Bahrenfeld/Schenefeld. Heute Eröffnung mit 800 Gästen. Wer die Menschen hinter der Maschine sind und wie das riesige Messinstrument funktioniert.
Kalifornien mit seinen Stränden, dem sonnigen Wetter und seinem Hab-Spaß-Lebensgefühl – wer würde das aufgeben für einen Job im schleswig-holsteinischen Schenefeld, 15 Meter unter der Erdoberfläche, umgeben von Monitoren und einer Kaffeemaschine, durch die Fenster des Büros auf eine Halle mit Schränken und Betonsäulen blickend?
„Ich könnte an keinem besseren Ort sein“, sagt Adrian Mancuso.
Der 39-Jährige trägt Vollbart, Shorts und ein blaues Kurzarmhemd mit einem Muster aus kleinen weißen Fischen, das zu den grauen Räumlichkeiten unter Tage in etwa so gut passt wie ein Laborkittel zur Cocktailbar am Meer. Bis 2007 arbeitete Mancuso in Los Angeles, davor in Melbourne. „Ich vermisse die Sonne, und ich vermisse meine Heimat“, sagt der gebürtige Australier. „Aber manchmal muss man mutig sein und es darauf ankommen lassen.“
Mancuso ist Physiker, sein unterirdisches Büro ist ein Kontrollraum: für ein Instrument, das nebenan in einer Hütte steht, die zum Schutz gegen Strahlung mit Wänden aus Blei verkleidet ist. SPB/SFX heißt es, ein aus glänzenden Metallteilen, Elektronik und Kabeln zusammengesetztes Unikat mit einer Probenkammer als Herzstück, in die man durch Bullaugen hineinschauen kann.
Dort treffen Lichtblitze ein, die für den Bruchteil einer Billionstel Sekunde heller sind als das gesamte Sonnenlicht, das im gleichen Zeitraum die Erde erreicht. Das geschieht bis zu 27.000-mal pro Sekunde, konzentriert auf einen Punkt, der zehnmal kleiner ist als der Durchmesser eines Haares.
Es ist eine Disco der ganz besonderen Art. Im Blitzlicht des Geräts sollen sich haufenweise Tänzer tummeln – allerdings zu Forschungszwecken. Sie sind derart klein und flink, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen und mit einer gewöhnlichen Kamera nicht ablichten kann. Ein winziger Fleck, etwa der Punkt auf diesem i, bietet etlichen Millionen von ihnen Platz.
European XFEL – der Traum vom "Molekül-Kino"
Es geht um Atome, die Bausteine aller Materie. Wenn diese Teilchen sich bei chemischen Vorgängen zu Molekülen zusammenfinden, geschieht das etwa eine Billion Mal schneller als der Flügelschlag des Kolibris. Nun sollen viele gute Aufnahmen von solchen Vorgängen gelingen – mithilfe von extrem intensiven und kurzen Blitzen, die die Teilchen schneller ablichten, als sie sich bewegen können. Aus den Einzelaufnahmen lassen sich dann Filme zusammensetzen.
Erzeugt wird das Licht für die Aufnahmen vom stärksten Röntgenlaser der Welt. European XFEL heißt die Blitzmaschine, die ihre Strahlen in Mancusos Kammer schickt. Sie ist Riesenmikroskop und Hochleistungskamera in einem. Untergebracht in einem Tunnelsystem sechs bis 38 Meter tief im Untergrund, reicht das Instrument vom Forschungszentrum Desy in Hamburg-Bahrenfeld bis zu einem Gewerbegebiet mit Autohäusern und Werkstätten im Örtchen Schenefeld in Schleswig-Holstein.
Champagnerkorken zeugen von der Feier
Dort endet die Maschine in jener unterirdischen Halle, in der Adrian Mancuso an der ersten von sechs geplanten Experimentierstationen steht. Mancuso und sein 22-köpfiges Team – Physiker, Chemiker, Strukturbiologen, Ingenieure und Techniker aus 15 Ländern – haben die Disco-Kammer konstruiert. Sie sollen dafür sorgen, dass Forscher die Station optimal nutzen können.
Was war nicht alles schiefgelaufen bis hierhin. „Wichtige Bauteile wurden nicht pünktlich geliefert, andere Teile passten nicht genau“, erzählt Mancuso. „Aber meine Leute sind zum Glück Experten darin, unter Zeitdruck eine Lösung zu finden.“
Am 23. Juni jubelten sie. Auf einem Monitor im Kontrollraum leuchtete ein roter Punkt auf, kaum größer als ein Daumenabdruck. Es hatte tatsächlich funktioniert: Der erste Röntgenlaserstrahl war in ihrer Experimentierstation angekommen. An der Wand des Kontrollraums hängen Abbildungen von diesem Signal. Auf den obersten Bildrahmen hat jemand vier Champagnerkorken von der Feier an diesem Tag gelegt.
