Die Rolling Stones zelebrierten beim begeisternden Auftakt ihrer „No Filter“-Tour vor 82.000 Zuschauern Hits, Humor und Überraschungen

Moin, Hamburg!“, ruft Mick Jagger den 82.000 Fans auf der Festwiese im Stadtpark zu. Später wird er fragen, ob auch Pinneberger anwesend sind, sich mit einem breiten Lächeln darüber freuen, „nach zehn Jahren endlich wieder“ in Hamburg zu spielen, und einen „Hummel, Hummel“-Gruß in die Nacht schicken. Dies sei ein guter Ort, um eine Karriere zu starten, sagt er, – hätten ihm jedenfalls alte Freunde aus Liverpool berichtet. Zwinker, Zwinker.

Andere Bands brauchen diese Art von Animation, um das Publikum auf ihre Seite zu ziehen, bei den Stones ist es nur das Sahnehäubchen für einen Konzertabend, von dem nicht nur in Hamburg (und Pinneberg) noch lange gesprochen werden wird. Ein Abend, der die schweren Regengüsse des Nachmittags schnell in Vergessenheit geraten lässt und sogar die extrem hohen Ticketpreise für Topplätze direkt an der Bühne relativiert.

Fans besteigen Klohäuschen, um besser sehen zu können

Mit dem Bluesrock der isländischen Band Kaleo hatte der Abend schon mal sehr ordentlich begonnen, doch natürlich wartet hier, in diesem binnen weniger Tage errichteten Stadion, alles auf Jagger und Co. Als um 20.30 Uhr rötliche Nebelschwaden von der riesigen Bühne aufsteigen und die ersten Takte von „Sympathy For The Devil“ erklingen, leuchtet der Band ein Meer aus Handy-Displays entgegen. Diesen historischen Moment, den Start der Europatournee 2017, will fast jeder einfangen. Dank gigantischer Monitorwände lässt sich das Bühnengeschehen auch noch im hintersten Winkel des Areals in HD-Qualität verfolgen, der Sound ist brillant, die Party kann beginnen. „It’s Only Rock ’n’ Roll (But I Like It)“, singt Jagger, aber was heißt hier only? In diesen Stunden zählt ja überhaupt nichts anderes als der Rock ’n’ Roll. Auch auf den Sitzplatztribünen stehen alle, tanzen, singen mit, erste Fans besteigen die Klohäuschen, um einen noch besseren Blick zu haben.

„Out Of Control“, der vierte Song der Show, gerät der Abend aber nie. Im Gegenteil: Vor allem Mick Jagger hat die volle Kontrolle und auch mit inzwischen 74 Jahren eine Körperspannung und Energie, die staunen lässt. Wenn er über die Bühne stolziert, zieht er die Blicke magisch an, ob in silberner Glitzerjacke oder langärmligem Band-T-Shirt. Ein Menschenfänger wie eh und je, da mag sein Gesicht auch noch so zerfurcht sein. Mit Keith Richards, diesem immer leicht weggetreten wirkenden Stoiker, an der Gitarre und dem tendenziell hyperaktiven Ron Wood an Gitarre Nummer zwei stehen weitere Rock-Unikate auf der Bühne. Und dann ist da ja auch noch Schlagzeuger Charlie Watts, im weißen Hemd und mit verbindlichem Lächeln so etwas wie der akkurate Gegenpol zum sonst regierenden Rock-’n’-Roll-Wahnsinn, das gentlemanlike Rückgrat der Band.

Ein bisschen Hilfe brauchen aber auch die Stones, weshalb sie schon lange mit einer exzellenten Backing-Band inklusive Bläsergruppe und Sängern auf Tour gehen. Alle werden sie von Jagger vorgestellt, zwei von ihnen bekommen einen besonderen Moment im Rampenlicht: Bassist Darryl Jones mit einem funky Solo bei „Miss You“, das auch Ron Wood beklatscht, Sängerin Sasha Allen im dramatischen Duett mit Jagger bei „Gimme Shelter“.

Natürlich könnten die Rolling Stones schlicht zwei Dutzend Hits aneinanderreihen, doch der Abend folgt einer anderen Dramaturgie. Im ersten Teil gibt es nicht nur ein Blues-Doppelpack („Just Your Fool“ und „Ride ’Em On Down“), sondern auch zwei echte Raritäten: das seit Februar 1990 nicht mehr live gespielte „Play With Fire“ und „Dancing With Mr. D.“, das seit Oktober 1973 auf keiner Setlist stand. Ein Traum für Hardcore-Fans. Auch für die, die in Internetforen und über Social-Media-Kanäle in aller Welt dem Hamburger Geschehen per Liveticker folgen. Wer später in Zürich, Barcelona, Kopen­hagen oder Paris dabei ist, ist einfach neugierig, was da in ein paar Wochen auf ihn zurollt.

Garantiert auch eine Klassiker-Vollbedienung, zu der im Stadtpark „Under My Thumb“, „Paint It Black“, „Honky Tonk Women“, „Street Fighting Man“, „Start Me Up“ und „Brown Sugar“ gehören. Besonders spektakulär: eine ekstatische Version von „Midnight Rambler“, die trotz Überlänge viel zu schnell endet. Und dann muss natürlich der Song mit den wahrscheinlich legendärsten Riffs der Rockgeschichte kommen: „Satisfaction“. Für viele im Publikum dürfte das der Sound der eigenen Jugend sein, der in seligen Erinnerungen schwelgen lässt, doch die Stones funktionieren auch generationenübergreifend, wie die gemeinsam angereisten Familienverbände zeigen, die sich an einem der zahlreichen Merchandise-Stände mit einigermaßen kostspieligen Erinnerungs-T-Shirts (ab 35 Euro) oder Tour-Caps (30 Euro) eindecken.

Als um 22.50 Uhr die letzte Zugabe „Jumpin’ Jack Flash“ verklungen ist und die Band sich Arm in Arm von den 82.000 verabschiedet, gibt es noch ein kleines Abschiedsfeuerwerk. Dass es sehr klein ausfällt, stört aber vermutlich niemanden. Das ganz große Feuerwerk haben ja alle bereits in den vergangenen zwei Stunden und 20 Minuten erlebt.

Ein denkwürdiger Abend.