Hamburg. Begegnungen mit neuen und gereiften Fans der Rolling Stones: Schwärmereien, viel Nostalgie und alte T-Shirts.
Der Rock-’n’-Roll-Knigge empfiehlt: Zieh dir niemals ein T-Shirt der Band an, deren Konzert du gerade besuchst – es sei denn, es handelt sich um eine Rarität. So wie das mürbe T-Shirt, das Lisa (27) aus Hamburg trägt, das sie von ihrem Vater bekam, der es 1995 in Prag gekauft hatte, als die Rolling Stones auf ihrer „Voodoo Lounge“-Tour im Strahov-Stadion auftraten. Dieser Auftakt zur „No Filter“-Tour im Hamburger Stadtpark sei ihr erstes Rolling-Stones-Konzert, sagt Lisa, „aber ich bin von meinen Eltern mit den Stones sozialisiert worden.“ Und obwohl sie normalerweise andere populäre Musik konsumiert, „möchte ich irgendwann auf meiner Hochzeit die Stones hören, vor allem ihre alten Sachen.“ Also „(I Can’t Get No) Satisfaction“ oder „Gimme Shelter“ oder „Under My Thumb“ „Paint It Black“ oder „Jumpin‘ Jack Flash“ oder „Sympathy For The Devil“ oder ... Es sind immer dieselben zwei Dutzend Songs aus der kreativsten Phase der Band zwischen 1964 und 1975, die fest im Musikgedächtnis verankert sind.
Marus und Marianne van Gent und ihre Freundin Jeanne aus Den Haag können jeden dieser Songs mitsingen, bis zur letzten Strophe. Die Niederländer, alle um die 65, reisen ihren Idolen seit vier Jahrzehnten nach, sie waren auch auf dem Konzert in Havanna 2016 mit einer halben Million Menschen. „Die Stones pflegen ja einen so aufregenden Lebensstil“, sagt Marus, „deshalb wurden sie Teil unseres Lebens.“
82.000 Fans kamen zum Rolling-Stones-Konzert in den Stadtpark
Lisa wiederum, Einkäuferin in der Modebranche, und ihre Freundin Sonja (28) aus Osnabrück, drücken den Altersdurchschnitt der 82.000, die zum ersten Open-Air-Konzert im Stadtpark seit 28 Jahren auf die Festwiese pilgern, nur leicht nach unten. Denn die meisten Besucher sind etwa zwischen Ende 40 und Anfang 70, ignorieren den „Knigge“, tragen das Markenzeichen der Band – die ausgestreckte rote Zunge – stolz auf der Brust und so manche Bierdose in der Hand. Wie Fußballfans auf dem Weg ins Stadion.
Als um 14 Uhr die Eingänge zum Konzertgelände geöffnet werden, regnet es wieder kräftig. Der Rasen verwandelt sich binnen kurzer Zeit in seifigen Morast, auch die Bodenplatten zum Schutz des Untergrunds auf der „Fressmeile“, sind rutschig. Aber es sind nicht nur die Schietwetter-erprobten Hamburger, die dem Wasser von oben und dem Modder von unten trotzen. Stoische Ignoranz ist wohl doch eine gesamtdeutsche Charaktereigenschaft. Auch Traudl, die mit ihrem jüngeren Bruder Martin aus Stuttgart angereist ist – sie ist 60, er 58 Jahre alt – ist der Regen schnurzpiepe. Sie ist Open-Air-Konzert-gestählt, was sie mit ihrem „Wacken 2017“-Shirt unter der Lederjacke regelkonform demonstriert. Die Rolling Stones hat sie zum ersten Mal 1976 auf der Bad Cannstatter Wasen erlebt, damals noch mit Tina Turner im Vorprogramm, für 22 D-Mark Eintritt. Seitdem folgt auch sie den alterslosen Bluesrock-Legenden, so häufig es geht. „Die Musik“, schwäbelt sie, „die ist halt sehr beständig.“ Eine charmante Beschreibung des milliardenschweren Erfolgsrezepts, alte Songs und Gefühle immer wieder und immer wieder neu zu verkaufen. Genau dafür wird die Band jedoch von ihren Fans wie Traudl geliebt.
