Hamburg. Menschen wie Jamel Chraiet ist es wohl zu verdanken, dass es nicht noch mehr Opfer gab. Er stellte sich dem Angreifer in den Weg.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Angehörigen des Todesopfers bei der Messer-Attacke ihr tiefes Mitgefühl ausgesprochen. "Ich trauere um das Opfer der grausamen Attacke in Hamburg. Seinen Angehörigen gilt mein tiefes Mitgefühl", teilte sie am Sonnabend in Berlin mit. Den Verletzten wünsche sie "vollständige Genesung der körperlichen und seelischen Wunden".
Die Kanzlerin fügte hinzu: "Die Gewalttat muss und wird aufgeklärt werden. Ich stehe in ständigem Kontakt mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz. Mein Dank gilt der Polizei für ihren Einsatz sowie all jenen, die sich mit Zivilcourage und Mut dem Täter entgegengestellt haben."
Einer von ihnen ist Jamel Chraiet. In dem Moment, als er zu einem der Helden von Hamburg-Barmbek wird, geht alles ganz schnell. Eine Frau habe geschrien, dass jemand Menschen absteche, erinnert sich der 48-Jährige am Tag nach der Messerattacke in einem Supermarkt. „Plötzlich haben wir einen Mann gesehen, mit einem langem Messer, blutverschmiert. Egal, wie cool man sonst ist, in einem solchen Augenblick weiß man erst einmal gar nichts.“ Der gebürtige Tunesier saß mit Landsleuten vor einem Backshop, wenige Meter entfernt vom Tatort - sie reagierten schnell. „Wir haben uns besprochen, jeder sollte einen Stuhl schnappen, dann sind wir auf ihn losmarschiert. Er wurde bereits von Leuten verfolgt, die auf ihn eingeredet haben.“
Ein 50 Jahre alter Mann war bei dem Angriff des 26-Jährigen ums Leben gekommen, sieben weitere Menschen teils schwer verletzt worden. Wie viele Menschen letztendlich versuchen, den Angreifer auf seiner Flucht zu stoppen, ist unklar. Es muss laut und unübersichtlich gewesen sein am Freitagnachmittag in jenem von Geschäften und Cafés dicht besiedelten Bereich der „Fuhle“, wie die Fuhlsbüttler Straße von den Hamburgern auch genannt wird. Gleich mehrere Passanten heften sich an die Fersen des Messerstechers, der den Behörden als Islamist bekannt war. Menschen vor allem tunesischer, aber auch türkischer und afghanischer Abstammung sind es, wie Medien übereinstimmend berichteten. Laut Polizei erlitt ein 35-jähriger Türke Verletzungen bei der Überwältigung des Mannes. Es sind diese Unerschrockenen, über die nicht nur in Hamburg viele sprechen - ihr Einsatz erscheint vielen heldenhaft, auch weil sie nicht einfach wegschauten.
Café-Betreiber lobt Gäste als Helden
„Ich habe auch versucht, mit ihm zu reden, aber er hat nur etwas gesagt, was man überhaupt nicht verstanden hat“, erzählt Chraiet, als er am Sonnabend wieder in jenem Café sitzt, von dem aus er und andere die Verfolgung aufnahmen. „Ob der in einer anderen Welt war? Keine Ahnung, was mit ihm los war.“ Es sei alles ganz schnell gegangen. Nur die Zeit, bis auch die Polizei da war - die sei ihm „verdammt lange“ vorgekommen.
„Aber als Helden würde ich uns nicht bezeichnen, das ist einfach eine normale Reaktion“, sagt Chraiet. Das ganze Café sei voll gewesen, sie hätten einfach alle etwas tun müssen. So wie auch jener Mann, der den Angreifer nach eigenen Worten bis zum Eintreffen der Polizei mit festgehalten hat. Seinen Namen will der gebürtige Deutsche tunesischer Abstammung nicht nennen, auch fotografieren und filmen lassen möchte er sich nicht. „Bis zum Ende, bis wir ihn auf dem Boden hatten“ sei er dabei gewesen. Mit Pflastersteinen hätten sie den Mann beworfen und ihm, als er gelegen habe, das Messer weggenommen. „Ich hoffe, dass die Menschen sehen, dass nicht alle Araber bösartig sind“, sagt er.
