Hamburg. Neuer Blick auf die Hansestadt: Eine Studie für die Körber-Stiftung zeigt, wie vielfältig Hamburgs Stadtteile sind.

Das vielfältigste aller Bundesländer ist nicht etwa Berlin, sondern Hamburg. Und einige seiner Stadtteile sind bunter als gemeinhin angenommen: In Wilhelmsburg etwa leben nicht nur relativ viele Zuwanderer, die Bewohner unterscheiden sich auch stark nach Alter, Religion und Kaufkraft. Das Gleiche gilt für die Veddel und für Billstedt.

Im Vergleich bekommt etwa Blankenese zwar deutlich weniger Punkte. Doch auch der Elbvorort ist bunter als vermutet: Zwar leben dort viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund, doch es herrscht Vielfalt bei der Altersverteilung, der Parteienpräferenz und der Religionszugehörigkeit. Auch der Anteil von Familien ist in Blankenese relativ hoch.

Daten aus 71.435 Ortsteilen

Das geht aus einer Studie hervor, die das infas-Institut für angewandte Sozialwissenschaft mit Sitz in Bonn im Auftrag der Körber-Stiftung durchgeführt hat. Über die Ergebnisse werden heute in Hamburg etwa 150 Verwaltungsangestellte, Politiker und Mitarbeiter von gemeinnützigen Organisationen bei einer Konferenz diskutieren.

Für die Studie nutzte das Team von infas bereits bekannte, überwiegend amtliche Daten aus 71.435 Ortsteilen in Deutschland. Allerdings definierten sie Vielfalt nicht nur über die Herkunft, also die Verteilung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern sie bezogen auch die Altersverteilung in der Bevölkerung, die Religionszugehörigkeit, das Wahlverhalten und die Kaufkraft in ihre Analyse mit ein.

Bayern nur eingeschränkt vergleichbar

Zudem berücksichtigten die infas-Mitarbeiter, wie weit es die Bewohner eines Ortsteils im Schnitt zu Begegnungsstätten haben. Aus der Kombination dieser Merkmale entstand ein neuer Index, der zeigen soll, wie es um die Mischung im Quartier bestellt ist. „Diese Herangehensweise erlaubt neue Blicke auf die Stadt“, sagt Jonathan Petzold von der Körber-Stiftung. „Der Begriff Vielfalt lässt sich dadurch von seiner landläufigen Verbindung mit der Zuschreibung ,hoher Migrantenanteil gleich Problemviertel‘ befreien.“

Hamburgs Stadtteile erreichen zusammengenommen so viele Punkte, dass die Hansestadt als Spitzenreiter im Bundesvergleich auf einen Gesamtwert von 729 kommt. Knapp dahinter auf Platz zwei folgt Bremen mit einem Wert von 720. Den dritten Platz erreicht Berlin, das auf einen Wert von 707 kommt. Schleswig-Holstein liegt mit 585 Punkten auf Platz neun. Schlusslicht ist Mecklenburg-Vorpommern mit 522 Punkten. Bayern sei nur eingeschränkt vergleichbar, weil dort viele Ortsteile sehr klein seien, heißt es von infas.

Liste der 100 familienfreundlichsten Städte

Hohe Werte stehen für ein breites Spektrum bei der Verteilung der untersuchten Merkmale, also für Ortsteile, in denen nicht etwa hauptsächlich Reiche oder Familien oder Migranten leben, sondern wo „Superdiversität“ existiert, wie es die Körber-Stiftung nennt. In Hamburg gilt das südlich der Elbe auch für Harburg, Neuenfelde und Finkenwerder. Nördlich der Elbe zählen unter anderem Osdorf, Horn, Lurup und Steilshoop zu den vergleichsweise bunten Vierteln.

Es sind unter anderem die Werte dieser Stadtteile, die zum hohen Gesamtwert von Hamburg beitragen. Gleichwohl gibt es innerhalb der Hansestadt erhebliche Unterschiede. Sternschanze und St. Pauli, die gemeinhin als vielfältig gelten, belegen auf der Skala nur einen Platz im Mittelfeld, da es viele Bewohner im gleichen Alter und mit ähnlicher Kaufkraft gibt.

Vielfalt bei politischen Einstellungen

Im unteren Mittelfeld platziert sind etwa Eppendorf und auch das vermeintlich bunte Eimsbüttel. Der Migrantenanteil ist gering, es leben eher Menschen mittleren Alters dort und vergleichsweise wenige Familien. Eimsbüttel mag zwar begehrt sein bei Familien; eine bezahlbare Wohnung zu finden, das ist für sie aber vergleichsweise schwer. Große Wohnungen würden eher von gut verdienenden Paaren gemietet, sagt der Leiter der Studie, Robert Follmer.

