Hamburg. G20-Krawalle, Anschlag in Barmbek, das MegaKonzert der Stones: Hamburgs oberster Polizist steht im Fokus wie nie. Was treibt ihn an?
Kurz nach sechs Uhr, Ralf Martin Meyer (57) hat kaum drei Stunden geschlafen, aber der Wagen rauscht schon wieder in Richtung Präsidium. Da reicht ihm ein Mitarbeiter die erste Meldung. Durch Altona zieht ein Pulk Vermummter. Bald stehen Rauchsäulen über der Elbchaussee. Der Mob tobt. Dann ruft Angela Merkel an. Ob der Polizeipräsident die Lage noch im Griff habe. „Man ist erfahren genug, zu wissen, was so eine Situation bedeutet“, sagt Ralf Martin Meyer.
Anderthalb Jahre hat sich die Polizei auf diesen Tag, den ersten des G20-Gipfels, vorbereitet. Und verliert schon zur Frühstückszeit erstmals die Kontrolle.
Zwei Monate nach dem Gipfel bleibt der Druck
Im Büro von Ralf Martin Meyer bricht sich das Sonnenlicht an den Fenstern, fünfter Stock, Traumausblick, es sind jetzt zwei Monate seit dem Moment vergangen. Der Druck ist geblieben. Nur zwei Wochen nach dem G20-Gipfel kam die Bluttat von Ahmad A. in einem Edeka in Barmbek. Dann Sondersitzungen im Parlament zu beiden Ereignissen, Meyer räumte zwar Fehler ein. Aber im Großen und Ganzen habe man richtig gehandelt.
Wer ihn kennt, sagt, dass der Polizeipräsident sich praktisch nie verstellt. Draußen im Flur hängen die Fotos seiner Vorgänger, meist doggenhafte Kerle mit großen Brillen. Ralf Martin Meyer ist ein drahtiger Mann, das Jackett sitzt perfekt, sein Lächeln ist warm. Ein Managertyp, wie ganz oben im Präsidium noch keiner saß. Mit drei Jahren Amtszeit nun bereits länger als viele andere.
Die nächsten Wochen und Monate könnten über seine Karriere entscheiden. Noch immer steht der Verdacht im Raum, die Polizei habe bei G20 wie bei Ahmad A. die Gefahren genau gekannt – aber nicht genug unternommen, die Bevölkerung im Stich gelassen.
Er hat sogar über einen Rücktritt nachgedacht
Meyer sagt, dass er selbst über einen Rücktritt nachgedacht habe: „Bei G20 ging mir der Gedanke durch den Kopf“. Aber es hätte sich wie ein Nachgeben angefühlt, nicht wie das Richtige. „Man kann sich doch nicht auf der Brücke davonmachen, wenn einmal ein Sturm tobt“, so sieht er das. Meyer kämpft, er will weitermachen, in die einzige Richtung denken, die er kennt. Nach vorn.
Im Präsidium ist der Rückhalt für Meyer weiter groß
Auf dem Tisch liegen Unterlagen, die Vorbereitung auf den Sonderausschuss zu G20 in der Bürgerschaft läuft. Unten im Präsidium sind 80 Beamte damit beschäftigt, tischhohe Berge von Unterlagen zu kopieren, zu Akten zu bündeln. Die Aufarbeitung frisst so viel Energie, dass die alltägliche Polizeiarbeit leidet – und Ereignisse wie das Konzert der Rolling Stones nebenbei gestemmt werden. Der Apparat ist im Abwehrmodus, auch für seinen Chef. Polizisten sagen, dass „schreiend ungerecht“ wäre, wenn Meyer gehen müsse. Der „Präsi“ ist einer von ihnen, fast jeder glaubt, ihn zu kennen.
Er hat sich diesen Ruf erarbeitet, nur der Anfang war Zufall. Ralf Martin Meyer kommt aus einer Kleinstadt in der Südheide, zwei Kumpels wollten damals nach dem Abitur zur Polizei nach Hamburg. „Dann probiert man das eben mal aus, eine Alternative war noch nicht vorhanden“, sagt Meyer.
Er hat einen unstetigen Unternehmer als Vater; mit 18 Jahren muss Meyer damals mit Banken verhandeln, um das Wohnhaus seiner Familie zu retten. Bei der Polizei findet er, was er sucht: einen Platz, um Verantwortung zu übernehmen. Seine Karriere läuft schnell und stetig. Erst Beamter in Winterhude und Uhlenhorst, dann bei der Kripo auf St. Pauli. Es ist die große Zeit der Gangster, Luden und Killer auf dem Kiez. „Wir haben uns abends sozusagen die Waffe umgeschnallt und sind losgegangen.“ Angst habe er nie gehabt. „Ich fand das immer spannend.“
Viel Lob auf dem Karriereweg
Der junge Polizist baut sich ein Netzwerk auf, macht Sport und knüpft Kontakte. Mal sucht Meyer gezielt die nächste Sprosse auf der Leiter, mal wird er hochgezogen. Beim Mobilen Einsatzkommandos (MEK) sehen sie in ihm einen Rohdiamanten. „Der Meyer ist ein Analytiker – und ein Bauchmensch, wenn es sein muss“, sagt ein Polizist. Jedenfalls scheut er sich nicht vor Entscheidungen. „Wenn jemand in eine so professionelle Einheit nicht hineinpasst, muss er sich anpassen. Oder eben gehen“, sagt Meyer. Bei sehr heiklen Einsätzen komme es besonders stark auf jeden Einzelnen in der Gruppe an.
