Hamburg. Die Zahl der offenen Stellen in Hamburg ist hoch. Warum können dennoch so viele Jobs nicht besetzt werden? Die Abendblatt-Serie.

Die Ersten sind schon da. Noch bevor das Geschäft öffnet, die Türen aufgeschlossen werden. Nils Hartfelder kennt das schon. Kennt die Kunden, die morgens bereits um 9.45 Uhr vor dem Geschäft stehen und warten. Kennt das Einkaufsverhalten seiner Kundschaft. Auch ohne eine Uhr könnte er sagen, wie spät es ist – wenn er sieht, wer sich gerade im Laden aufhält. So wie andere die Uhrzeit am Sonnenstand ablesen können, so kann Nils Hartfelder sie an den Käufern erkennen.

Es ist zehn Uhr, und Hartfelder Spielzeug im Tibarg Center hat gerade aufgemacht. Vier Minuten später steht die erste Kundin an der Kasse, kauft ein paar Schulhefte, Schnellhefter und einen Buchumschlag. Summe: 4,03 Euro. Es ist der erste Bon des Tages. Im Laden ist es ruhig. Typisch für einen Vormittag. Trotz der Kunden. Oder gerade ihretwegen. Weil um diese Zeit fast nur Erwachsene einkaufen. Weil kaum Kinder da sind, die meisten in der Schule oder der Kita sind.

1359 offene Stellen für Verkäufer

Die ersten Stunden gehören den Rentnern und Müttern, die in Ruhe einkaufen wollen. Alleine. Ohne quengelnde Kinder, ohne lange Schlangen, ohne Stress. Vormittags geht das noch. Nachmittags nicht. Da wird es voll. „Daher muss bis 14, spätestens 15 Uhr alles fertig sein“, meint Nils Hartfelder. Was er mit „alles“ meint, das werde ich in den nächsten Stunden erfahren.

Die Ersten sind schon da. Kartons. Pakete. Kisten. Sie stehen im Lager. Nebeneinander, übereinander. Kreuz und quer. Weitere werden den ganzen Vormittag über angeliefert – und ausgepackt. Die Waren werden gescannt und mit Preisen ausgezeichnet, auf die fünf verschiedenen Filialen von Hartfelder verteilt und in die Regale geräumt. 70.000 verschiedene Artikel hat Hartfelder im Sortiment. Das heißt: Pro Filiale gibt es rund 400.000 Artikel. 400.000!

Jedes Etikett ist Handarbeit

Die Zahl ist so unfassbar, dass ich sie nicht aus dem Kopf bekomme, während ich einen Karton nach dem anderen auspacke. Während ich Bastelscheren und Tintenpatronen, Straßenmalkreide und Wachsmalstifte scanne und mit einem Preis auszeichne. Manuell. Irgendwie hatte ich gedacht, dass dieser Prozess bereits komplett digitalisiert sei. Ist er aber nicht.

Jedes Etikett Handarbeit. Jede Ziffer des Betrages wird manuell an einem Rädchen eingestellt, jedes Preisschild einzeln ausgedruckt und aufgeklebt. Ganz schön aufwendig. Vor allem bei Kartons, in denen jeder Artikel nur ein- oder zweimal ist. Jeder Artikel einen anderen Preis hat. Jedes Mal neue Zahlen eingestellt werden müssen. Eine Tätigkeit, bei der man die Zeit vergisst, jedes Zeitgefühl verliert. Fernab vom Rummel des Einkaufszentrums und in einem Raum ohne Fenster ist es unmöglich, die Uhrzeit zu bestimmen. Abzuschätzen, wie lange man schon arbeitet? Eine Stunde? Zwei?

Waren einräumen, Regale auffüllen

Nur mithilfe der Kartons und etikettierten Waren lässt sich hochrechnen, wie spät es sein müsste. Rund 50 Artikel waren es im ersten Karton. Schätzungsweise um die 60 Sekunden dauert es, einen Artikel zu scannen, den Preis einzustellen und das Etikett aufzukleben. Müsste knapp eine Stunde machen, oder? Als wir in den Laden zurückgehen, probiere ich, die Zeit anhand verschiedener Parameter zu ermitteln. Volle Tische im Erdgeschoss, Menschen beim Essen. Mittagszeit. Es muss zwischen 12 und 14 Uhr sein.

