Hamburg. Die Zahl der offenen Stellen in Hamburg ist hoch. Warum eigentlich? Miriam Opresnik will es genau wissen – und arbeitet mit.
Bin gut vorbereitet: Habe ein paar bequeme Turnschuhe in der Handtasche, falls ich nicht den ganzen Tag auf Absätzen überstehe. Außerdem die Nägel neu lackiert und die Haare frisch gefärbt. Heute Morgen noch. Undenkbar, einen Tag als Friseur zu arbeiten und einen Ansatz zu haben.
Er ist gut vorbereitet. Er hat sich nicht rasiert. Ganz untypisch für ihn. Sonst macht er das als Erstes, wenn er morgens in den Laden kommt. Jetzt aber schon seit Tagen nicht mehr. Undenkbar für einen Friseur. Sonst. Heute nicht. Heute bin ich da. Und er findet, dass ich während meines Tages als Friseur nicht nur rumstehen und zugucken soll. Sondern machen, selbst machen.
Neun Euro Stundenlohn – brutto
Er, das ist Anthony Stölting (40), den ich manchmal versehentlich Eric nenne. Weil sein Laden so heißt. Eric: Barbier. Kein typischer Friseur-Salon, sondern ein Barber-Shop. Für Männer. Hier werden nicht nur Haare geschnitten, sondern vor allem Bärte behandelt. Rasiert, korrigiert, gekämmt, gestutzt und gestylt. Dass ich allerdings selbst Hand anlegen darf, an „Das Be-he-ste im Mann“, wie es in der Werbung heißt, trifft mich dann doch unvorbereitet.
Es ist kurz nach zehn Uhr, und mein Tag als Friseur hat eben erst begonnen. Ich bekomme gerade von Aysun (35) eine Einweisung in die Bedienung der Waschmaschine sowie der Kaffeemaschine, als Anthony mich zu sich ruft. Er ist mit seinem ersten Kunden fertig und hat ein bisschen Zeit, bevor sein nächster Termin kommt. „Jetzt bist du dran“, sagt er und setzt sich in einen der Ledersessel. Über dem Spiegel an der Wand hängt eine alte Hausnummer. Eine 1. Es ist sein persönlicher Arbeitsplatz. Sonst rasiert er hier andere, heute will er sich selbst rasieren lassen. Von mir.
Merkwürdig, einem Fremden so nah zu sein
Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Darauf, einem Menschen ein Rasiermesser an den Hals zu setzen und mit einer scharfen Klinge über die Haut zu fahren. Über den Kehlkopf, den Hals hinauf, am Mund entlang bis zu den Wangenknochen hoch. Zucke bei jedem schabendem Geräusch zusammen. Himmel! Habe dermaßen Angst, ihn zu verletzen, dass ich das Messer immer wieder absetze. Immer wieder den Winkel neu ausrichte – und die Klinge dann doch wieder sinken lasse. Selbst als wir schon eine Seite fertig haben, frage ich immer wieder: Soll ich wirklich weitermachen? Jetzt mal im Ernst: Mir würde es auch reichen, nur zuzugucken und später ein paar Haare zusammenzufegen. Echt! Dabei bekomme ich doch auch einen ganz guten Eindruck vom Job. Finde ich.
Anthony findet das nicht. „In unserem Job arbeiten wir mit den Händen. Also musst du deine Hände auch benutzen“, sagt er entschieden, bevor er den Kopf wieder nach hinten neigt. Also Luft holen, Messer nehmen und los. Bevor ich die Haut mit den Fingern spanne und den Rasierer wieder ansetze, zögere ich trotzdem noch einmal. Es ist merkwürdig, einem Fremden so nah zu sein. Ihn im Gesicht zu berühren, so verletzlich zu sehen.
Runterbeugen und hochkommen
Hin und her. Runterbeugen und hochkommen. Von einer Seite des Stuhls zur anderen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Dass ich so angespannt bin. Dass der Nacken schmerzt und die Schultern wehtun. Dass die Haare an den Händen kleben und in die Haut pieken. Dass es so anstrengend ist. „Du beugst dich zu weit runter“, sagt Anthony: „So bekommst du Rückenschmerzen.“ Bekommen? Habe ich längst. Dabei ist es noch nicht mal 11 Uhr.
