Hamburg. War was? Rücktrittsforderung gegen Bürgermeister Olaf Scholz ist verpufft. Und der Parlamentsdebatte folgen wenige Abgeordnete.

Das Top-Thema der inneren Sicherheit in diesem Jahr fiel in der Sitzung der Bürgerschaft am Mittwoch unter „ferner liefen ...“. Die Gewaltexzesse rund um den G20-Gipfel und ihre weitreichenden Folgen waren 100 Tage nach den bestürzenden Ereignissen bestenfalls eine Fußnote im Parlament. Gegen Ende der Beratungen, als nicht mehr allzu viele zuhörten, erkundigte sich die Grünen-Innenexpertin Antje Möller in der Senatsfragestunde nach dem Stand der Ermittlungen bei Übergriffen von Polizeibeamten auf Demo-Teilnehmer und Unbeteiligte.

Politisch verantwortlich

Nun müssen Fragen an den Senat, so wollen es die Spielregeln, vorher eingereicht werden, und insofern konnte Innensenator Andy Grote (SPD) die Antwort mit allen Zahlen und Details flott hersagen. Nicht jede Sitzung muss zur Konfrontation über den G20-Gipfel führen – es gibt ja einen Sonderausschuss (siehe Text unten) –, aber die relativ entspannte Stimmung war bezeichnend: Sie zeigte, dass Grote den Gipfel überraschend unbeschadet überstanden hat, obwohl er unmittelbar politisch verantwortlich für den Polizeieinsatz ist.

Das hat drei zentrale Gründe: Die CDU hat sehr früh – noch während die letzten Staatschefs abreisten – den Rücktritt von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) gefordert und damit Grote gewissermaßen aus der Schusslinie genommen. Zweitens – und das ist durchaus ungewöhnlich – hat der SPD-Regierungspartner von den Grünen, sonst stets in kritischer Distanz zur Behörde am Johanniswall, den Innensenator von Anfang an geschont. Die Absprachen zwischen Grote und den grünen Senatoren im Vorfeld des Gipfels funktionierten nach Auffassung letzterer.

Grote ist Gratwanderung gelungen

Auch während der dramatischen Zuspitzungen in den Juli-Tagen galt Grote den Grünen, die stets um Nähe zur wie auch immer verstandenen „Szene“ bemüht sind, als ansprechbar und verlässlich. Anders als Scholz trauen die Grünen dem Sozialdemokraten, der auf St. Pauli lebt, zu, auch zu wissen, wie die Schanze „tickt“. Nicht unwichtig bei der Lösung des Hauptproblems, das sich aus den gewalttätigen Gipfel-Ereignissen ergibt: die Zukunft der Roten Flora. Die Grünen sehen sich in einer Mittlerrolle zwischen Anwohnern, der Szene vor Ort sowie Senat und Bürgerschaft.

Drittens ist Grote die klassische Gratwanderung von Innensenatoren bislang jedenfalls gelungen: Er stellt sich vor die Polizeibeamten, die in dem schwierigen und belastenden Einsatz waren, ohne den Eindruck zu erwecken, er wolle Fehlverhalten verdecken. Unmittelbar nach dem Gipfel hat Grote umfassende Aufklärung und Ermittlung zugesagt, und er hat diesen Kurs eingehalten. Dennoch: Der Stuhl im Büro des Innensenators bleibt ein Schleudersitz.

Image hat gelitten

Den größten politischen Schaden hat zweifellos Olaf Scholz aus den Gipfel-Ereignissen davongetragen. Sein Image als tatkräftiger Macher und Kümmerer um das Wohlergehen der Stadt und ihrer Bürger hat nachhaltig gelitten. Wie kein anderer hat der Bürgermeister vorher gebetsmühlenhaft wiederholt, dass ein solches Ereignis mit zahlreichen Staatsgästen, mit allerhöchster Sicherheitsstufe und europaweiter Mobilisierung der linksextremen Szene mitten in einer Stadt wie Hamburg, gerade in Hamburg, stattfinden können muss. G20 war in diesem Sinne Scholz’ Gipfel.

