Hamburg. Die Zahl der offenen Stellen in Hamburg ist hoch. Warum eigentlich? Miriam Opresnik will es genau wissen – und arbeitet mit.
Es ist der Geruch. Der Geruch des Desinfektionsmittels. Scharf. Streng. Schlimm. Ruft Erinnerungen hervor, die ich am liebsten vergessen würde – und es nicht kann, nie. Verdrängen ja, aber nicht vergessen. Weil es unvergesslich ist, wenn das eigene Baby im Krankenhaus ist, direkt nach der Geburt. Wenn man es nicht einfach berühren darf, anfassen, streicheln, trösten. Sondern sich jedes Mal vorher die Hände desinfizieren muss. Sieben Wochen lang.
Der Geruch hat die Jahre überdauert, ist heute so präsent wie damals. Es ist das Erste, was ich an meinem Tag als Pflegehelferin wahrnehme. Draußen duftete es nach Sommerblumen und nassem Rasen, drinnen riecht es nach Desinfektionsmittel. Noch bevor ich das Christophorus Haus in Hummelsbüttel richtig betreten habe, muss ich mir das erste Mal die Hände desinfizieren. In der Eingangsschleuse. „Um die Patienten zu schützen“, steht auf dem Zettel an der Flasche mit Sterillium. Um keine Keime hereinzutragen. Krankheiten.
Um 6.45 Uhr fängt die Frühschicht an
Es ist 6.30 Uhr, der erste Bewohner schiebt bereits seinen Rollator durch die Gänge. Das schwarze Körbchen hat er mit rot-weißem Absperrband umwickelt. Am Griff befindet sich eine Hupe. Damit er hupen kann, wenn er sich Platz verschaffen will, schnell durch muss. Wenn die anderen zu langsam sind.
Im Wohnbereich 3 schlafen die meisten Bewohner noch. Um 6.45 Uhr fängt die Frühschicht an, ab 7.00 Uhr wird geweckt. Noch eine halbe Stunde ist es bis dahin, doch Nicole Saft und ihre Kollegen der Frühschicht sind schon da. Seit kurz nach sechs. „Wir kommen immer früher, damit wir alles schaffen“, sagt Nicole Saft (33). Sie ist die Wohnbereichsleiterin und seit 16 Jahren in der Altenpflege. Den Geruch nimmt sie nicht mehr wahr.
Nicht an den Tod denken
Sie sind zu viert an diesem Morgen. Vier für 34 Bewohner. Nachmittags sind sie nur zu dritt. Weil da nicht mehr so viel zu tun ist wie morgens. Wenn alle geweckt, am ganzen Körper gewaschen oder geduscht werden müssen. Wenn Zähne geputzt, Haare gekämmt und Urinbeutel geleert werden müssen. Wenn Stützstrümpfe angezogen, Windeln gewechselt und Betten gemacht werden müssen. Wenn die Medikamente eingeteilt werden müssen. Morgens, wenn die Zeit knapp ist, obwohl der Tag gerade erst begonnen hat.
Im Dienstzimmer reiht Nicole Saft winzige Medikamentenbecher auf ein Tablett. Reihe um Reihe. Rot für morgens, gelb für mittags, blau für abends und weiß für die Nacht. Sie drückt Tabletten aus Blister-Verpackungen, zählt Tropfen in die Einweg-Medizinbecher ab und füllt sie mit Wasser auf. Immer wieder guckt sie auf ihre Liste, hakt Namen und Dosierungen ab. Penibel. Präzise. „Hier geht es nicht um Smarties oder Gummibärchen. Sondern um Medikamente. Wenn da ein Fehler unterläuft …“, sagt Nicole Saft. Der Rest des Satzes hängt in der Luft wie der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees, der auf dem Tisch steht. An einer Magnettafel hängen Dienstpläne, Essenspläne. Eine Postkarte. Aufschrift: Heute ist ein guter Tag.
Wenn jemand geht, ist das jedes Mal schlimm
Mit einer Kollegin zählt Nicole Saft die Tabletten in einem Blister ab. 48. Stimmt, Haken machen, weiter. Zählen, abhaken, nächste Packung. Dreimal am Tag werden die Schachteln durchgezählt. Es sind die BTM; Betäubungsmittel. Die Schränke im Dienstzimmer sind beschriftet. Infusionsbesteck steht auf einem. Auf einem anderen: Totenkerze.