Nun, zwei Monate später, ist das Messgerät in der Hütte bereit für die ersten Studien mit dem European XFEL. „Soweit man darauf vorbereitet sein kann“, sagt Adrian Mancuso.
Biochemiker wollen Proteinfaltung beobachten
Der riesige Röntgenlaser im Untergrund soll ein Multitalent sein. Infektionsforscher etwa wollen mit dem Gerät erkunden, wie genau krankheitserregende Viren unsere Zellen manipulieren und wie Medikamente dagegen wirken könnten.
Biochemiker möchten Proteine ins Visier nehmen. Tausende verschiedene dieser Eiweiße wirken in unserem Körper; sie geben den Zellen Form und Halt, ermöglichen chemische Reaktionen, vermitteln Signale. All das machen Proteine aber nur, nachdem sie sich zu einer bestimmten dreidimensionalen Gestalt gefaltet haben. Falsch gefaltete Proteine lagern sich zu Klumpen zusammen, was wahrscheinlich zur Entstehung von Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson beiträgt. Den Start der Proteinfaltung soll der Röntgenlaser beleuchten.
Das geplante „Molekül-Kino“, wie einige Forscher es nennen, ist eine computergestützte Rekonstruktion der Wirklichkeit. Um die Struktur von Biomolekülen zu entschlüsseln, spritzen die Forscher Teilchen in einer Flüssigkeit in die Probenkammer. Jedes Mal, wenn ein Lichtblitz zum Beispiel einen Proteinkristall trifft, entsteht ein Streubild, das ein Detektor aufnimmt. Aus Millionen von Streubildern lässt sich ein dreidimensionales Abbild der Probe errechnen – im Idealfall bis zum einzelnen Atom.
Aufschlussreiche Bilder aus Experimenten mit dem Röntgenlaser erhoffen sich auch Forscher, die Biotreibstoffe herstellen wollen – nach dem Vorbild der Fotosynthese. Bei diesem Prozess wandeln Pflanzen mithilfe des Sonnenlichts Wasser und Kohlendioxid in Zucker und Sauerstoff um. Um Teile dieses Prozesses nachzuahmen und mit Licht aktivierbare Moleküle zu entwickeln, die aus Wasser Wasserstoff herstellen können, müssten die molekularen Details der Fotosynthese bekannt sein. Forscher um den Hamburger Christian Bressler erforschen hierzu schon vereinfachte Systeme mit diesen Röntgenmethoden.
Außerdem auf der Experimentier-Agenda: Wie lassen sich kleinere Datenspeicher, stärkere Akkus und effizientere Katalysatoren konstruieren? Auch die hier zugrunde liegenden Prozesse haben damit zu tun, wie sich winzige Teilchen verhalten.
Selbst Astrophysiker werden die Blitzmaschine nutzen, sobald eine Experimentierstation namens HED fertig ist. In dem Gerät sollen Laserstrahlen extreme Materiezustände erzeugen, wie sie vermutlich im Inneren von riesigen Gasplaneten und Sternen herrschen.
Betriebsausflug des Senats zur Experimentierhalle
Der Röntgenlaser ist so groß und teuer, dass kaum ein einzelnes Land in der Lage gewesen wäre, ihn zu errichten. Was zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein in den Untergrund gebaut wurde, ist deshalb auch ein Symbol dafür, wie sehr Wissenschaft von internationaler Kooperation abhängt.
Um den Tunnel und den Röntgenlaser zu bauen und in Betrieb zu nehmen, haben mehrere Tausend Menschen acht Jahre lang zusammengearbeitet. Elf Länder haben gemeinsam die 1,5 Milliarden Euro aufgebracht, die das europäische Forschungsgerät kostet.
Sogar Großbritannien wird der Gemeinschaft bis zum Jahresende beitreten, trotz Brexits. Auch Russland mischt mit, als zweitgrößter Geldgeber hinter Deutschland, obwohl die politischen Beziehungen zur EU erkaltet sind.