Aufrichten, Luft holen, weiter. Nach dem Rasieren ist vor dem Rasieren. Nach dem Bart kommt der Kopf. Die Haare. Anthony zeigt mir, welchen Rasierer ich dafür brauche und in welchem Winkel die Maschine gehalten werden muss. Schön flach und gegen die Wuchsrichtung. Gar nicht zu schwer. Einfach hin und her. Noch ein bisschen die Konturen nacharbeiten und fertig. Sieht richtig gut aus. Bin sehr stolz. Bin sehr naiv. Denn meine Arbeit war nur eine Vorbereitung.
Vorbereitung für den Profi
Eine Vorbereitung für den Profi. Mister Mahfouz. Seit 25 Jahren Barbier, ein Meister des Messers. Er macht nichts anderes als ich – aber eben anders. Forscher, schneller, nicht so zaghaft. Zentimeter um Zentimeter arbeitet er nach. Mit Langhaarschneider und Kamm, Messer und Augenmerk. Haare rieseln herab, Konturen werden schärfer. Jedes Mal, wenn er fertig zu sein scheint, setzt er erneut an. Immer wieder strafft er die Haut, nimmt Korrekturen vor. Mit schnellen, kleinen Bewegungen. Hochkonzentriert. Er dreht den Kopf von links nach rechts, betrachtet sein Werk aus verschiedenen Winkeln. Von vorne, von hinten im Spiegel. Ein Perfektionist. Der Ungenauigkeiten wahrnimmt, wo andere nichts sehen. Der ein Gesicht nicht rasiert, sondern es bearbeitet, belebt. Der für seinen Job lebt.
Aus Syrien geflohen
Der Job ist ihm geblieben, als er mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern aus Syrien geflohen ist. Als er seinen Sohn aus erster Ehe zurückgelassen hat, seine Eltern. Und den Salon seiner Familie, in dem er 25 Jahre gearbeitet hatte. Als er alles aufgegeben hat, um noch mehr zu gewinnen. Nicht für sich, das sagt er immer wieder. Aber für seine Kinder. Acht, fünf und ein Jahr alt. „Sie sollen es besser haben“, sagt Mister Mahfouz und erzählt, wie schwer es ihm nach seiner Ankunft in Deutschland gefallen ist, keine Aufgabe zu haben, nichts zu tun. Niemand zu sein. Nur ein Flüchtling. Bis er eines Tages beim Herumlaufen den Salon entdeckt hat. Der ihn an den seiner Eltern in Damaskus erinnerte, in dem er gearbeitet hatte. Gerne.
Alles muss stimmen
Er nahm Kontakt zu Anthony Stölting auf und vereinbarte einen Termin. Dass Mister Mahfouz kaum Deutsch sprach – und spricht – das störte den Chef nicht. „Eine Sprache kann man lernen. Aber diese Art zu rasieren, dieses Auge für Details und Symmetrien, nicht. Das ist ein Talent, eine Begabung“, sagt Anthony. Mister Mahfouz verbeugt sich leicht. Er ist fertig, der nächste Kunde wartet schon. Seit einem Monat arbeitet er bei Eric: Barbier. Vollzeit, mit einem festen Vertrag. Er ist froh, dass er jetzt wieder eine Aufgabe hat. Eine Arbeit. Dass er kein Niemand mehr ist. Sondern ein Jemand.
Anthony steht auf, klopft sich ein paar Haare von der Hose und betrachtet sich im Spiegel. Perfekt. Trotzdem greift er selbst noch einmal zum Rasierer und bessert eine Stelle nach. Alles muss stimmen. Morgen fliegt er rüber in die USA nach New York, um dort in einem der besten Barbier-Shops der Stadt einen Vortrag zu halten. Dafür will er perfekt vorbereitet sein.
Am liebsten würde ich die Schuhe wechseln
Es ist kurz vor zwölf. Die Haare sitzen, die Füße schmerzen. Am liebsten würde ich die Schuhe wechseln, komme mir aber blöd vor. Erst später bemerke ich, dass die anderen alle bequeme Schuhe tragen. Selbst Aysun, die am Empfang arbeitet. Die das Telefon bedient, Termine vergibt und die Kunden begrüßt. Die Getränkewünsche entgegennimmt, Kaffee kocht und das Geschirr wegräumt. Die die Haare vom Boden fegt, die Handtücher wäscht und die angelieferten Waren wegräumt.
