Hamburg. Viele Stellen bei der Stadtreinigung sind unbesetzt. Warum? Eine Abendblatt-Reporterin startete den Selbstversuch und arbeitete mit.

Ein winziger Moment, Sekunden nur. Als ich die orangefarbene Arbeitskleidung und die Sicherheitsschuhe anziehe, verändert sich etwas. Es ist, als ob ich mit meiner Jeans und der Bluse auch einen Teil von mir abgelegt habe. Etwas von meiner Persönlichkeit, von meinem alten Leben. Jetzt bin ich nicht mehr die, als die ich hergekommen bin. Sondern eine andere. Eine Entsorgerin im Begleitgrün, wie es heißt. Eine „Grünflächen-Reinigerin“ der Stadtreinigung. Acht Stunden lang.

Der Tag beginnt, als es noch Nacht ist. Als die Vögel noch nicht zwitschern und die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Es ist 3.30 Uhr, und im Radio läuft das Nachtprogramm. Wann muss man ins Bett gehen, um so früh aufstehen zu können? 20 Uhr? 21 Uhr? Und kann man sich daran gewöhnen? Man kann! Sagen die, die es wissen müssen. Diana, Rainer, Corinna und Aysen, denen ich um 5.30 Uhr auf dem Betriebsgelände der Stadtreinigung in Hammerbrook zugeteilt werde. Die vier sind Entsorger im Begleitgrün und stellen sich mit Vornamen vor. Weil es einfacher und netter ist, wenn man so viel Zeit zusammen verbringt. Wenn man jeden Tag zusammen malocht und Müll wegmacht. „Dann is’ es doch besser, wenn man sich gut versteht. Wenn man Spaß zusammen hat“, sagt Aysen (40).

Eine Strafe?

Spaß? Kann nicht ihr Ernst sein! Oder? Diese Arbeit? Kann man die überhaupt Arbeit nennen? Ist das nicht eher eine Strafe? Eine Zumutung? Nein, so denkt hier keiner – außer mir. „Sieh es mal so: Wenn es den Müll nicht gäbe, hätten wir alle keinen Job und wären arbeitslos“, sagt Diana (39). Sie ist die Fahrerin, hat für den Job extra einen Lkw-Führerschein gemacht, um den fünf Tonnen schweren Doppelkabiner mit Kipper steuern zu dürfen. Die Fahrzeuge werden jeden Morgen eingeteilt, doch Diana muss nicht mehr fragen, welchen sie bekommt. Es ist immer derselbe. L0312. Der mit Kermit.

Die Stadtreinigung im Einsatz
Die Stadtreinigung im Einsatz © imago/imagebroker | imago stock&people

Die schmuddelige Plüschfigur hat Rainer (58) bei der Arbeit am Stintfang gefunden. Einsam und verlassen. Irgendwie hat er es nicht fertig gebracht, Kermit zu entsorgen und hat die Figur mit zwei Kabelbindern an der Rückseite ihres Einsatzfahrzeugs festgebunden. Als Maskottchen. „Ist schon merkwürdig, was die Leute alles wegwerfen“, sagt Rainer, der früher Gabelstapler gefahren ist. Was das Außergewöhnlichste ist, was er mal gefunden hat? Rainer muss nachdenken. Hmm. Mal überlegen. Na ja. Ach so! Das war die Leiche!

Wie positiv kann man sein, wenn man so einen Job macht?

Die Leiche? Himmel! Wirklich? Eine echte Leiche? Einen Toten? „Ja, der hing da einfach so an einem Schaukelgerüst im Park an der Glinder Au“, sagt Rainer nüchtern. „Hab zuerst gedacht, das is’ ne Puppe. Aber dann war es ein Toter.“

Wie furchtbar! Schrecklich! Einfach unvorstellbar! Muss doch ein Schock gewesen sein, oder? „Ooooch, so schlimm wars auch nicht. Danach haben wir nämlich einen Tag freibekommen“, sagt Rainer und nimmt einen letzten Zug aus der Zigarette. Dann drückt er diese auf dem Boden aus und wirft die Kippe auf die Ladefläche des Lkw, auf dem sie heute ihren Müll sammeln werden. Seit er bei der Stadtreinigung ist, hat er keine Zigarette mehr auf den Boden geworfen.

Es ist kurz nach 6 Uhr, als Diana den Matador vorsichtig vom Betriebsgelände der Stadtreinigung lenkt. „An der Alster“ steht oben auf dem Tourenplan des heutigen Tages. Das ist immer die erste Station auf der Route durch die Innenstadt. Damit man fertig ist, bevor die Jogger kommen. Bevor es eng wird.