Er spricht jetzt wie der Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens. Aber trifft damit genau den Geist seiner Leute. Die Kette bricht an der schwächsten Stelle. So sehen das die allermeisten Beamten auf der Straße. Und so sieht Meyer bis heute seine Aufgabe als Polizeipräsident: „Ich gucke von ganz oben mit dem Adlerblick drauf, identifiziere Schwachstellen – und behebe sie.“
Der Karrieremann musste die eigene Angst überwinden
Eine der Gefahren steckt im eigenen Kopf. Beim MEK, das Meyer von 1998 an für sechs Jahre leitet, sind auch Traumata an der Tagesordnung. „Etwa den finalen Rettungsschuss bei einer Geiselnahme zu setzen ist unglaublich belastend. Ich war in diesen Situationen“, sagt er. Meyer wird später zum Pressesprecher der Polizei befördert, während Wegbegleiter schon wegen psychischer Störungen außer Dienst sind. Nach einem Erlebnis mit einem Toten war Meyer selbst einmal von einer solchen Krankheit betroffen. Eine Art Belastungsstörung.
Aber Meyer ging damit um, wie er es stets macht: Er nahm sich der Sache an, um sie in den Griff zu bekommen. Es nütze fast nie, zu lamentieren, sagt Meyer. Aus jeder Krise könne eine Chance wachsen. Sein Bruder und seine Mutter starben bei Autounfällen, auch das hat keine sichtbaren Narben hinterlassen. Im Gegenteil: Meyer spricht offen über seine Brüche, selbst mit Beamten und Journalisten, die er kaum kennt.
Manchmal schwingt Stolz auf die eigene Offenheit mit. Sie öffnet ihm Türen. Er weiß, dass ihn niemand für einen Schwächling hält.
Einmal fiel er doch in Ungnade
Im Präsidium kennen viele die Geschichte, als Meyer beim damaligen Polizeipräsidenten Wolfgang Kopitzsch in Ungnade fiel. Statt ihn wie erhofft zum Chef des Landeskriminalamtes zu machen, schickt Kopitzsch Meyer im Jahr 2012 an die Akademie. Sie gilt zu der Zeit als Endlager für ausrangierte Beamte. Meyer übernimmt ein Projekt, das vier Monate im Verzug ist. „Das wäre der Punkt gewesen, um sich beleidigt zurückzuziehen“, sagen Wegbegleiter.
Doch Meyer geht sofort an die Arbeit, bringt seine Truppe in die Spur und das Vorhaben zu Ende – fristgerecht. Als Kopitzsch im Jahr 2014 abdanken muss, steht Meyer ganz oben auf der Liste der Nachfolger. Es ist auch der Sieg des Netzwerkes, das Meyer umgibt. Man findet niemanden, der schlecht über ihn reden möchte. Das liegt nicht nur an seiner Person. Ein Beamter sagt: „Bevor wieder eine Politikernase ganz oben sitzt, folgen wir einem echten Polizisten bis ins tiefste Tal.“
Er habe damals überlegt, das Amt anzunehmen, so kurz vor der Spitze, sagt Meyer. Das Gewicht des Amtes kann einschüchtern. Aber er sagte zu. Polizisten seien manchmal verrückt, glaubt Meyer, er sieht kurz aus dem Fenster. „Bei absehbarer Gefahr und Belastung ist der Wunsch da, unbedingt dabei zu sein“ – das habe man bei G20 gesehen. Vielleicht brachte dieser Wahnsinn auch Meyer erst ganz nach oben.
In der Polizei sieht man kaum eigene Fehler
Am Sonntag nach dem G20-Gipfel haben sie im Präsidium zur Pressekonferenz geladen, Kameras klicken, der Saal quillt über. Der Bürgermeister starrt glasig in die Luft, Polizeipräsident Meyer sitzt da mit dem scharfen Blick einer Katze. Sagt Dinge wie: „Wir können die Stadt nicht mit Polizei vollstellen.“ Die Fragesteller springen auf und sprechen von Staatsversagen, aber Meyer nimmt in 90 Minuten nicht einmal das Wort „Fehler“ in den Mund. „Der tritt nicht zurück. Der ist nur genervt“, tuschelt ein Journalist.
Auf dem Präsidialflur haben sie ihren eigenen Blick auf die Realität. Kein Staatschef musste notoperiert und keine Sitzung abgebrochen werden. Das war die große Furcht gewesen. Eine Blamage vor den Augen der Welt. Dagegen ist der jetzige Sturm auszuhalten. Und die Kritik sei ohnehin oft politisch motiviert.
Nach dem Gipfel sprach Meyer wieder mit Angela Merkel. Gut gemacht, sagte sie. Zum Fall des Barmbeker Attentäters sagt Meyer, man habe daraus gelernt. Er macht mit der Hand einen Bogen, ein umgelegter Schalter. Fall abgeschlossen. Als wäre das so einfach.
Ob die Freude am Job noch überwiege? Ja, sagt Ralf Martin Meyer. Seine Frau Rita ist seit den 70er-Jahren an seiner Seite, er lernte sie in der Dorfdisko kennen. „Ich habe aber lernen müssen, dass man nicht selbst auf sich rumtrampeln darf“, sagt Meyer. Nach der Tat von Barmbek fuhren sie in den Urlaub.
Es sind noch einige Wochen, bis der Sonderausschuss die Arbeit aufnimmt. Meyer fällt dazu zuerst ein, wie belastend die vielen Fragen der Abgeordneten für die Polizei seien. Erst dann verspricht er volle Transparenz.
Die Pläne, die für ihn zählen, liegen woanders. Mehr Einbrüche aufklären. Die Polizei digital machen. Meyer streckt sich zum Schreibtisch, holt einen Zettel mit Aufklärungsquoten und liest vor. Er klingt beseelt. Ralf Martin Meyer scheint fest zu glauben, dass dieser Sommer nur eine Delle in der Straße war.