Bahrenfeld/Schenefeld. Forschung erklärt für Kinder: Warum Wissenschaftler unter der Erde ein riesiges Gerät nutzen, um klitzekleine Dinge zu beobachten.

Bis zu 38 Meter tief, verborgen in einem Tunnel, der unter Straßen, Häusern und Gärten verläuft, geht derzeit zwischen Hamburg und Schenefeld eine außergewöhnliche Anlage in Betrieb: Fast mit Lichtgeschwindigkeit rasen dort unten Milliarden von Elektronen entlang.

Von diesen Teilchen hast du vielleicht schon gehört: Fließen sie durch einen Draht, ist das ein elektrischer Strom. Man kann Elektronen durch einen Trick aber auch dazu bringen, Blitze auszustrahlen. Genau das geschieht in dem Tunnel, bis zu 27.000-mal pro Sekunde.

Was kurios klingt, entpuppt sich als eines der aufwendigsten Experimente unserer Zeit. Die „Blitzmaschine“ ist der stärkste Röntgenlaser der Welt – und soll Wissenschaftlern helfen.

Röntgen? Diese Untersuchung hast du vielleicht schon mal beim Arzt erlebt. Dabei durchleuchten Strahlen etwa den Ellbogen oder den Kiefer. Die Bilder zeigen, ob ein Knochen gebrochen ist oder sich zwischen den Zähnen eine Karies breitmacht.

Möglich wird das, weil der Körper die Röntgenstrahlung unterschiedlich stark aufnimmt: Ein Knochen lässt weniger Strahlung durch als ein Muskel – deshalb tritt die Struktur des Knochens auf dem Röntgenbild hervor. Moderne Zahn-Röntgengeräte sind kaum größer als eine Schreibtischlampe und kosten einige Tausend Euro.

Und ein Laser? Jetzt denkst du vielleicht an die „Star Wars“-Filme mit den Jedi-Rittern und ihren Lichtschwertern, an das Spiel Lasertag oder an Laserpointer für Vorträge. In allen Fällen geht es um stark gebündeltes Licht. Laserpointer gibt es als Schlüsselanhänger und schon ab zehn Euro – der European XFEL, so heißt der neue Röntgenlaser, hat 1,5 Milliarden Euro gekostet und ist 3,4 Kilometer lang.

Elektronen erzeugen laserartige Röntgenblitze

Wie passen Röntgen und Laser zusammen? Schauen wir uns das mal genauer an. Auf dem Desy-Gelände in Hamburg-Bahrenfeld betreten wir ein graues Gebäude und fahren mit einem Aufzug sieben Stockwerke in die Tiefe. Dort unten riecht es nach Beton und Kunststoff. Über eine Schleuse gelangen wir zum Anfang des Tunnels, durch den ein Kleinlaster fahren könnte – wären dort nicht gelbe Rohre montiert, so dick wie die Stämme von Mammutbäumen.

Uns begleitet ein Hamburger Physiker, der sich seit 25 Jahren mit dem Projekt beschäftigt, aber immer noch so begeistert darüber redet, als habe er gerade erst davon erfahren. „Das ist mein Lieblingsplatz in der Anlage“, sagt Winfried Decking (51). „Hier passiert die meiste Action.“ Vor ihm erstreckt sich der erste Teil des Röntgenlasers: Ein Teilchenbeschleuniger – die Rennstrecke der Elektronen. Decking und sein Team steuern die Anlage.

Und so funktioniert sie: Erst „schlägt“ ein Laserstrahl aus einer Metallplatte Elektronen heraus. Dann werden die Teilchen in den gelben Rohren von einer elektromagnetischen Welle gepackt. „Auf ihr reiten die Elektronen wie Surfer“, sagt Decking. Nach 1,7 Kilometern sausen die Teilchen durch einen Abschnitt, in dem Magnete sie zum Slalom zwingen. Dadurch senden die Elektronen laserartig gebündeltes Röntgenlicht aus. Weil jedes Elektronenpaket Milliarden Elek­tronen enthält, ergibt das zusammen einen Röntgenblitz, der für den Bruchteil einer Milliardstel Sekunde heller ist als alles Sonnenlicht, das im gleichen Zeitraum auf die Erde fällt. So intensive Strahlen kann ein Röntgengerät beim Arzt nicht ansatzweise erzeugen.