Der Tod gehört dazu. Zu dem Job, zu dem Leben im Altenheim. Das muss einem klar sein, wenn man hier arbeitet. Oder wenn man hier lebt. Trotzdem, oder gerade deswegen: An den Tod wollen sie nicht denken. Sondern an das Leben, das noch bleibt. An Gerüche kann man sich gewöhnen. An den Tod nicht. „Wenn jemand von unseren Bewohnern geht, ist das jedes Mal schlimm“, sagt Nicole Saft und hält inne. Das ist kein Thema, über das man nebenbei sprechen kann.
Intensive Beziehung
„Viele Bewohner sind so lange bei uns, dass sich eine intensive Beziehung entwickelt.“ Es ist kein einseitiges Verhältnis, mehr ein Miteinander. Wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, wie die Mitarbeiter mit den Bewohnern, entsteht etwas, das sich kaum in Worte fassen lässt. Einige nennen es Familie, andere gar Liebe. „Wenn dann jemand geht, trauert man nicht um einen Fremden. Sondern um einen Freund, um einen Angehörigen.“ Nicole Saft spricht nicht von „sterben“. Sie sagt „gehen“.
Es ist kurz nach sieben, als Nicole Saft an der ersten Zimmertür klopft. Ein Poster mit Katzen klebt daran. Es ist das Zimmer von Frau Lehmann. Sie heißt eigentlich anders, hat den Namen nur für diese Geschichte bekommen. So wie alle Bewohner. Um deren Privatsphäre zu schützen. Es ist merkwürdig über Privatsphäre zu sprechen, wenn man jemandem im nächsten Moment den Po abwischt. Klingt wie ein Paradoxon, ist es aber nicht. Nicht für Nicole Saft. „Gerade deswegen ist es ja so wichtig, den Bewohnern ihre Privatsphäre dort zu ermöglichen, wo es noch geht“, sagt sie mit Nachdruck. Weil sie diese schon in zu vielen Bereichen abgeben mussten, verloren haben.
Privatsphäre achten
Vorsichtig hilft sie Frau Lehmann aus dem Bett, zieht ihr die Hausschuhe an und stützt sie bei dem Weg ins Bad. Sonst nimmt die alte Dame den Rollstuhl, heute möchte sie mal gehen. Nicole Saft ermutigt sie, hakt sie unter. Sie hilft Frau Lehmann auf die Toilette und geht dann aus dem Badezimmer raus. Dabei möchte doch jeder alleine sein, oder? Keine Frage, eine Anweisung. Während die alte Dame auf der Toilette ist, macht Nicole Saft das Bett.
Eigentlich gibt es auf der Station dafür jemanden, doch sie macht es meistens schnell selbst. Ist ihr lieber als untätig herumzustehen und zu warten. Im Zimmer riecht es nach abgestandener Luft. Nicole Saft macht das Fenster auf, schüttelt die Bettdecke aus, streicht das Laken glatt, klopft das Kissen auf. Dann die Decke ausbreiten. Fertig. Zum Schluss setzt sie ein Kuscheltier auf das Bett. Es gehört Frau Lehmann. Es ist ein Delfin.
Leben auf 24 Quadratmetern
Ein Leben auf 24 Quadratmetern. Linoleumfußboden. Ein Bett, Tisch, Stühle, Fernseher, Schrank. Eine alte Puppe, Fotos von ihren Enkeln. Zehn sind es mindestens, sagt Frau Lehmann (84) später. Wie viele genau? Das weiß sie nicht. Auf ihrem Schrank liegen zwei Koffer. Dort drinnen waren ihre Sachen, als sie ins Christophorus Haus eingezogen ist. Wann das war? Sie schüttelt den Kopf. Vergessen. Wie so vieles, seit sie den Schlaganfall hatte, nicht mehr alleine leben kann. Hilfe braucht.
Nicole Saft hilft, unterstützt. Ohne alles zu übernehmen. „Wir wollen, dass unsere Bewohner so viel wie möglich noch selbst machen.“ Nicht, damit sie selbst weniger machen muss, es leichter hat. Sondern damit sich die Bewohner ein Stück Eigenständigkeit bewahren. Selbstständigkeit. Ein Stück ihres Selbst. Natürlich ginge es schneller, wenn die Pfleger alles machen würden. Aber darum geht es nicht. „Ich sag immer: So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“, sagt Nicole Saft und reicht Frau Lehmann einen Waschlappen mit Seife. Die Seife riecht nach Honig.
