Hamburg. Widersprüche und bislang unerklärliche Fehler während des G20-Gipfels. Hat die Version der Polizei Bestand?
Die Zentrale liegt hinter gerolltem Stacheldraht, weit draußen in Harburg. Weiße Container mit einzelnen Computern für die Vernehmungen, karge Möbel. Polizisten aus fast allen Fachbereichen, schweigsam wie ein Geheimdienst; selbst im Präsidium weiß nur ein kleiner Zirkel, woran die „SoKo Schwarzer Block“ genau arbeitet. In absoluter Ruhe sollen die 170 Beamten die großen Rätsel des G20-Gipfels lösen.
Es fing mit einer Frage an: Wer sind die Menschen, die ganze Viertel brennen ließen? Aber inzwischen geht es um noch mehr. Eine Bestandsaufnahme nach 100 Tagen ergibt auch die Frage, ob sich die bisherige Version der Ereignisse durch die Polizei halten lässt.
Die Täter: Linksextreme oder bloß Gelegenheitskrawallmacher?
Der Leiter der „SoKo Schwarzer Block“, Jan Hieber, spricht von einer „einmaligen“ Größenordnung der Ermittlungen: Insgesamt seien mutmaßlich etwa 5000 Menschen beim G20-Gipfel in Straftaten verwickelt gewesen. Mehr als 2000 Verfahren wurden bereits eröffnet. „Mehrere Hundert Straftäter“ seien identifiziert worden.
Bislang ist es aber offenbar nicht gelungen, die gefährlichsten Randalierer festzunehmen. Vor Gericht standen bislang vor allem Gelegenheitskrawallmacher (siehe unten). Gegen zwölf Verdächtige, die einen Handy-Laden im Schanzenviertel geplündert haben sollen, führte die SoKo eine Razzia durch – kein einziger von ihnen war aber vor dem Gipfel als linksextremer Straftäter aufgefallen.
Belege für die These der Polizei fehlen weiterhin
Damit fehlt noch immer ein genaues Bild darüber, wer für die Krawalle verantwortlich war – und auch Belege für die These der Polizei, viele Täter seien so professionell organisiert gewesen, dass die Beamten sich einer „neuen Qualität“ der Gewalt gegenübergesehen hätten. In Polizeikreisen heißt es aber, dass Mitläufer schneller zu ermitteln seien, da sie bei der Randale etwa teilweise noch auffällige Kleidung trugen.
G20-Krawalle: Zerstörungswut in Hamburg
Die SoKo arbeitet sich noch immer durch einen „Berg an Material“: Es stehen rund 25.000 Einzelvideos von Polizisten und rund 7000 Dateien von Augenzeugen zur Verfügung. In öffentlichen Verkehrsmitteln wurden mehr als 100 Festplatten gesichert, die ausgewertet werden. Große Hoffnungen setzen die Beamten auf den Einsatz einer Gesichtserkennungssoftware. In Richtung der Randalierer sagte Jan Hieber: „Wir werden viele von euch kriegen“.
Die Beweise: War der „Hinterhalt“ weniger gefährlich als angenommen?
Warum die Polizei den „Schwarzen Mob“ im Schanzenviertel am 7. Juli erst nach Stunden stoppte, bleibt die brisanteste Frage in der Aufarbeitung der Krawalle. 100 Tage nach dem Gipfel hat die Polizei keinerlei sichergestellte Beweismittel dafür, dass Vermummte tatsächlich mit Gehwegplatten und Molotowcocktails auf den Dächern warteten, um der Polizei einen lebensgefährlichen „Hinterhalt“ zu stellen. Wegen der „Überlastung“ der Beamten wurde erst vier Tage nach dem Gipfel vor Ort überhaupt eine Spurensicherung betrieben.
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Situation weniger gefährlich war, als von der Polizei angegeben. Wie leitende Beamte berichten, überschlugen sich die Informationen; gesicherte Erkenntnisse standen aber kaum zur Verfügung, da sich auch Zivilfahnder wegen der großen Gefahr zurückzogen.