Plastikbecher des Stones-Konzerts werden als Andenken mitgenommen
Aber sie muss noch rasch zwei Eintrittskarten von ihren Freunden loswerden, die kurzfristig erkrankt sind. Stehplätze für jeweils 103 Euro. Traudl ist im Gegensatz zu den professionellen Schwarzhändlern natürlich nicht auf Profit aus, Ehrensache, sondern sie macht ein paar Minuten später ein jüngeres Pärchen glücklich. Patricia und Carlos, 26 und 27 Jahre alt, sind auf Verdacht aus Berlin angereist, wo sie als Personal-Coach arbeitet und er als Ingenieur. Beide stammen aus Brasilien, ihre Eltern hätten schon immer die Rolling Stones gehört, sagen sie, „aber das ist jetzt wohl die letzte Chance, sie noch mal live zu erleben.“ Das beweist, dass ein Nimbus in die nächste Generation vererbt werden kann. Es beweist aber auch, dass „ausverkauft“ nicht automatisch ausverkauft bedeutet (kurz vor 19 Uhr werden die letzten Tickets weit unter dem Normalpreis verschleudert).
Zwischen 14 und 16 Uhr haben die Veranstalter eine „Happy Hour“ ausgerufen. 0,4 Liter Pils kosten drei statt 5,50 Euro, 0,3 l Merlot ebenfalls nur drei statt 7 Euro. Das Pfand ist mit 3 Euro pro Plastikbecher happig, aber viele Fans wollen sie trotzdem als Andenken bewahren. Manche bitten am Ausschank sogar „um einen gelben und um einen roten“ und halten damit den Verkehr auf. Aber niemand wird ungeduldig, so wie auch vorhin bei der peniblen Taschenkontrolle am Eingang nicht. Alter meint wohl auch mehr Gelassenheit.
Einige Food Trucks bieten während der Happy Hour ausgewählte Speisen zum Einheitspreis von 5 Euro an – von Spanferkel-Variationen, Suppen und Chili con Hirsch, Burger, Pasta, Thai-Food und chinesische Bratnudeln, Salate und Süßkartoffel-Pommes frites bis hin zur Krakauer im Brötchen, die ebenfalls 5 Euro kostet. Aber die Standgebühren sollen ja auch horrend sein, doch wird darüber nicht gesprochen.
Wer einen Sitzplatz auf der Fressmeile ergattert hat, verteidigt ihn, obwohl es noch einmal knüppeldick von oben kommt. Hauptsache, das Bier verwässert nicht. Als dann aber um 16.53 Uhr der Himmel wie vorhergesagt aufreißt, bricht Jubel unter den Konzertbesuchern aus, die sich sofort ihre dampfenden Regencapes hinunterstreifen. Die Stones seien übrigens älter als die Sonne, scherzt der Zeremonienmeister vorm Eingang, als jetzt der wahre Run beginnt. Nur noch jeder zweite U-Bahn-Zug stoppt an der überfüllten U-Bahn-Haltestelle Borgweg, die Saarlandstraße muss als Ausweich-Haltestelle dienen. Die drei Fahrrad-Parkplätze draußen für rund 14.000 Räder sind dagegen wegen des Wetters verwaist. Vor den Verkaufsständen und den Chemie-Toiletten bilden sich erste Warteschlangen, vor den Verkaufsstellen für Devotionalen wird sogar sanft gedrängelt. Die Preise sind gesalzen, T-Shirts kosten ab 35 Euro, Caps 30, Sweatshirts 80, gekauft wird trotzdem wie blöd. „Man denkt ja immer, das sei ihr letztes Konzert“, sagt Haig Pöschla (49), der mit seiner Tochter Patricia (20) und seinem Freund Uli Mietke (59) aus dem Spreewald nach Hamburg angereist ist. Die Rolling Stones und die DDR, das sei eine ganz besondere Verbindung gewesen, meint Pöschla, „das war Freiheit pur. Die Club-DJs haben dann eben ‚Maik Jäger und die Rollenden Steine‘ aufgelegt, wenn die Stasi vorbeischaute.“
25 Personen kamen ins Krankenhaus
Einmal sagte Mick Jagger: „In fünf Jahren fahren wir höchstens noch im Rollstuhl auf die Bühne.“ Das war im Jahre 1964, während ihrer ersten USA-Tournee. Er irrte: 53 Jahre später, um 20.29 Uhr, klingen die Kongas zum Beginn von „Sympathy For The Devil“ über die Festwiese – unter einem fast wolkenlosen Himmel, dem sich jetzt Tausende Hände entgegenstrecken. Mit einem Handy, selfiebereit. „Das ist eben der Unterschied zu früher“, seufzt Haig Pöschla, der schon 1990 in Ostberlin dabei war, „wir haben damals bloß geklatscht.“
Die Veranstaltung am Sonnabend verlief friedlich. Die Feuerwehr gibt an, dass der Rettungsdienst des DRK 168 Hilfeleistungen vor Ort gezählt hat. Zudem seien insgesamt 25 Personen ins Krankenhaus befördert worden.