Viele Schicksale
20 bis 30 Minuten Zeit sind pro Bewohner eingeplant, manchmal aber auch 50, je nachdem wie viel Hilfe er braucht. Ob er geduscht werden muss, einen Katheter oder Dekubitus hat – wund gelegen ist. Je nachdem, ob er dement ist oder klar. Ob er einen guten oder schlechten Tag hat. Frau Lehmann hat einen guten Tag. Sie macht Scherze über ihre Frisur, wählt ein passendes Tuch zu ihrer Weste aus, lässt sich zwei Ketten umlegen. Ihr ist es wichtig, gut auszusehen, auf sich zu achten. Auf ihrem Stuhl liegen die Strümpfe von gestern. Sie riecht daran, will wissen, ob sie diese noch mal anziehen kann. Nein! Auf keinen Fall! Sie schüttelt den Kopf. Die stinken, neue bitte. Dann schiebt Nicole Saft die alte Dame aus dem Zimmer. Kurz darauf kommen sie zurück. Sie haben etwas vergessen. Einen Spritzer Parfüm. Es duftet nach Veilchen.
Weiter. Das nächste Zimmer, der nächste Bewohner. Der nächste Mensch. Mit einer Geschichte, einem Schicksal. Das darf man nie vergessen, findet Nicole Saft. „Wir mähen hier keinen Rasen, sondern kümmern uns um Menschen, die verdienen Respekt“, sagt sie. Gerade die Menschen hier. Menschen aus der Generation, die Hitler und den Krieg erlebt hat. Die Deutschland wieder aufgebaut, viel durchgemacht haben. Und die kaum noch etwas haben.
Eigenständigkeit geht verloren
Denen nicht viel geblieben ist. Nicht viel Eigenständigkeit. Und nicht viel Besitz. Rund 35 Prozent im Christophorus Haus haben so wenig, dass sie die Heimkosten nicht selbst tragen können und „Hilfe zur Pflege“ bekommen, wie es heute heißt. Früher nannte man das Sozialhilfe. 35 Prozent. Das ist mehr als jeder Dritte. Das heißt auch: Jeder Dritte im Christophorus Haus hat monatlich nur 110 Euro zur persönlichen Verfügung. 110 Euro für Friseur, Fußpflege, eine Tafel Schokolade, ein Rätselheft. Für ein paar Briefmarken, eine Gesichtscreme, Deo, Seife.
Es sind die Gefühle. Schwer zu ertragen. Nicht der Geruch. Sondern die Gefühle und Gedanken, die die alten Herrschaften in mir hervorrufen. Nirgendwo sonst wird einem die eigene Endlichkeit so vor Augen geführt wie hier. Die Angst vor der Zukunft. Vor dem Alter, dem Verfall, der Einsamkeit. Der Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Von anderen. Wer hier arbeitet, hat keinen Job. Er hat eine Aufgabe.
Unvorstellbar, Job bis zur Rente zu machen
Bin ich dieser Aufgabe gewachsen? Auch wenn es nur einen Tag lang ist? Schließlich geht es nicht nur um mich. Sondern um andere. Um Menschen, die auf mich angewiesen sind. Wie sehr, das macht mir Nicole deutlich. Mehr nebenbei, vermutlich unbewusst. Als sie von ihren Kindern erzählt, elf und vier Jahre alt. Als sie erzählt, wie schwer es ist, wenn ihr Kleiner mal wieder krank ist – und sie ihn dann zu ihren Schwiegereltern nach Mecklenburg-Vorpommern bringt. Damit die sich um ihn kümmern – und sie arbeiten gehen kann. Klar, sei das schwer und sie jedes Mal total hin- und hergerissen. Weil sie weiß, dass beide sie brauchen. Ihr Kind – und die Menschen hier.
Rauf, runter. Hin und her. Von Zimmer zu Zimmer, von der Küche in den Aufenthaltsraum, vom Dienstzimmer in den Fäkalraum. Einmal hat Nicole Saft zum Spaß einen Schrittzähler mitgenommen, wollte wissen, wie viel sie jeden Tag unterwegs ist. 20.000 Schritte hatte sie am Ende. Am Ende ihrer Schicht. Nicht am Ende des Tages. Das sei schon anstrengend, sagt sie und fragt sich manchmal, wie sie das in zehn Jahren schaffen soll. In 20 oder 30? Bis zu ihrer Rente sind es noch 34 Jahre. Unvorstellbar, dass sie den Job dann noch machen kann. Wollen ja! Aber können?
Flach atmen und lächeln
Im Zimmer von Frau Wagner riecht es nach Urin. Sie hat einen Katheter, der Beutel ist voll und muss geleert werden. Ich probiere, flach zu atmen und zu lächeln. Will mir auf keinen Fall etwas anmerken lasse und schäme mich, dass mir der Geruch so viel ausmacht. Durch das geöffnete Fenster dringt das Lachen von Kindern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes ist ein Kindergarten. Dort beginnt das Leben, hier endet es.
