Hamburg. Simon Stones Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ begeistert im Thalia Theater. Mit Martin Wuttke und Caroline Peters.
Er fällt und fällt und fällt. Die Welt, auf die der Schnee hier rieselt, ist eine Welt der vereisten Herzen und verhärteten Familienfronten. Der Australier Simon Stone hat seine sprachlich aufgemöbelte Version von Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ mit einem Allstar-Ensemble am Akademietheater der Wiener Burg inszeniert. Mit Wuttke. Minichmayr. Peters! Nun begeistert er das Publikum im zweimal ausverkauften Thalia Theater anlässlich des Hamburger Theaterfestivals.
Die erste, die sich aus den Schneemassen der Bühnenbildnerin Katrin Brack schält, ist Birgit Minichmayr, taumelnd vom morgendlichen Gin als heiser-rotzige Mutter Gunhild. Seit ihr Ehemann sich vor acht Jahren auf dem Dachboden verbarrikadiert hat – nach langer Gefängnisstrafe wegen Veruntreuung hoher Gelder –, träumt sie davon, dass Sohn Erhart Ruf und Ehre der Sippe wiederherstellt. Doch der macht keine Anstalten, geht stattdessen eine Liaison mit einer reichen Witwe ein und träumt von Flucht aus der Familienhölle und Backpacking in Südamerika.
Martin Wuttke mit Zauselhaaren
Wen wundert’s, die egozentrische Gunhild kennt das Wort Fürsorge nur vom Hörensagen. So hat Erhart prägende Jahre bei Gunhilds Zwillingsschwester Ella Rentheim verbracht. Die kommt nun zu Besuch, todkrank, verhärmt, resigniert – und bewegend gegeben von Caroline Peters. In Jahrzehnten gewachsene Konflikte flammen ein letztes Mal hoch. Patriarch und Banker Borkman, Martin Wuttke mit zauseligem Langhaar, ist in seiner Weltabgewandtheit nur das verzerrte Gitarrenspiel der Tochter des von ihm ruinierten Schreibers geblieben. Noch immer träumt er verschwörerisch vom Comeback. Die Hoffnung auf späte Erfüllungen der Prophezeiungen des Kapitalismus stirbt zuletzt.
Regisseur Simon Stone wurde weltweit bekannt mit seinen Ibsen-Überschreibungen. Auch hier greift er nach dem Kern und strickt daraus ein zeitgeistiges Familienstück. In „John Gabriel Borkman“ überspitzt er die Bitterkeit zur Groteske, die den Darstellern viele Gelegenheiten zur Tragikomödie eröffnet. Stones Verweise auf die digitale Gegenwart wirken dabei zwanghaft. Da wird lange über Google, Facebook, die neuen Spielekonsolen und Drohnen fabuliert, was den Fokus wegführt vom eigentlichen Thema.
Freude, diesen Spielwütigen zuzuschauen
Das aber erhält bei Simon Stone einen durchaus verführerischen Neuanstrich. Auch wenn hier vieles zum Alltagsslang eingedampft wird und offenbar primär einem Unterhaltungswillen folgt. Den kann man schlicht und unterkomplex finden. Es bleibt aber die Freude, diesen Spielwütigen bei ihren Grabenkämpfen um die Deutung familiärer Wahrheiten zuzuschauen. Mit der Schwester leistet sich Minichmayr herrlich schrille Zickenduelle. Noch vernichtender fallen die bodenlosen Lieblosigkeiten mit dem Gatten aus. Und es ist dann doch berührend, wenn Wuttkes Borkman, dieser verwitterte, tapsige alte Mann, der etwas von einem abgehalfterten Wrestler hat, der desillusionierten Ella seine Liebe gesteht, die er den Erpressungen eines dubiosen Anwalts geopfert hat. Dies besiegelte das Ende der eigentümlichen Dreiecksbeziehung John, Ella, Gunhild.
In der Einfachheit lauert das Verstörende klar
Stones Blick auf Ibsen mag einer von ganz außen sein, einer, der sich eher der aufgedrehten schillernden Oberfläche verschreibt und wenig in der Tiefe schürft, dennoch lauert in der Einfachheit das Verstörende erstaunlich klar. Vorausgesetzt, man stört sich nicht an der Boulevardkomödie und an den vorgeführten Geschlechter-Stereotypen.
„John Gabriel Borkman“ ist sicher nicht Ibsens stärkstes Stück. Simon Stone unternimmt mit seiner Neu-Überschreibung zumindest einen radikalen Versuch und führt ihn zu einem wahren Schauspielerfest, wie man es lange nicht gesehen hat.