Um „Strahlzeit“ bewerben können sich Wissenschaftler aus aller Welt. Aber nur ein kleiner Teil der Interessenten wird die Riesenkamera nutzen dürfen. Das Interesse sei groß, heißt es von den Betreibern. Insofern darf man nicht zwingend schon sehr bald viele Durchbrüche auf Gebieten der Grundlagenforschung erwarten. Zügiger vorangehen als bisher sollte es jedoch allemal. Mit dem bisher stärksten Röntgenlaser der Welt, dem LCLS in Stanford (Kalifornien), erzeugen Forscher 120 Lichtblitze pro Sekunde. Der European XFEL soll mit bis zu 27.000 Blitzen pro Sekunde fast 230-mal so viele Lichtpulse erzeugen. Damit sollen sich Messungen in wenigen Tagen bewältigen lassen, die in Stanford heute Wochen dauern.
Wie gut das Gerät wirklich funktioniert, muss sich zwar erst noch erweisen. Die European XFEL GmbH überschreibt eine Imagebroschüre trotzdem mit dem Titel „Enlightening Science“. Das kann man wahlweise mit „Aufklärende“, „Erhellende“ oder „Erleuchtende Wissenschaft“ übersetzen.
Große Versprechen.
Senatssitzung in Schenefeld
Ähnlich hohe Erwartungen hegt der Hamburger Senat. Die Hansestadt hat 65 Millionen Euro zu den Kosten für Bau und Inbetriebnahme der Maschine beigetragen. Der Röntgenlaser ist ein Leuchtturmprojekt im Förderkonzept der Stadt für den Forschungscampus Bahrenfeld und das Desy-Gelände. Rund 160 Millionen Euro hat die Stadt in vier Neubauten auf dem Areal gesteckt, darunter etwa das jüngst eröffnete Zentrum für strukturelle Systembiologie (CSSB), in dem Infektionsforscher mit Supermikroskopen und Röntgenlichtquellen die Angriffsmechanismen von Viren, Bakterien und Parasiten untersuchen. Für diese Studien werden die Forscher auch den European XFEL nutzen.
Für die Öffentlichkeitswirkung dieser Strategie ist es da nicht ganz ideal, dass der European XFEL als künftig bedeutendste wissenschaftliche Attraktion der Stadt für die allermeisten Hamburger nicht zu sehen ist, weil er unterirdisch verläuft. Oberirdisch war in geeigneter Lage keine Fläche verfügbar.
Um für Aufmerksamkeit zu sorgen, wirbt die Politik mit großen Worten und Gesten für die Forschungseinrichtung. Hamburg werde mit dem European XFEL zur „Welthauptstadt der Röntgenlichtforschung“, heißt es aus der Wissenschaftsbehörde. Deren Chefin Katharina Fegebank (Grüne) erhofft sich „neue Produkte, neue Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand“.
Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ließ eine der wöchentlichen Sitzungen des Senats in Schenefeld abhalten – und besichtigte anschließend die unterirdische Experimentierhalle. Dabei ging es den Politikern so ähnlich wie vermutlich vielen Nicht-Eingeweihten, die zum ersten Mal von der Röntgenlaser-Forschung hören. Als der Chef der Einrichtung, Robert Feidenhans’l, seinen 20-minütigen Vortrag mit den Worten schloss; „Dann hoffe ich, dass Sie alles verstanden haben“, brachen die Senatoren in schallendes Gelächter aus.
„Untertunnelte“ klagen vor Gericht auf Entschädigung
Lokalpolitisch sorgt das Gerät immer noch für Probleme. Während die Wissenschaftler ihre Untersuchungen unter Tage vorbereiten, herrscht an der Oberfläche wegen des XFEL nicht überall eitel Sonnenschein. So hoffen einige Grundeigentümer, die sich selbst „Untertunnelte“ nennen, dass endlich ihre Klagen vor Gericht zu einem Abschluss kommen.
Bevor die Riesenkamera unter der Erde zwischen Bahrenfeld und Schenefeld gebaut werden konnte, hatten sich von 2010 bis 2012 die beiden Bohrmaschinen „Tula“ und „Ameli“ durchs Erdreich gewühlt, unter Häusern, Straßen und Gärten entlang. Dabei kam es zu Pannen.
So brach beispielsweise zweimal der Boden ein. Im November 2010 klaffte auf einer Pferdekoppel in der Osdorfer Feldmark ein 15 Quadratmeter großes Loch über dem Tunnel. Acht Monate später gab der Boden erneut nach: Dieses Mal im Vorgarten eines Einfamilienhauses an der Luruper Flurstraße. Ein neunjähriges Kind sackte in die Mulde. Es blieb unverletzt.