Das betont Chraiet ebenfalls. Er sei froh, dass auch er und seine Landsleute an der Verfolgung beteiligt gewesen seien, betont der Mann, der seit 27 Jahren in Deutschland lebt und bei der Hamburger Hochbahn arbeitet. „Damit die Leute sehen, es gibt auch andere, die nicht so sind.“
Für den Betreiber des Backshops sind die Männer, die so viel Zivilcourage bewiesen, durchaus Helden. Wer weiß, was passiert wäre, „wenn sie ihn nicht aufgehalten hätten“, sagt Ahmet Dogan. Stolz verweist er ebenfalls darauf, „dass es ausländische Mitbürger waren“, die den Angreifer - in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren und der Volksgruppe der Palästinenser angehörend - aufhielten. Am Sonnabend gibt es in seinem Laden kein anderes Thema - wie überall in der Einkaufsstraße. Der Edeka-Markt indessen bleibt geschlossen. Davor haben Barmbeker Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet.
Bürgermeister und Innensenator legen Blumen ab
Bürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Andy Grote (beide SPD) kommen am Sonnabend ebenfalls nach Barmbek, legen Blumen nieder und sprechen mit Augenzeugen. „Es ist sehr bewegend, berührend, den Tatort zu sehen, mit denjenigen zu sprechen, die vor Ort waren, und das alles erlebt haben, geholfen haben oder hinter dem Täter hergelaufen sind“, sagt Scholz. „Das ist ein ganz schmerzhafter Moment für uns alle.“ Er sei sehr stolz auf die Hamburger, die sofort geholfen hätten.
Zwei ältere Damen bringt die Bluttat erstmals zusammen: Die beiden 75-Jährigen lernen sich kennen, als eine von ihnen eine Sonnenblume vor dem Tatort ablegt. Sie sei während des Angriffs anwesend gewesen, wolle aber nicht darüber sprechen und ihren Namen nicht nennen, sagt sie. Nun trinkt sie spontan mit Ingrid Merten, die in einem Seniorenheim in der Nähe lebt und fast jeden Tag in dem Supermarkt einkauft, spontan gemeinsam einen Kaffee. Auch Margot Hansen (78) ist zum Edeka, in dem sie am Vortag noch Einkäufe erledigt hatte, gekommen, um der Opfer zu gedenken. Sie gehe jetzt schon mit einem mulmigen Gefühl einkaufen, sagt sie. „Das kann ja überall passieren.“
" Die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf“
In der Nähe unterhalten sich zwei weitere Frauen. Ihre Namen wollen sie nicht nennen, am liebsten gar nicht mehr über alles sprechen. Eine von ihnen ist Verkäuferin in der Edeka-Filiale, die andere hörte in ihrer Wohnung die „Allahu Akbar-Schreie“ (Gott ist groß). „Wir haben gesehen, wie die Leute mit Stühlen hinterhergelaufen sind. Alles war unheimlich laut“, berichtet sie. Innerhalb eines Tages habe sich das Leben geändert. „Man fühlte sich immer sicher. Das Grauen war woanders, aber nie hier in Barmbek.“ Ihr Viertel sei sehr bunt, unterschiedliche Nationalitäten lebten gut zusammen. Dass der Täter ein Flüchtling ist, kommentiert sie mit: „Danke, Frau Merkel“.
Jamel Chrait will am Sonnabend nun die Einkaufsliste abarbeiten, die ihm seine Frau schon am Vortag über WhatsApp geschickt hatte. Über den Messenger-Dienst habe ihn rund eine halbe Stunde nach der Messerattacke auch eine besorgte Nachricht seines 18-jährigen Sohnes erreicht: „Ruf sofort an!!“. Seine Familie sei froh gewesen, dass er heil nach Hause gekommen sei. Und er selbst? Irgendwann in der Nacht habe er es geschafft, einzuschlafen. „Aber es hat lange gedauert. Die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf.“