Positive Außenwirkung

Doch die Jogger sind schon da. Die Jogger, Radfahrer, Hundebesitzer. Und die Motzer. Die sich beschweren, schimpfen und genervt sind, dass der Lkw der Stadtreinigung über die Wege in der Grünanlage fährt und sie ausweichen müssen. „Nicht ärgern, lächeln“, sagt Diana. Das hat man ihr vermutlich in der Einweisung eingetrichtert. So wie mir heute Morgen, als ich im Rahmen meiner Sicherheitseinweisung unter anderem gesagt bekommen habe, dass ich bei der Arbeit meine Schutzkleidung tragen muss, weder Alkohol noch Drogen nehmen darf und auf mein Verhalten achten soll. Weil, das lerne ich: „ ... eine positive Außenwirkung zur Unternehmenspolitik der Stadtreinigung gehört.“

Doch wie positiv kann man sein, wenn man so einen Job macht? Wenn man in nervigster Kleinstarbeit Eislöffel, Strohhalme und die Mini-Folie von einzeln verpackten Keksen auflesen muss, diese mit der Greifzange aber kaum zu packen bekommt. Wenn man schwere Bier- und Weinflaschen einsammeln will, die aber immer durch die Abfallzange rutschen. Wenn man benutzte Kondome und blutige Spritzen mit Nadeln entsorgen muss und sich vor Ekel schüttelt. Und wie positiv kann man sein, wenn man dabei von anderen komisch angeguckt wird? Wenn man das Gefühl hat, sich fast schon rechtfertigen zu müssen, warum man diesen Job macht. Wenn man in den Gesichtern diese unausgesprochene Frage sieht, warum man nichts Besseres gefunden hat? Warum man in seinem Leben gescheitert ist?

Was für eine Arroganz!

Ich weiß nicht, ob die Leute an diesem Morgen so denken, die mich sehen. Aber ich weiß, dass ich selbst so schon mal gedacht habe. Was für eine Arroganz! Was für ein bourgeoises Gehabe! Und was für ein Bedauern, jemals diese Gedanken gehabt zu haben. Am liebsten würde ich das nicht zugeben, nicht schreiben. Aber auch das gehört zu so einem Tag dazu. Dass man sich mit seinen eigenen Vorurteilen auseinandersetzt. Dass man die Realität kennenlernt.

Und nichts ist so real wie Müll. Und wie die Schmerzen, die nach zehn Mi-nuten von der Hand den Arm hinaufziehen, mit jedem Griff, mit jedem aufgehobenen Stückchen Müll schlimmer werden. Probiere, die Hand zu wechseln und die Abfallzange mit links zu greifen. Doch die Handhabung ist fast unmöglich. Pappbecher und Getränkedosen bekomme ich damit gerade eben zu fassen, kleinere Teile aber kaum. Also doch wieder mit rechts weitermachen. Weiter, immer weiter. Meter um Meter Grünflächen und Gebüsche durchkämmen. Eine Zangenlänge darf man ins Gebüsch greifen, weiter nicht. Reingehen schon gar nicht. Zu gefährlich. Wegen der Spritzen, die dort rumliegen könnten.

Überall liegt Müll

Die Alster liegt im Sonnenlicht. Und der Müll überall. Brottüten, Bierdosen und Bananenschalen. Angebissene Äpfel und ekelige was-auch-immer-Essensreste mit einem Haufen Ameisen darauf. Während Diana vorsichtig von Mülleimer zu Mülleimer fährt und die Tüten wechselt, sammeln wir den Müll auf Wegen und Wiesen ein. Irgendwann werden wir von einem Mann angesprochen, jung, Mitte 20. Er ist barfuß. Und nass. Vorsichtig fragt er, ob wir zufällig seine Sachen mitgenommen haben. Seine Klamotten. Schuhe, Hose, Shirt, Jacke. Einfach alles. Er habe die Sachen ausge­zogen, um in der Alster schwimmen zu gehen. Schwimmen? So frühmorgens? Klingt irgendwie merkwürdig. Na ja. Er ist verlegen, druckst herum. „War auf dem Kiez und besoffen. Wollte beim Schwimmen einen klaren Kopf bekommen“, sagt er. Doch nach dem Bad sei alles­ weg gewesen. Zum Glück habe er noch eine Ersatzhose im Auto gehabt! Er trottet davon – wir machen weiter.

Ein Sack nach dem anderen füllt sich. Fast 30 Stück sind es. Nach einer Stunde. Über die Kennedybrücke geht es Richtung Dammtor. Auf dem Platz zwischen Binnen- und Außenalster stehen Zelte, Obdachlose liegen in Schlafsäcken auf dem Boden. Die meisten schlafen noch. Es ist 7.45 Uhr. Von Weitem sehen wir den Nacktbader. Er sucht immer noch nach seinen Sachen.