Einige „Untertunnelte“ wohnen am Grubenstieg in Osdorf. Dort kam es zu Rissen am Außenputz von Häusern, unter denen der Laser-Tunnel hindurchführt. Desy-Chef Helmut Dosch persönlich setzte sich damals mit Betroffenen an einen Tisch, das Desy kam für die baulichen Schäden auf.
Aber noch immer schwelt ein Streit mit der Stadt über eine Entschädigung für den Wertverlust, den Hausbesitzer am Grubenstieg für ihre Grundstücke sehen. Bereits 2005 beauftragten 14 Betroffene einen Anwalt. Übrig geblieben sind neun Verfahren, die beim Landgericht anhängig sind. Ein Termin für die Verhandlungen steht noch nicht fest – im Herbst könnte es so weit sein, heißt es von der Hamburger Kanzlei Steiner & Roloff.
Was schon seit Monaten feststeht, ist der Termin für die Eröffnung des Röntgenlasers. Am 1. September werden in Schenefeld 800 Gäste erwartet. Auf der Rednerliste stehen zwölf Namen, darunter Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU), der Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Andrei Fursenko, und die französische Forschungsministerin Frédérique Vidal. Und dann, so nennen es die Betreiber, soll es leuchten: das „Licht der Zukunft“ – und die Dreharbeiten für das „Molekül-Kino“ sollen beginnen.
Röntgen, Elektronen und Laser – wie passt das zusammen?
Damit am Ende hochaufgelöste Bilder und Filme von Atomen und Molekülen herauskommen, müssen die Komponenten der Anlage perfekt zusammenspielen. Das „X“ im Kürzel XFEL steht für Röntgenstrahlung (englisch „X-ray“), das „FE“ für freie Elektronen und das „L“ für Laser.
Eine Röntgenuntersuchung haben viele Menschen schon mal beim Arzt erlebt. Dabei durchleuchten Strahlen etwa den Ellbogen oder den Kiefer. Die Bilder zeigen, ob ein Knochen gebrochen ist oder sich zwischen den Zähnen eine Karies breitmacht.
Möglich wird das, weil der Körper die Röntgenstrahlung unterschiedlich stark aufnimmt: Ein Knochen lässt weniger Strahlung durch als ein Muskel – deshalb tritt die Struktur des Knochens auf dem Röntgenbild hervor. Die kleinsten Instrumente dieser Art, moderne Zahn-Röntgengeräte, sind kaum größer als eine Schreibtischlampe und kosten einige Tausend Euro.
Elektronen kennt man aus dem Physikunterricht. Das sind Bestandteile der Atome. Die meisten Menschen wissen: Fließen Elektronen durch einen Draht, ist das ein elektrischer Strom. Weniger bekannt: Man kann die Teilchen durch einen Trick auch dazu bringen, Blitze auszustrahlen – und was für welche.
Beim Stichwort Laser denken Science-Fiction-Fans an die „Star Wars“-Filme mit den Jedi-Rittern und ihren Lichtschwertern, andere eher an Laserdrucker oder Laserpointer für Vorträge. In allen Fällen geht es um stark gebündeltes Licht. Laserpointer gibt es als Schlüsselanhänger schon ab zehn Euro – die Kosten für den European XFEL übersteigen eine Milliarde Euro bei Weitem, und das Instrument ist 3,4 Kilometer lang.
Wie passen Röntgen, Elektronen und Laser zusammen? Wer das nachvollziehen will, fährt am besten von der Experimentierhalle in Schenefeld zum Desy-Gelände in Hamburg-Bahrenfeld, also vom Ziel zum Start, und betritt ein graues Gebäude. Schutzhelm an, einen Transponder um den Hals, der den Aufenthaltsort meldet – dann geht es mit einem Aufzug sieben Stockwerke in die Tiefe. Hier unten riecht es nach frischem Beton und Kunststoff. Eine Schleuse führt zum Anfang des Tunnels. Durch ihn könnte ein Kleinlaster fahren – wären an der Decke nicht gelbe Rohre montiert, so dick wie die Stämme von Mammutbäumen. Ein Teilchenbeschleuniger.
Elektronen beschleunigen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit
Winfried Decking (51) und sein Team steuern die Anlage. Der Physiker, in seiner Freizeit ein Segler und Segelflieger, engagiert sich schon seit vielen Jahren für das XXL-Projekt im Untergrund, redet aber immer noch so begeistert darüber wie ein Student, der gerade die Phänomene des Nanokosmos entdeckt. „Das ist ein unheimlich komplexer Prozess, der unheimlich faszinierend ist“, sagt Decking. Er meint die Bändigung der Elektronen.