Kaum noch jemand da. Der Laden ist nahezu leer. Die Ersten sind wieder weg, die Nächsten noch nicht da. Wer Kinder hat, ist um diese Zeit meistens zu Hause. Zum Mittagessen. Niemand an der Kasse. Kein Kunde, kein Mitarbeiter. Die Verkäufer sind auf der Fläche. Alle. Um die Waren einzuräumen, Regale aufzufüllen und Aktionsflächen umzugestalten. In den nächsten ein, zwei Stunden gilt es, Hunderte Radiergummis und Tintenpatronen, Playmobilfiguren und Kuscheltiere, Federtaschen und Spiele einzusortieren. Für jemanden, der jeden der 600 Quadratmeter Verkaufsfläche kennt, ein Kinderspiel.

Jedes Teil eine Herausforderung

Für jemanden, der den Platz jedes Spielzeugs benennen kann, über jeden der 70.000 Artikel informiert ist. Jemand, der ich nicht bin. Sondern ein Niemand! Der mit jedem Teil ziellos durch die Gänge irrt, ratlos vor den Regalen steht. Jedes Teil eine Herausforderung. Wohin kommen die Mau-Mau-Karten? Warum gibt es bei den Tintenpatronen keine Lamy-Patronen? Kommen die Federtaschen zu den Schulranzen oder auf die Aktionsfläche am Eingang? Und wo steht das Tipp-Ex?

Die Erste ist da. Die erste Kundin, die mich anspricht. Überlege gerade, ob ich die rosa Kartons von Playmobil City Life bei der blauen City-Life-Reihe für Jungs einsortieren soll – oder ob sie zu den anderen rosa Playmobil-Serien wie Princess und Fairies kommen? Will mir gerade Hilfe bei einer der anderen Mitarbeiterinnen holen, als ich selbst um Hilfe gebeten werde. Ich! Muss am Namensschild liegen, das mich als Aushilfe ausweist und mir ein gewisses Maß an Autorität verleiht. Die Kundin sucht eine Trinkflasche für ihren Sohn. Und sie will nicht nur wissen, wo die Flaschen stehen, sondern auch, welche die beste ist.

Ganz plötzlich: Das Gefühl Spaß

Auf die erste Frage weiß ich auch keine Antwort, auf die zweite schon. Haben wir doch selbst zu Hause in den vergangenen Jahren diverse Systeme durchprobiert und fundierte Kenntnisse gesammelt, welche Trinkflasche am besten für Saft und welche für kohlensäurehaltige Getränke geeignet ist, welcher Verschluss in welchem Alter funktioniert und welche Vor- beziehungsweise Nachteile Flaschen aus Plastik und Alu haben.

Da ist es! Ganz plötzlich. Unvermittelt. Das Gefühl. Spaß. Erfüllung. Bei der Arbeit. Bei der Beratung. Beim Gespräch mit den Kunden. Darauf habe ich von dem Moment an gewartet, als ich heute Morgen das Geschäft betreten habe. Als ich mich daran erinnert habe, wie großartig es war, während des Studiums in einem Bekleidungsgeschäft zu arbeiten. Als es noch den langen Verkaufs-Donnerstag gab und die Läden sonnabends um 14 Uhr schlossen. 25 Jahre sind seitdem vergangen, und doch fühlt sich die Rolle vertraut an. Vielleicht, weil es gar keine Rolle ist. Weil ich nichts spielen muss. Nicht vorgeben muss, jemand anderes zu sein. Sondern weil ich einfach ich sein kann. Einen Teil von mir ausleben kann. Nur an einem anderen Ort, in einem anderen Beruf.

Auch mal jemanden von einem Kauf abraten

Ich weiß nicht, was man in der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann lernt. Weiß nicht, worum es in den Schulungen für Verkäufer geht, von denen mir Herr Hartfelder erzählt hat. Aber ich weiß, wie ich selbst am liebsten beraten will. Ehrlich. Deswegen ist genau das auch mein Anspruch an den heutigen Tag und meine Tätigkeit: authentisch zu sein. Niemanden zu bequatschen, sondern zu beraten. Mich einzubringen, ohne aufzudrängen. Auch wenn das mal bedeuten kann, jemanden von einem Kauf abzuraten.