Und die trotzdem am Ende des Monats nur 100 bis 150 Euro mehr hat als zu der Zeit, als sie vom Jobcenter unterstützt wurde. Aber bitte! Keine Missverständnisse. Sie ist froh über den Job, total dankbar. „Ich will nicht vom Amt abhängig sein, sondern für mich selbst sorgen“, sagt sie entschieden. Sie will ein Vorbild für ihre Kinder sein. Trotzdem sei das komisch, dass Hartz-IV-Empfänger manchmal fast genauso viel Geld haben wie Leute, die sich den ganzen Tag abrackern. Sie sagt komisch. Darüber lachen kann sie aber nicht.
Bruttostundenverdienst von 9,05 Euro
Früher, erzählt Aysun, während wir die zum Verkauf stehenden Shampooflaschen und Rasierpinsel abstauben, hat sie in einer Erstaufnahme für Flüchtlinge gearbeitet. Weil sie dort nur in Teilzeit arbeiten konnte, hat sie ergänzende Leistungen vom Amt erhalten. Als ihre Stelle infolge der rückläufigen Flüchtlingszahlen gestrichen wurde, musste sie sich was Neues suchen. Jetzt arbeitet sie fast doppelt so viel – ohne dass sie doppelt so viel Geld hat. Aber egal, es geht ja, irgendwie. Ihr Bruder unterstützt sie. Finanziell. „Schlimm ist nur, dass die Kinder nach der Schule alleine sind und ich sie erst abends sehe“, sagt Aysun. Sie ist alleinerziehend. Das Essen für ihre Kinder bereitet sie meistens morgens schon vor.
Eigentlich kenn ich Geschichten wie die von Aysun. Dennoch war ich auf sie nicht vorbereitet – auf die Zahlen schon. Dass Friseure im Durchschnitt nur auf einen Bruttostundenverdienst von 9,05 Euro kommen – laut Statistischem Bundesamt nur ein Siebtel dessen, was Piloten erhalten. Dass sie zu den zehn Prozent mit den geringsten Einkommen gehören, als Geringverdiener gelten, oft nicht von ihrem Job allein leben können. Ihr Gehalt aufstocken müssen. 1,159 Millionen Menschen in Deutschland sind auf ergänzende Leistungen angewiesen, weil ihr Einkommen nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht. 1,159 Millionen Menschen haben einen Job – und können trotzdem nicht davon leben. Fast 200.000 von ihnen arbeiten Vollzeit. Und verdienen trotzdem zu wenig. In Hamburg sind es 5296 Menschen.
Menschen und ihre Geschichten
So die Statistik. Die Zahlen. Zahlen, die nichts über die Menschen sagen, die dahinterstehen. Die Menschen und ihre Geschichten. Von Turnschuhen für den Sportunterricht, die zu teuer sind. Von Schulmahlzeiten, die man sich kaum leisten kann. Von Klassenreisen, für die man Unterstützung beantragen muss. Von Urlauben, die man nicht bezahlen kann. Von all dem, was normal erscheint und es dennoch nicht ist.
Die Gefühle treffen mich vollkommen unvorbereitet. Die Schuldgefühle. Es ist 12.45 Uhr, und ich habe gerade die Schuhe gewechselt. Sollte eigentlich erleichtert sein, bin es aber nicht. Denn das Unbehagen kann ich nicht abstreifen, nicht ablegen. Das Unbehagen, die Gewissensbisse. Weil ich mehr verdiene.
Seine Leute sind am Umsatz beteiligt
Über Geld spricht man nicht. Man hat es. Sagen zumindest einige Menschen. Meistens sind es die, die Geld haben. Anthony hat kein Problem damit, über Geld zu sprechen. Zu erzählen, dass er seine Leute ordentlich bezahlt. Weit über der tariflichen Empfehlung der Friseur Innung, die ein Einstiegsgehalt von 1557 vorschlägt. Brutto. 1800 bis 1900 Euro sind es bei Anthony. Netto. Plus Trinkgeld und Goodies. Mit Goodies meint Anthony, dass er seine Leute am Umsatz beteiligt. Am Umsatz der verkauften Produkte und am Umsatz der Kunden. Der Laden läuft gut, ist oft ausgebucht. Sechs Angestellte hat Anthony, seit Monaten sucht er neue Leute. Vergeblich. „Den ganzen Tag stehen und wenig Urlaub haben, nur 27 Tage – das ist vielen zu anstrengend.“
Von all den Kandidaten, die ihm die Arbeitsagentur vorschlägt, kommt vielleicht einer überhaupt zum Vorstellungsgespräch – und das auch meistens nur, weil er muss. „Richtig arbeiten will aber niemand von denen.“ Er schüttelt den Kopf. Ehrlich! Er erwarte wirklich nicht viel. Keine Krawatte oder einen Anzug. Aber dass sich jemand die Haare wäscht. Rasiert. Vorbereitet.