Supermikroskop und Superkamera in einem

Warum aber müssen die Röntgenblitze so stark sein? Fragen wir den britischen Biophysiker Henry Chapman (50). Er arbeitet am anderen Ende des Tunnels in Schenefeld in einer unterirdischen Experimentierhalle. Dort kommen die Blitze an. Chapman will keine Knochen sichtbar machen, sondern den Aufbau von Molekülen abbilden, bis hin zu einzelnen Atomen: Teilchen, die zehn Millionen Mal kleiner sind als ein Millimeter.

Wieso das eine Herausforderung ist, erklärt Chapman am Beispiel eines Teichs mit zwei Steinen in der Mitte. Trifft eine Welle auf die Steine, kräuselt sich das Wasser. „Stehen die Steine zu dicht beieinander, sieht die Kräuselung aus, als komme sie von einem Stein“, sagt Chapman. Er braucht aber die „Signale“ von beiden Steinen. Ähnlich ist es, wenn Licht mit großer Wellenlänge auf ein Objekt fällt: Dann erscheinen nur große Strukturen scharf – kleinere lassen sich nicht unterscheiden. „Deshalb nutzen wir Röntgenstrahlen, deren Wellenlängen kleiner sind als die Abstände zwischen den Atomen“, erklärt Chapman.

Die Wellenlänge des Lichts ist umso kürzer, je mehr Energie es besitzt. Die Energie wächst umso mehr, je länger der Beschleunigungsweg für die Elektronen ist, die das Licht ausstrahlen. Das erklärt auch, warum Forscher so eine riesige Maschine brauchen, um mit ihrem Laserlicht kleinste Strukturen zu enträtseln.

Der Röntgenlaser soll etwa Viren untersuchen

Der European XFEL soll Aufnahmen mit einer Belichtungszeit von wenigen Billiardstel Sekunden schaffen – und damit auch die irrsinnig schnellen Bewegungen von Atomen fotografieren und filmen. Die Blitzmaschine ist also nicht nur ein Supermikroskop, sondern auch eine Hochleistungskamera.

Wie funktioniert das mit dem Fotografieren und Filmen genau? Wie beschrieben sind die Röntgenpulse so stark, dass winzige Biomoleküle auf der Stelle zerplatzen, wenn die Strahlen sie treffen. Also müssen die Lichtblitze das Molekül fotografieren, bevor es auseinanderfliegt – wie der Cowboy Lucky Luke, der seinen Revolver schneller zieht als sein eigener Schatten. Das geht nur innerhalb der unfassbar kurzen Zeit von zehn Billardstel Sekunden. So „lange“ – 0,000.000.000.000.01 Sekunden – dauert es, bis die Probe im Röntgenlicht auseinanderfliegt. Also müssen die Laserpulse kürzer sein – und eben dies gelingt dem European XFEL. Viele tausend Aufnahmen fügen Forscher dann zu einem Film zusammen.

Und wozu braucht man die Maschine nun? Zum Beispiel, um herauszufinden, wie genau Viren und Bakterien unsere Zellen manipulieren – und was sich mit Medikamenten dagegen tun lässt. Pflanzen erzeugen aus Sonnenlicht klimafreundlich Energie — können wir das nachahmen? Wie lassen sich kleinere Datenspeicher für Smartphones und PC konstruieren, wie stärkere Akkus und effizientere Katalysatoren? All diese Prozesse haben auch damit zu tun, wie sich winzige Teilchen verhalten.

Bleibt zu erklären, warum der Röntgenlaser unterirdisch verläuft. Ganz einfach: Oberirdisch war in geeigneter Lage keine Fläche verfügbar ...