Die Produktion der Röntgenlaserblitze beginnt damit, dass ein Laserstrahl aus einer Metallplatte Elektronen „herausschlägt“. Dann werden die Teilchen von einer elektromagnetischen Welle gepackt und augenblicklich fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. „Auf ihr reiten die Elektronen wie Surfer“, sagt Decking. Dabei gewinnen sie auf einer 1,7 Kilometer langen Strecke immer mehr Energie.
Anschließend sausen die Teilchen durch einen 210 Meter langen Abschnitt, in dem mehr als 17.000 abwechselnd gepolte Magnete sie zum Slalom zwingen. Dadurch senden die Elektronen laserartig gebündeltes Röntgenlicht aus. Hochpräzise Spiegel leiten dieses Licht weiter in die unterirdische Experimentierhalle in Schenefeld. Weil jedes Elektronenpaket Milliarden Elektronen enthält, ergibt das zusammen die hellsten Röntgenblitze der Welt. So intensive Strahlen kann ein Röntgengerät beim Arzt nicht ansatzweise erzeugen.
Die gewünschten extrem hellen und kurzen Röntgenlaserpulse entstehen allerdings nur, wenn die Elektronen ihre Reise von Hamburg nach Schleswig-Holstein unter außergewöhnlichen Bedingungen antreten: So eng zusammengepfercht, dass die Teilchen kurz davor sind, sich gegenseitig abzustoßen, und die Pakete auseinanderfliegen. Jedes Paket hat etwa den Durchmesser eines Haares. Bis zu 27.000 dieser kugelartigen Gebilde sausen hintereinander pro Sekunde los. „Diesen Prozess so in den Griff zu bekommen, dass keine Störungen auftreten, das ist ein permanenter Tanz auf der Nadel“, sagt Winfried Decking.
Niob leitet elektrischen Strom ohne jede Verluste
Der Widerspenstigen Zähmung hat mit einer komplexen Steuerung zu tun. Das erklärt aber nicht, warum auf der 1,7 Kilometer langen Rennstrecke mehr Teilchen auf hohe Energien gebracht werden können als in jedem anderen Röntgenlaser weltweit. Dazu bedienen sich Decking und sein Team eines ganz besonderen Elements. In den sonnengelben Rohren stecken spezielle Strukturen, die aus dem seltenen Metall Niob bestehen und luftleer gepumpt sind. Durch sie fliegen die Elektronen. Der Clou: Heruntergekühlt auf minus 271 Grad Celsius wird Niob supraleitend, wie Physiker sagen: Es leitet Strom ohne jede Verluste, sodass die gesamte eingespeiste elektrische Leistung auf die Teilchen übertragen wird.
Dafür muss das Niob allerdings hochrein sein. Deshalb wurde es in speziellen Öfen bis zu achtmal umgeschmolzen, um Verunreinigung zu beseitigen. Anschließend wurden 16.000 Niob-Bleche erst gescannt, dann zugeschnitten, gestanzt und zu meterlangen, silbrig glänzenden Röhren verschweißt. 800 dieser sogenannten Resonatoren stecken nun in 96 je zwölf Meter langen Beschleunigermodulen. Gekühlt mit 4,5 Tonnen Helium. Abgedichtet durch 20.000 Vakuumflansche, befestigt mit 160.000 Schrauben. Verbunden durch 2000 Kilometer Kabel.
„Wir haben hier ungefähr zweieinhalb Jahre lang montiert“, sagt Winfried Decking. Sein Blick schweift von den Rohren an der Decke in den Tunnel. Er staunt schon wieder.
Pro Jahr könnten Daten für zwei Millionen DVDs entstehen
Das Staunen nicht verlernt hat auch der britische Biophysiker Henry Chapman (50). Er schaut immer wieder zu Boden, während er redet, stockt, überlegt, trägt einige Gedanken vor, überlegt wieder. Hin und wieder huscht ein Lächeln über sein jungenhaftes Gesicht. Chapman wäre kein erfolgreicher Politiker. Doch er ist einer der Stars unter den Wissenschaftlern, die mit der Riesenkamera arbeiten werden. 2015 erhielt er den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis, einen der wichtigsten Forschungspreise in Deutschland.