Wie dieser jungen Mutter, die ein spezielles Greifspielzeug für ihr Baby sucht – dieses aber nicht vorrätig ist. Eine Gewissensentscheidung. Ihr kein anderes, weniger geeignetes, aufzuschwatzen. Sondern ihr zu raten, mit dem Kauf besser noch zu warten, bis das Passende wieder lieferbar ist. Eigentlich Ehrensache, oder? Aber wie bewertet das derjenige, dem der Laden gehört? Der Umsätze erzielen muss, um im harten Wettbewerb überleben zu können?

Wie ehrlich darf ich als Verkäufer sein?

Die ersten Zweifel sind da. Kann man als Verkäufer wirklich eigenständig agieren? Oder muss man sich dem großen Ganzen unterwerfen? Darf ich meine Meinung vertreten, auch wenn sie geschäftsschädigend ist? Ich habe die Frage noch nicht mal komplett Nils Hartfelder vorgetragen, da unterbricht er mich schon. „Gutes Personal zeichnet sich doch genau dadurch aus, dass es fachkundig und ehrlich berät – ohne jemanden zu bequatschen“, sagt Nils Hartfelder. „Nur dann kommen die Kunden wieder. Und nur dann machen wir dauerhaft Umsatz. Und nicht nur einmal.“

Wenn man Nils Hartfelder sprechen hört, könnte man ihn für eine alten Geschäftsmann halten. Für jemanden, der den Job seit Jahrzehnten macht, einen Branchenexperten. Doch Nils Hartfelder ist nicht alt. Gerade mal 29. Ein Betriebswirt, der in den Niederlanden studiert hat und nie, wirklich nie, in den Handel wollte. Weil er mitbekommen hat, wie sich seine Eltern für ihren Laden abrackern mussten.

Nicht am Personal sparen

Wie schwer sie es hatten, ihr Spielzeuggeschäft in Bramfeld am Laufen zu halten. Aus diesem Grund war es für ihn auch nichts anderes als ein Projekt, als er für seine Abschlussarbeit ein Modernisierungskonzept für Traditionsunternehmen erarbeitet hat. Eine Konkurrenzanalyse erstellt und Marketingkonzepte entwickelt hat. Und gemerkt hat, dass ihm genau das Spaß macht. Dass er seine Ideen gerne in der Praxis umsetzen würde.

Sieben Jahre sind seitdem vergangen. Sieben Jahre, in denen Nils Hartfelder und seine Frau Julia fünf Spielzeuggeschäfte eröffnet haben. Unabhängig von seinen Eltern, Nils Hartfelder wollte sein eigenes Ding machen. Das sagt er immer wieder. Mit fairen Preisen, die nicht höhrer als bei der Konkurrenz sind. Mit Mitarbeitern, deren Zahl weit über dem Branchendurchschnitt liegt. Exakt 70 Angestellte hat er heute. In fünf Läden. Seine Bank stöhnt über die hohen Personalkosten, rät ihm regelmäßig zum Stellenabbau. Doch Hartfelder will nicht sparen. Nicht am Personal. Weil das Personal ihn vom Internet abhebt, von der Konkurrenz. Weil gute Beratung aus seiner Sicht unbezahlbar ist.

An den Kindern kann man die Zeit ablesen

Nur so hat er es geschafft, in einer Branche zu wachsen, in der nur noch 30 Prozent des Umsatzes im stationären Spielwarenfachhandel gemacht werden. So hat er es geschafft, den fünfthöchsten Umsatz aller Spielzeugfachgeschäfte in Deutschland zu generieren. Geschafft, zu überleben, während andere Fachhändler aufgeben mussten. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der selbstständigen Fachhändler in den beiden führenden Spielwarenverbänden Vedes und idee+spiel um 1000 reduziert. Von 2200 auf 1300. Auch das Geschäft seiner Eltern gibt es heute nicht mehr.

Die Ersten sind da. Endlich! Die Kinder. Die herumlaufen und lachen, auf der Rutsche toben und ein Spielzeug nach dem anderen bestaunen. Die mit ihrem Taschengeld in der Hand an der Kasse stehen oder ihre Eltern anflehen, etwas zu kaufen. „Bitteeeeeeeeeeeeeee!“ ist eins der meistgesagten Wörter an diesem Nachmittag. Keine Uhr notwendig, um die Zeit zu erkennen. An den Kunden und der ab 15 Uhr schlagartig zunehmenden Zahl der Kinder kann man die Zeit ablesen wie auf einem Ziffernblatt.