Nicole Saft hebt Frau Wagner aus dem Bett, setzt sie in den Rollstuhl und schiebt sie ins Bad. Die Räder verhaken sich an der Kante einer Teppichbrücke. Nicole Saft muss den Stuhl anheben. Ein Kraftakt. Ich mache das Bett und hole das Frühstück – mit dem Fahrstuhl. Der Speisesaal liegt im Erdgeschoss. Keine Energie mehr zum Treppensteigen. Es ist kurz nach acht und ich frage mich, warum man das Renteneintrittsalter nicht von der körperlichen Belastung des Jobs abhängig macht? Warum man als Pflegekraft genauso lange arbeiten muss wie als Bankangestellter?
Kein Platz für Ekel
Nach der Nacht müssen die Toilettenstühle vieler Bewohner gereinigt werden. Im Fäkalraum. Ein Waschbecken, eine Spülmaschine für die Schüsseln. In einem großen Eimer stecken Tücher zum Reinigen. Sie sind mit Sterillium getränkt. Der Geruch weckt Erinnerungen an den gleichen Eimer, allerdings an einem andere Ort. Damals habe ich damit die Wickelauflage desinfiziert. Jetzt sind es Rollstühle mit einem eingelassenen Eimer in der Sitzfläche. Ein paar Urinspritzer sind eingetrocknet. Ich wickele ein Tuch um den Finger und kratze die Flecken mit dem Nagel ab. Gefühle sind ausgeschaltet. Kein Platz für Ekel. Nur eine Aufgabe, die es zu erledigen gilt. Gibt Schlimmeres. Irgendwie befreiend, so zu denken.
Die Tür des Fäkalraums muss zu sein, wegen des Geruchs. Die Schreie kann man trotzdem hören. Die Schreie einer Bewohnerin, schwer dement. Die Rufe gehen durch und durch, erschüttern zutiefst. „Wenn man im Alter körperlich abbaut, ist das eine Sache. Aber das Geistige …“, sagt eine der Altenpflegerinnen, die eine Schüssel sauber macht. Der Rest des Satzes bleibt unausgesprochen. Weil es keine Worte gibt, um das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Von draußen dringen Schreie herein
Es ist 10.30 Uhr, als alle Bewohner geweckt, gewaschen und angezogen sind. Zeit für Nicole Saft, sich um die Dokumentation zu kümmern, in der die Pflege jedes Bewohners dokumentiert wird. Alles, was zur Darstellung des Befindens notwendig erscheint, wird aufgeschrieben. Ein langwieriger Prozess. Notwendig, aber lästig. „Ich wäre lieber bei den Bewohnern als hier am Schreibtisch“, sagt Nicole Saft, während sie Punkt für Punkt durchgeht, Angaben aktualisiert. Weil kein Tag wie der andere ist. Weil sich der Zustand der Bewohner permanent verändert.
Von draußen dringen Schreie herein. Es ist Frau Peters. Man hat sie im Rollstuhl auf den Flur geschoben. Damit sie in ihrem Zimmer nicht so alleine ist. Immer wieder bleibt jemand bei ihr stehen, spricht mit ihr. Doch Frau Peters reagiert nicht darauf. Im Haus riecht es jetzt nach Mittagessen.
Was zählt ist nur der nächste Löffel Essen
Frau Peters muss gefüttert werden und zum ersten Mal an diesem Tag weiß ich, was zu tun ist – ohne dass man es mir sagen muss. Gerüche sind ausgeblendet, Gefühle auch. Was zählt ist nur der nächste Löffel Essen, der nächste Schluck Trinken. Einer nach dem anderen, immer wieder anbieten, abwarten. Geduldig sein, nicht drängen. Weiter probieren, ermuntern. Mund abwischen, Nachtisch anbieten. Und dabei reden, ganz normal, wie mit einem Erwachsenen.
Über das Wetter, das Essen, den anstehenden Urlaub. Und die Kinder. Ich frage Frau Peters, ob sie auch Kinder hat. Es ist eine rhetorische Frage, wie sollte sie mir schon antworten? Und dann tut sie es plötzlich. Sie hört auf, hin und her zu wippen. Hört auf, Laute zu schreien. Hört auf, ins Leere zu starren. Ein kurzer Moment nur, in dem sie Blickkontakt aufnimmt, lächelt, nickt. Worte spielen keine Rolle. Ich verstehe sie auch so.
Der Rest des Tages verschwimmt in der Erinnerung, verliert an Bedeutung. Was am Ende bleibt, ist nicht der Geruch. Sondern das Gefühl. Ein Gutes.
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