Es geht um die 50 Prozent
Vor ein paar Monaten hat er selbst eine Anzeige geschaltet, im Internet bei ebay. Ein Bewerber hat ihm auf Türkisch geschrieben und der zweite … Anthony winkt ab, öffnet seine E-Mails, zeigt das Schreiben. Da steht: „Hallo ich interessiere mich für ihre angegebene stelle ich bin herrenfriseur wieviel ist es bei im monat festangestellt oder 50%“
Es geht nicht darum, dass alles kleingeschrieben ist, ohne Satzzeichen. Es geht um die 50 Prozent. Die Frage nach Schwarzarbeit. Nach Betrug. Beschiss. So nennt es Anthony und erklärt, was sich dahinter verbirgt: „Viele wollen sich für knapp über 450 Euro anstellen lassen, um krankenversichert zu sein. Den Rest wollen sie schwarz arbeiten – und dann 50/50 mit mir teilen.“ In der Branche sei das gängige Praxis. Bei ihm nicht.
Jeder Fünfte verdient weniger als zehn Euro
Vier Stunden noch. Unendlich lang, so scheint es. Haare auffegen, Handtücher zusammenlegen, Kaffee kochen. Die Zeit kriecht. Keine 15 Minuten vergangen. Spülmaschine ein- und ausräumen, noch mal den Boden fegen. Dauert nur wenige Minuten. „Das ist das Schlimmste: wenn man nichts zu tun hat“, sagt Ramona. Sie kennt das, von anderen Tagen. Heute nicht. Heute hat sie einen Kunden nach dem anderen. Im 30-Minuten-Takt wäscht, schneidet, rasiert und föhnt sie. Irgendwann wechselt sie ihre Schuhe.
„Früher hab ich den ganzen Tag in einem Paar gearbeitet. Jetzt tausch ich meistens irgendwann zwischendurch“, sagt Ramona. Trotzdem: Den Job bis 65 zu schaffen, kann sie sich kaum vorstellen. Früher, als sie noch jünger war, habe sie nie darüber nachgedacht. Jetzt schon. Jetzt, wo ihr der Rücken öfter mal wehtut. Sie sagt, dass sie mehr Sport machen müsste. Aber nicht weiß, wann. Ramona ist 34 Jahre alt.
Bewegen können einen nur Menschen
16.22 Uhr. Das Telefon klingelt. Anthony meldet sich mit Moin, und ich wünschte, es wäre schon Abend. Feierabend. Es liegt nicht an der Arbeit. Sondern daran, was sie mit mir macht. Was sie in mir auslöst. Etwas, das sich nicht mit Schuld oder Scham beschreiben lässt. Nicht mit Zweifel oder Zorn. Das so komplex ist, dass es dafür kein passendes Wort gibt. Aber eine Zahl. 3441. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern in Deutschland. 3441 Euro. Eine Zahl, die nichts über die schiefe Verteilung aussagt, die sich dahinter verbirgt. Denn zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland beziehen Monatsgehälter, die geringer als der Durchschnitt sind. Geringer als 3441 Euro. 21 Prozent aller Arbeitnehmer verdienen weniger als zehn Euro pro Stunde. Friseure gehören dazu.
Die Zahlen sind nicht neu. Unzählige Male gelesen, gehört. Manchmal drüber geärgert. Und dann wieder vergessen. Weil Zahlen einen nicht berühren. Nicht bewegen. Das können nur Menschen. Und die Arbeit. Die Arbeit in einem dieser Jobs. In denen man genauso viel, genauso schwer, genauso engagiert arbeitet. Und in denen man trotzdem so viel weniger verdient. Auf dieses Gefühl kann einen nichts vorbereiten. Das muss man selbst erleben.
Nächsten Sonnabend: Ein Tag als Bäcker Alle bisherigen Folgen online unter: www.abendblatt.de/eintagals