Wie Adrian Mancuso arbeitete Chapman früher in Kalifornien, bevor ihn der XFEL nach Hamburg lockte. Nun wird er die Experimentierstation nutzen, die Mancuso und sein Team gebaut haben. Chapman will den Aufbau von Molekülen abbilden, bis hin zu einzelnen Atomen. Warum müssen die Röntgenlaserblitze für seine Arbeit so stark sein? Der Forscher erläutert die Herausforderung am Beispiel eines Teichs mit zwei Steinen in der Mitte. Sie stehen für einzelne Atome. Trifft eine Welle auf die Steine, kräuselt sich das Wasser. „Stehen die Steine zu dicht beieinander, sieht die Kräuselung aus, als komme sie von einem Stein“, sagt Chapman. Er braucht aber die „Signale“ von beiden Steinen.
Ähnlich ist es, wenn Licht mit großer Wellenlänge auf ein Objekt fällt: Dann erscheinen nur große Strukturen scharf – kleinere lassen sich nicht unterscheiden. „Deshalb nutzen wir Röntgenstrahlen, deren Wellenlängen kleiner sind als die Abstände zwischen den Atomen“, erklärt Chapman. Die Wellenlänge des Lichts ist umso kürzer, je mehr Energie es besitzt. Die Energie wächst umso mehr, je länger der Beschleunigungsweg für die Elektronen ist, die das Licht ausstrahlen. Die kleine Version des European XFEL, der Freie-Elektronen-Laser FLASH beim Desy, verfügt über einen 137 Meter langen Teilchenbeschleuniger. Die Rennstrecke des European XFEL dagegen ist etwa zwölfmal länger. Damit erreichen die Elektronen dort etwa zwölfmal mehr Energie.
Der Durchmesser eines Atoms beträgt etwa ein Zehntel Nanometer (0,1 nm) – die Wellenlängen der Röntgenblitze des European XFEL sollen bis zu 0,05 Nanometer klein sein. FLASH erreicht nur Wellenlängen von bis zu 4,2 Nanometern. Das reicht nicht für eine atomare Auflösung.
Die genauesten Spiegel der Welt
Allerdings sind die Röntgenblitze beider Geräte so stark, dass Moleküle beinahe auf der Stelle zerplatzen, wenn die Strahlen sie treffen. Deshalb „fotografieren“, also erwischen die Blitze das Molekül, bevor es auseinanderfliegt – wie der Cowboy Lucky Luke, der seinen Revolver schneller zieht als sein eigener Schatten.
Klappt auch das bei den Experimenten wie geplant, ist es damit für Forscher wie Henry Chapman nicht etwa getan. Sie müssen anschließend aus den Atomaufnahmen sinnvolle Erkenntnisse gewinnen. Bei den Experimenten werden alle sechs Detektoren des European XFEL pro Jahr schätzungsweise bis zu zehn Millionen Gigabyte Daten liefern, so viel wie auf etwa zwei Millionen DVDs passen. „Ich hoffe, wir werden daraus schlau und ertrinken nicht in diesen Datenfluten“, sagt Chapman.
Obwohl die ersten Experimente noch ausstehen, entstehen jetzt schon Pläne fürs nächste Jahr. Adrian Mancuso, der in Hamburg mitunter fröstelnde Australier, tüftelt mit seinen Teamkollegen an technischen Neuerungen. Ab 2018 wollen die Wissenschaftler die Röntgenlaserblitze in ihrer Experimentierstation für Studien mit Biomolekülen noch stärker fokussieren – auf einen Punkt, der nicht zehnmal kleiner ist als der Durchmesser eines Haares, sondern mehr als 100-mal kleiner.
Wenn die gleiche Zahl von Lichtteilchen einen kleineren Punkt trifft, wird dieser Punkt heller. „Dadurch sollten wir bessere Abbildungen von den Proben erhalten“, sagt Mancuso. Erreichen will er das mit zwei Spiegeln aus Japan. Sie lenken das Licht und sind so glatt poliert, dass die Unebenheiten auf ihren Oberflächen maximal einen Nanometer groß sein sollen, einen Millionstel Millimeter – vergleichbar mit dem Durchmesser eines Haares, das auf einer 40 Kilometer langen Straße liegt. Es sind wohl die genauesten Spiegel der Welt.
Noch ein Superlativ. Mancuso lächelt. „Es geht uns darum, die Grenzen des technisch Machbaren zu verschieben“, sagt er. „Können wir etwas noch Kleineres sehen, noch tiefer ins Innere der Materie blicken?“ An Kalifornien und Australien mit ihren Stränden und ihrer Wärme denkt der Physiker gerade nicht. Die Arbeit wartet.