslöschen konnte die Schoah die vor 200 Jahren begonnene Tradition nicht, denn seit 2004 gibt es wieder eine Liberale Gemeinde in Hamburg. Es sind vor allem Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich an dem lebendigen Gemeindeleben beteiligen. Obwohl es noch keinen neuen Tempel gibt, feiern die Mitglieder in wechselnden Räumen Schabbat, es gibt aber auch Hebräisch-Unterricht, Kurse für israelische Tänze, einen Chor, ein Geigenorchester für Kinder und Jugendliche sowie zahlreiche andere Angebote. Seit 2016 verfügt die Gemeinde über einen eigenen Friedhof.
Mit dem nach der Schoah im stalinistischen Exil geborenen Moshe Navon hat die Gemeinde seit 2015 einen eigenen Landesrabbiner. Studiert hat er am renommierten Shalom Hartman Institute und am liberalen Hebrew Union College in Jerusalem, bevor er 2007 mit seiner Familie nach Deutschland kam. Sein Amt in Hamburg nahm er besonders gern an, weil hier vor 200 Jahren in einem ehemaligen Tanzlokal die Tradition des liberalen Judentums begann, in dem Frauen und Männer in allen religiösen Fragen gleichberechtigt sind und Werte wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen grundlegende Bedeutung haben.
Die Frauenrechte: Das liberale Judentum verfährt nach 35 Grundsätzen, in denen es sich zum Teil deutlich vom traditionellen Judentum abgrenzt. Unter anderem heißt es dort (Grundsatz 25): „Wir bestehen auf der Gleichberechtigung von Frauen und Männern im synagogalen Leben ... In unseren Synagogen gibt es keine Geschlechtertrennung. Frauen leiten Gottesdienste und werden zur Tora gerufen, ... sie werden zu Rabbinerinnen ordiniert und können jedes Amt in der Synagoge innehaben.“ Im Grundsatz 26 steht unter anderem: „Wir achten auf die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen bei der religiösen Erziehung ...“