Allerdings herrscht in Eimsbüttel eine vergleichsweise große Vielfalt bei den politischen Einstellungen. Letzteres lässt sich auch über die HafenCity sagen, allerdings sind dort eher ältere Menschen vertreten, die Kaufkraft ist homogen, der Migrantenanteil ist gering. Noch weniger Vielfalt herrscht in Quartieren im Norden und Südosten der Stadt. Wohldorf-Ohlstedt etwa hat der Studie zufolge einen sehr geringen ­Migrantenanteil. Das Wahlverhalten spricht auch nicht für Vielfalt. Die Entfernung zum nächsten Begegnungsort ist relativ groß. Nur der Wert für Altersdiversität fällt dort hoch aus, das heißt, es leben Menschen aller Altersgruppen im Viertel. Alles andere als super divers sind auch die Stadtteile Altengamme, Neuengamme, Kirchwerder, Ochsenwerder und Reitbrook.

Zu den Ergebnissen der Untersuchung gehört auch, dass Jüngere und Ältere eher in uneinheitlichen Stadtteilen beheimatet sind, wohingegen es Familien stärker in einheitliche Stadtteile zieht. In arrivierten Lebensphasen werde eine besondere Vielfalt eher gemieden; die Menschen zögen dann eher Richtung Stadtrand oder in eine „ungestörte Diversität“ bürgerlicher Quartiere im Zentrum, heißt es in der Studie. Dies hänge aber auch vom regional verfügbaren Wohnraum ab.

Wissenschaftliche These

Mit der Vielfalt-Studie will die Körber-Stiftung auch einer wissenschaftlichen These nachgehen. Demnach sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne klare, homogene Mehrheit. Stattdessen wird es eine Vielzahl an Minderheiten geben. In Deutschland stünden vor allem süddeutsche Städte bereits an dieser Schwelle, sagt der Ethnologe und Migrationsforscher Jens Schneider von der Universität Osnabrück. Aber auch in Hamburg ist eine solche Entwicklung denkbar.

Was folgt daraus? „In einer superdiversen Gesellschaft verlieren geläufige Vorstellungen von Integration ihre Bedeutung“, sagt Schneider. „Es wird mehr und mehr unklar, wer sich wo und wie zu integrieren hat, da sich alle notwendigerweise auf die eine oder andere Art und Weise anpassen müssen.“ Dies mache eine Diskussion über „unsere Werte“ als gesellschaftliches Fundament nicht überflüssig. „Sie sollte nur nicht zu einer Frage der Religion oder ethnischen Zugehörigkeit gemacht werden.“

Überalterte Gesellschaft

Einen anderen Aspekt betont Prof. Hacı-Halil Uslucan, Migrations- und Integrationsforscher an der Universität Duisburg-Essen. „Sehen wir es doch einmal aus der wirtschaftlichen Perspektive“, sagt er. „Wir haben in Deutschland eine überalterte Gesellschaft. Es ist also auch in unserem eigenen Interesse, uns zu öffnen. Wir benötigen die sich steigernde Diversität auch, um globalen ökonomischen Herausforderungen entgegenzutreten, wenn wir unseren erfolgreichen Wirtschaftsstandort erhalten wollen, sagt er. „Toleranz ist ein wichtiger Aspekt, um junge, kreative Menschen aus aller Welt herzuholen.“

Raum für Begegnungen schaffen

Vielfalt kann allerdings auch Angst machen. Wie lässt sich das verhindern? „Man generiert keine Vorurteile, weil man Kontakt mit dem Gegenstand des Vorurteils hat, sondern weil man Kontakt mit den Vorurteilen über den Gegenstand hatte“, sagt Hacı-Halil Uslucan. „Wir müssen Raum für Begegnungen schaffen, die auf Augenhöhe stattfinden, ein gemeinsames Ziel haben und auf Kooperation beruhen.“ Das sieht auch die Körber-Stiftung so. Vielfalt könne eine „gute Folie für eine neue Stadterzählung sein, schreiben Karin Haist und Agata Klaus vom Fachbereich Gesellschaft in einer Broschüre. Es gehe darum, nicht die Unterschiede, sondern die gemeinsame Heimat zu betonen. „Dass wir unsere Verschiedenheit aushalten, reicht nicht.“

„Uns ist wichtig, dass man sich in Hamburg zu Hause fühlt“, sagt Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD). Wo genau, entscheide jede und jeder für sich. „Wichtig ist immer, dass alle Menschen gerechte Chancen auf Teilhabe haben. Die Studie zeigt uns nun Orte und Stadtteile, in denen wir noch mehr ermöglichen müssen.“