Von 100 Euro bleiben nur ein oder zwei übrig

Jetzt ist klar, warum bis 15.00 Uhr alles fertig sein muss. Weil es dann voll wird. So voll, dass die Gänge frei sein müssen, nicht von Kartons mit Waren blockiert werden dürfen. So voll, dass jeder Verkäufer zur Beratung benötigt wird. Dass wir zu zweit oder zu dritt an der Kasse stehen, Waren scannen, Geld kassieren und Geschenke verpacken. 300 Kunden kaufen täglich bei Hartfelder ein. An schlechten Tagen. An guten sind es 500. Vor Feiertagen 800. So viele, dass es zwischen 15.00 und 18.00 Uhr meistens eine Schlange vor der Kasse gibt, die Leute anstehen müssen.

Durchschnittlich 12,80 Euro lässt jeder Kunde im Laden. Doch was fast niemand weiß, niemand sagt: Von 100 Euro Umsatz bleiben am Ende nur ein oder zwei übrig. Am Ende, wenn Nils Hartfelder die Kosten für Miete, Strom und Personal abgezogen hat. Am Ende, wenn Krankenversicherung und Steuern bezahlt wurden. Am Ende, wenn neue Waren eingekauft wurden. 50.000 Neuheiten kommen jährlich auf den deutschen Markt. Um im Konkurrenzkampf mit dem Internet und großen Filialisten bestehen zu können, müssen Spielzeuggeschäfte Waren von mehreren 100.000 Euro vorrätig haben und anbieten. Bei Hartfelder sind es Spielsachen für rund 400.000 Euro. Nur im Tibarg Center.

40 bis 45 Stunden arbeiten viele Verkäufer

Irgendwann später wird Nils Hartfelder erzählen, dass sie Waren bis 50 Euro gut verkaufen, aber alles andere komplizierter geworden ist. Spielküchen oder Parkhäuser kaum noch gehen. Weil die Leute die Sachen nicht nach Hause tragen wollen, ihnen der Aufwand zu groß ist. Später wird er sagen, dass sie aus diesem Grund neuerdings Waren ab 49,99 Euro kostenlos versenden – um die Kunden nicht zu verlieren. Später wird er von den Geburtstagskisten schwärmen, von denen sie 150 Stück haben und aus denen 80 Prozent der Waren verkauft werden. Irgendwann später. Aber nicht jetzt. Jetzt ist keine Zeit zum Reden. Keine Zeit für eine Pause, zum Essen oder Trinken. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Jede Minute kostbar. Jede Verzögerung ärgerlich für die Kunden.

Immer neue Sachen sind da. Die von mir eingepackt werden müssen. Keine Ahnung, wie oft ich Papier abreiße und Bänder mit der Schere kräusel. Wie oft ich einen Hartfelder-Aufkleber auf ein Präsent klebe und den Kunden viel Freude mit dem Einkauf wünsche. Die Füße pochen, die Wangen brennen. Warm ist mir, fast heiß. Die Luft stickig. Kein Fenster. Kein Tageslicht. Nicht gedacht, dass es so anstrengend ist. Mit den Verpackungen von unförmigen Skateboards und Kuscheltieren zu kämpfen. Und nebenbei muss ich immer wieder Kundenfragen beantworten. Gibt es Sprühfarbe für Textilien? Wo stehen Aktenordner? Was kosten die Bleistifte? Ab welchem Alter ist Playmobil geeignet?

Seit zehn Stunden im Laden

Die Ersten sind da. Männer, Väter. Die meist nach Feierabend kommen, schnell noch etwas besorgen. Wenn die Kinder längst zu Hause sitzen, beim Abendbrot. Wenn es im Laden leerer wird. Es ist Abend, zwischen 18.00 und 19.00 Uhr. Der Laden leert sich. Um 19.54 Uhr werden die letzten beiden Artikel eingebongt und bezahlt. Zwei Packungen Modellbaukleber. Summe: 6,68 Euro. Die meisten Verkäufer sind jetzt seit zehn Stunden im Laden. 40 bis 45 Stunden arbeiten sie pro Woche. Für 9,50 bis 13,50 Euro in der Stunde. Es sei schwer, gutes Personal zu finden, sagt Hartfelder. Es hat schon mal ein halbes Jahr gedauert, bis sie jemanden eingestellt haben. Gerade suchen sie wieder. Im Schaufenster hängt ein Zettel. Doch bisher war niemand da.

Lesen Sie in der nächsten Folge: Ein Tag als Küchenhilfe

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