Murat (l). und Tuncay reinigen mit einem Elektrosauger den Vorplatz am Hauptbahnhof in Hamburg
Murat (l). und Tuncay reinigen mit einem Elektrosauger den Vorplatz am Hauptbahnhof in Hamburg © picture alliance / Daniel Reinha | dpa Picture-Alliance / Daniel Reinhardt

Weiter zum Dammtor, dann zum Zirkusweg. Erst kommt die Hitze, dann die ersten Regentropfen. Die anderen diskutieren, wo sie Frühstückspause machen sollen. Irgendwo, wo eine Toilette ist. Das ist das Wichtigste. „Mit der Zeit haste raus, wo du aufs Klo kannst“, sagt Aysen. Sie ist seit einem halben Jahr dabei und findet den Job super. Weil sie früh Feierabend hat und sich nachmittags um ihren Sohn kümmern kann. „Wär doch blöd, wenn ich bis abends arbeiten müsste und er dann die ganze Zeit alleine wäre. Morgens ist er ja eh in der Schule“, sagt Aysen. Sonst könnte sie nicht Vollzeit arbeiten – und würde weniger verdienen. Das Geld stimmt, sagt sie. Wie viel sie verdient? Sagt sie lieber nicht. Sie weiß nicht, ob sie das darf.

Doch es steht in der TV-L-Entgelttabelle des öffentlichen Dienstes. 1953,91 Euro sind es für die Entgeltgruppe 2. Am Anfang. Brutto. Danach kann man auf bis zu 2555 Euro kommen. Nach 15 Jahren. Doch so lange ist noch niemand aus dem Team hier. „Dabei wollte ich schon als Kind zur Stadtreinigung“, sagt Diana, während sie den Matador gekonnt in eine Parklücke manövriert.

In der Stadtbäckerei ist es leer. Die meisten haben um diese Zeit schon ge-frühstückt, fürs Mittagessen ist es noch zu früh. Gerade 10 Uhr. „Was bekommst du?“, fragt ein Verkäufer der Reihe nach Rainer, Diana, Aysen, Corinna – und mich. Er kassiert ab, richtet die Brötchen auf Tellern an. Dann wendet er sich dem nächsten Kunden zu. Einem Mann in Anzug, mit Aktentasche in der Hand. „Was möchten Sie?“, fragt der Verkäufer höflich. Sie statt Du. Ich registriere das, ohne es bewerten zu wollen. Ob die vertrauensvolle Anrede ein Zeichen der Solidarität ist? Oder eine Herabwürdigung?

Ein netter Anblick

Diana zuckt die Schultern. Ihr ist das egal. „Ist doch nett, wenn die Leute Du sagen“, sagt sie, beißt in ihr Brötchen. Auf ihrem Unterarm sind die Namen ihrer Kinder tätowiert: Cynthia, Michelle und Justin. 18, 16 und 13 Jahre sind sie alt. Diana war eben erst mit der Lehre als Friseurin fertig, als sie das erste Mal Mutter geworden ist. Mit 21. Danach hat sie alles gemacht. Als Kellnerin gejobbt, beim Friseur gearbeitet. Zuletzt hat sie Parkplätze sauber gemacht. „War eigentlich das Gleiche wie jetzt. Aber nicht so nett.“ Weil sie dort alleine im Einsatz war. Sie ist eine von sieben Berufskraftfahrerinnen bei der Stadtreinigung. Eines Tages will sie einen Müllwagen fahren. Davon träumt sie.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fahren drei Einsatzfahrzeuge der Polizei vor. Als Beamte in schuss­sicheren Westen aussteigen, blickt Aysen von ihrem Handy auf. „Aber hallo“, sagt sie und richtet sich auf. „Das ist ja mal ein netter Anblick.“ Muss an der Uniform liegen, meint sie. „Die macht echt was her. So wie bei uns.“

Nach dem Frühstück kommt das Schlimmste. Das kennen sie schon! Der Stintfang. Das Gelände hinter der Jugendherberge. Alles voller Scherben. „Manchmal glaube ich, die Jugendlichen veranstalten einen Wettbewerb, wer beim Flaschenzerdeppern die meisten Scherben schafft“, sagt Diana und nimmt neben Greifzange und Müllbeutel auch Besen und Kehrblech mit.

Es ist gegen 11 Uhr und die Plattform hinter der Jugendherberge voll. Voll mit Jugendlichen. Und voll mit Müll. Unter den Bänken, in den Büschen. Sogar neben dem Mülleimer. Warum zum Teufel schmeißen die Leute ihren Müll nicht darein – sondern daneben? Bin frustriert, vielleicht sogar zornig. Wenn es nach mir ginge, müsste man in Jugendherbergen eine Müll-Taxe verlangen – so wie eine Kur-Taxe. Oder die Jugendlichen bei jeder Übernachtung zu einer Stunde Müllsammeln verdonnern. Das wär doch was!