Der Sozialdemokrat hat mit der zuvor ausgesprochenen „Sicherheitsgarantie“ für Gäste und Hamburger zudem einen fatalen Fehler begangen. Wer Scholz während der dramatischen Stunden des Gipfels erlebt hat, traf auf einen zutiefst erschütterten Menschen. Er habe an Rücktritt gedacht, sagte Scholz dem Abendblatt Anfang August. Mehrere Tage lang war seine politische Zukunft tatsächlich offen. Scholz, der kühle Stratege und technokratisch wirkende Pragmatiker, fand nicht den richtigen Ton, wirkte fast paralysiert und verstrickte sich in neue riskante Äußerungen („Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“).

Merkel "rettet" Scholz

Nur mit allergrößter Mühe konnten Berater, Parteifreunde und Regierungspartner den Bürgermeister, dem es schwerfällt, Fehler einzugestehen, dazu bringen, wenigstens den einen entscheidenden Satz in seiner Regierungserklärung wenige Tage nach dem Gipfel zu sagen: „Ich bitte die Hamburgerinnen und Hamburger um Entschuldigung.“ In der vorletzten Fassung des Redemanuskripts stand der Satz noch nicht ...

„Gerettet“ hat Scholz letztlich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich als Gastgeberin des Gipfels vor Scholz stellte und der Hamburger CDU und ihrer Rücktrittsforderung damit in den Rücken fiel. Auf Merkels Hilfe angewiesen zu sein, ist für Sozialdemokraten natürlich kein Ruhmesblatt. Scholz’ Standing als erfolgreicher Ministerpräsident hat bei den Spitzengenossen im Bund gelitten. Manch einer sah die Chance gekommen, es dem Hamburger heimzuzahlen, der andere seine intellektuelle Überlegenheit gelegentlich spüren lässt. Außenminister Sigmar Gabriel und SPD-Vorsitzender Martin Schulz zogen aus den Hamburger Ereignissen den Schluss, solche Gipfel dürften in dieser Form nicht mehr stattfinden. Das war das Gegenteil dessen, was Scholz nach wie vor für richtig hält.

CDU kann bislang kein Kapital schlagen

Dass die G20-Ereignisse nachwirken, zeigt auch das Hamburger Ergebnis der Bundestagswahl. Die SPD kassierte mit 23,5 Prozent den schlechtesten Zweitstimmenwert seit 1949 und fiel hinter die CDU mit 27,2 Prozent zurück. Scholz sah zwar in bewährter Manier keinen Zusammenhang mit den G20-Ereignissen, aber Parteifreunde bewerteten das anders. Politisch ist der Gipfel für Scholz auch deswegen nicht ausgestanden, weil der Druck auf den Senat wächst, die Zukunft der Roten Flora zu klären, die als Keimzelle der linksextremen Gewalt gilt. „Mein Geduldsfaden ist gerissen“, hat Scholz gesagt. Auch hier gilt: Der Bürgermeister wird an dieser Aussage gemessen werden.

Scholz und die SPD, ja Rot-Grün insgesamt profitieren davon, dass die CDU aus den Gipfel-Ereignissen politisch bislang nicht durchgreifend Kapital schlagen konnte. Die Rücktrittsforderung ist verpufft. Die Union ist für die zügige Räumung der Roten Flora, hat aber das Problem, dass die Polizei den Floristen bislang keine Straftaten nachweisen konnte. Zudem hat die Union in ihrer Regierungszeit die Flora auch bestehen lassen. Der Vorschlag der CDU, die Hamburger per Referendum über das Kulturzentrum abstimmen zu lassen, stieß bei den anderen Fraktionen auf Ablehnung und droht zu versickern.

Die Linke ist ein Problem

FDP und AfD bemühen sich vorerst im Sonderausschuss um Aufklärung und halten sich mit Schlussfolgerungen zurück. Die Linke hat selbst ein Problem: Sie hat sich von den gewaltbereiten Demonstranten nicht klar abgegrenzt und muss sich vorhalten lassen, für die Eskalation mitverantwortlich zu sein. Bemerkenswert unbeschadet haben die Grünen G20 überstanden. Sie hatten Scholz vorher gewähren lassen, aber auf dem Höhepunkt der Gewaltexzesse erklärten die drei Grünen-Senatoren, G20 in Hamburg sei keine gute Idee gewesen. Das haben manche als Heldentum nach Ladenschluss bezeichnet.