Linke glauben, das Schanzenviertel wurde „geopfert“
Linke sehen in den fehlenden Beweisen einen Verdachtsmoment dafür, dass die Polizei mit ihren Angaben über den „Hinterhalt“ von eigenen Fehlern ablenken wollte – oder das Schanzenviertel sogar bewusst „geopfert“ habe.
Die Polizei bleibt aber „ausdrücklich“ bei ihrer grundsätzlichen Darstellung. Es ist dabei unstrittig, dass sich auf mehreren Dächern Vermummte aufhielten und mit Gegenständen auf die Polizei warfen. „Wenn wir früher reingegangen wären, hätten wir riskiert, dass ein Kollege stirbt – oder einer dieser Personen auf dem Dach in den Tod stürzt“, sagt ein Polizist. „Es war das einzig Richtige, auf eine Spezialeinheit zu warten“. Die genauen Zeitabläufe will nun der Sonderausschuss der Bürgerschaft klären.
Abgesehen vom Schulterblatt hat die Polizei relativ wenige, aber hochgefährliche Waffen zwischen dem 5. und 8. Juli sichergestellt – etwa fünf Molotowcocktails, zwei Zwillen und zwei Stahlkugeln, 50 Böller und andere Pyrotechnik sowie 103 „sonstige Waffen“, darunter Messer und Schlagstöcke.
Die Strategie: Eine Mischung aus Härte und Zögerlichkeit
Im Präsidium heißt es, man hätte es vorher gewusst: Egal, wie sich die Polizei verhalte, Kritik an der Strategie werde es ohnehin geben. Tatsächlich wird der Führung sowohl ein zu hartes Vorgehen bei der Demonstration „Welcome to Hell“ als auch ein zu zögerliches Vorgehen am Abend darauf im Schanzenviertel vorgeworfen.
Auf der anderen Seite ist es der Polizei nicht gelungen, ihr Vorgehen eindeutig zu erklären. Auch steht weiterhin der Widerspruch im Raum, dass die Polizei zwar im Vorfeld mit extrem gewaltbereiten Linksextremen rechnete, aber von eben jenen dann bei mehreren Vorfällen überrascht wurde.
Polizeiführung hat nur zwei Fehler eingeräumt
Zu der Frage, warum sich der „Schwarze Mob“ im Schanzenviertel überhaupt über Stunden zusammenrotten konnte, sagte Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde etwa, man habe „nicht über jedes Stöckchen springen wollen“, das die Gegenseite einem vorhielt. Dabei ist Dudde dafür bekannt, jedes Vergehen von Demonstranten in der Regel mit voller Härte zu ahnden.
Nach 100 Tagen hat die Polizeiführung zwei taktische Fehler eingeräumt: Bei der Demonstration „Welcome to Hell“ wurde nicht bedacht, dass Mitglieder des „Schwarzen Blocks“ über eine Flutschutzmauer kletterten und so entkamen. Außerdem wurde versäumt, das Baugerüst am Schulterblatt 1, über das viele Menschen im Schanzenviertel auf die Dächer gelangten, vorher zu sichern oder abzubauen – dabei lag sogar ein Schlüssel für das Gebäude vor.
Die Vorwürfe gegen Polizisten: 107 Verfahren, noch keine Anklage
Im Internet kursieren Videos, die angebliche Übergriffe von Polizisten auf Demonstranten zeigen sollen. Das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) führt Verfahren gegen 107 Beamte – weniger als jedes dritte mögliche Opfer zeigte einen Übergriff selbst an, in fast jedem zweiten Fall ist die Identität der Geschädigten noch völlig unbekannt. „Wir haben ohne die Aussagen der Geschädigten Schwierigkeiten, die Vorgänge aufzuklären“, sagte Innensenator Andy Grote (SPD). Zu einer Anklage gegen einen Polizisten ist es noch nicht gekommen. Zwei Ermittlungsverfahren wurden dagegen bereits eingestellt.