Der Müllsack füllt sich mit Flaschen und Scherben, wird schwerer und schwerer. Irgendwann können wir ihn nicht mehr tragen, schleifen ihn hinter uns her. Ein paar Meter sind es noch bis zum Lkw. Da reißt der Sack. Chipstüten, Pappbecher, Müsli-Folien, Bierdosen und Scherben kippen auf den Boden, rollen über den Weg. Sie haben es ja gesagt! Der Stintfang ist am schlimmsten. Auch wenn sie hier Kermit herhaben.

Ein Gewitter zieht auf

Der Himmel wird immer dunkler. In der Ferne hört man es donnern. Das Gewitter zieht auf, und die Schmerzen ziehen in die Schulter, dann in den Rücken. Trotzdem geht es weiter. Immer weiter. Säcke auf den Lkw, einsteigen, los. Stopp beim Bismarckdenkmal. Alle raus, Handschuhe anziehen, Sack nehmen, Greifzange. Ran an die Arbeit, schnell, schnell, der Wind wird immer schlimmer. Ein Stück des Grüns ist mit winzigen Tüten übersät. Was zum Teufel ist das? „Du weißt schon – Drogen“, sagt Aysen und klingt ein bisschen erstaunt, dass ich das nicht weiß. Na ja, theoretisch weiß ich natürlich, dass hier gekifft und gespritzt wird. Aber nicht, dass es so viel ist! So viele Tüten, so viele Spritzen. Mit Nadeln und Blutresten. „Pass bloß auf, wo du hintrittst. Und nichts anfassen. Nimm ein Kehrblech!“, schreit Diana gegen den Wind an, als ich die zusammengekehrten Müllhaufen mit den Händen einsacken will. Diana ist besorgt. Es blitzt und donnert. Schnell weiter. Zum nächsten Park, zum nächsten Müll.

104 Säcke voller Unrat nach acht Stunden Schicht

Es regnet bereits, als wir am Rödingsmarkt aussteigen. Der Wind reißt an den Müllsäcken, wirbelt Plastiktüten und Einwegverpackungen über den Rasen. Dann kommt der Hagel. Der Blitz. Und der Donner. Alles kurz hintereinander. Nichts wie ins Auto. Aysen zuckt zusammen, rutscht tiefer in ihren Sitz. Sie mag keine Gewitter. Es ist kurz vor 12. Der Dienst dauert noch zwei Stunden.

Die Scheiben im Auto beschlagen. Aysen und Rainer spielen mit ihrem Handy. „Willste mal n’ Foto von der Leiche sehen?“, fragt Rainer plötzlich. Er scrollt durch seine Bilder, stoppt, klickt ein Foto an. Diana wischt mit der Hand über die beschlagene Seitenscheibe und späht nach draußen. „Mist, wir stehen genau unter ein paar Bäumen“, sagt sie. Aber jetzt weiterfahren? Bei diesem Sturm? Keine Chance. „Wir bleiben und warten ab“, schlägt sie vor. „Einwände?“ Keine. Diana ist die Chefin. Auch wenn sie sich selbst nie so bezeichnen würde, als Teil des Teams sieht. „Ich bin lieber mittendrin als von oben“, stellt sie klar. Sie hält nichts davon, andere rumzukommandieren.

Anpacken statt rumschnacken

„Ich sach immer: Lieber anpacken als rumschnacken.“ Also springt sie bei der nächsten Station selbst raus, um einen Mülleimer zu leeren – statt jemanden zu bestimmen. Draußen regnet es immer noch, und diesen einen Mülleimer an der Admiralitätsstraße mag niemand. Weil es dort so viele Hundehaufen gibt. „Macht nichts, ich hab ja meinen Kaka-Besen“, sagt Diana und zeigt auf einen kleinen roten Besen. Damit machen sie die Hundescheiße an ihren Schuhen weg. Weiter nach Billbrook. Letzte Station. Müll abladen. 104 Säcke sind es. Das hat Diana anhand der verbrauchten Säcke berechnet. Sie muss die Zahl am Ende des Tages eintragen. In ihren Leistungsnachweis.

Um 14 Uhr ist die Schicht zu Ende. Im Umkleideraum ziehen wir uns gemeinsam um. Die anderen hängen die Arbeitskleidung in ihren persönlichen Spint, ich gebe meine zum Waschen ab. Ich brauche sie nicht mehr. Aber ich werde nie vergessen, wie es war, sie zu tragen. Dieses Gefühl bleibt. Über den Moment hinaus.

Bewerbungen für einen Job bei der Stadtreinigung: jobs@srhh.de. Das Einstiegsgehalt liegt bei 1953,91 Euro. Für Wochenendarbeit gibt es Zuschläge.