Göteborg. 1762 Jugendteams aus 82 Nationen – auch 16 Vereine aus Hamburg. Beim Gothia Cup spielten schon Andrea Pirlo und Xabi Alonso.

Ästheten müssen in diesen Tagen tapfer sein. Eine Farbattacke jagt in Göteborg die nächste: Junge Frauen tragen neongelbe Tops mit schwarzen Streifen, Männer schwarz-gelbe Ringelsocken zu kurzen weißen Hosen und einige Mädchen haben froschgrüne Hosen und Trikots übergestreift. 1762 Mannschaften sind von allen Kontinenten in die zweitgrößte schwedische Stadt gereist und tragen stolz ihre nationalen oder lokalen Farben. Göteborg ist in Trainingsanzüge gehüllt, und erlaubt ist, was gefällt. Mögen die Geschmäcker auch zwischen den Nationen variieren, am Ende überwindet der Fußball alle Grenzen.

4372 Spiele werden dieser Tage in Göteborg ausgetragen, die ganze Stadt verwandelt sich in ein Spielfeld für das Turnier der Superlative. „Wir organisieren nicht nur das größte, sondern auch das internationalste Jugendevent der Welt“, sagt Dennis Andersson, Generalsekretär des Gothia Cups. „Die Mischung aus Sprachen, Kulturen, Religionen und Lebensweisen verleiht dem Turnier seinen besonderen Geist.“

Nationale Eigenarten

So manche nationale Eigenarten sind kaum zu übersehen: Wieso verlassen viele Amerikaner niemals ihre Heimat, ohne Stars-and-Stripes-Fahnen zu schwenken, sie sich umzuhängen oder als Modeaccessoire anzulegen? Weshalb tragen Mexikaner selbst im eher mittelmäßigen skandinavischen Sommer noch Sombreros? Und warum reißen deutsche Sportlergruppen jede Dezibelhürde mit Frohlocken? Offenbar birgt so manches Klischee einen wahren Kern.

Sonst aber sprengt das Turnier jedes Schubladendenken. Wie bei den Sommerspielen steht der olympische Gedanke im Vordergrund. Schon die Eröffnungsfeier am Montagabend im Ullevi-Stadion vor mehr als 50.000 Zuschauern orientierte sich an den großen Sportereignissen, eine Show mit Pomp und Pop, Feuerwerk und Fahnen. Sogar aus Namibia und Nepal, aus Chile oder China sind Mannschaften angereist. Viele präsentieren sich in nationalen Farben, Trachten oder historischen Aufzügen; die Deutschen versteckten sich ein wenig scheu in grauen Trainingsanzügen.

Nach den Schweden stellen die Bundesbürger die zweitstärkste Teilnehmerzahl einer Nation – und das aus Tradition. Die Geschichte des Gothia Cups begann 1975, als die beiden Göteborger Vereine BK Häcken und GAIS in Zusammenarbeit mit der Lokalzeitung „Arbetet“ ein Turnier auf die Beine stellten: 275 Mannschaften aus fünf Nationen gingen an den Start; bei GAIS nutzte Hans Wilcken, der nach dem Krieg als Flüchtling aus Hamburg nach Schweden gekommen war, seine Kontakte in die alte Heimat. Der Gothia Cup wurde international. Andersson: „In den ersten Jahren reisten 300 bis 400 Mannschaften nach Göteborg, zeitweise war ein Drittel des Teams aus Deutschland.“

Auch heute ist Hamburg überdurchschnittlich gut vertreten – mit 16 Vereinen könnte man problemlos eine eigene Liga gründen: Altona 93 und Blau-Weiß Schenefeld sind dabei, aus Eimsbüttel der SV West und der TV, der SC Nienstedten, der FC Süderelbe, der Niendorfer TSV und Tus Osdorf Hamburg sind angereist, der SC Vier- und Marschlande, TSV Sasel, TuS Germania Schnelsen, der USC Paloma, der Walddörfer SV, der SV Uhlenhorst-Adler, der Rahlstedter SC und der SC Alstertal-Langenhorn.

Zé Roberto auf dem Apfelsinenplatz

So manche Fahrt in der Göteborger Straßenbahn erinnert kurz an eine Busfahrt im Hamburger Stadtzentrum. Doch zwei Stationen später dann wähnt man sich plötzlich in Südamerika oder Afrika, wenn Mexikaner oder Ghanaer zusteigen. Auch große Stars haben als kleine Kicker einst am Gothia Cup teilgenommen – Xabi Alonso, Andrea Pirlo oder Zé Roberto kickten auf einem der Plätze mit so skurrilen Namen wie Lemmingwall und Apfelsinenplatz.

Die 110 Sportplätze – eine Grundversorgung, von der Hamburger nur träumen können – sind über die gesamte Stadt verteilt. So lernen die Kinder nicht nur andere Nationen, sondern auch die Gastgeberstadt kennen. Die jüngsten Teilnehmer sind elf Jahre, die ältesten gerade volljährig; 30 Prozent sind Mädchen.

Teams werden zusammengeschweißt

Altona 93 ist regelmäßig beim größten Fußballturnier der Welt dabei. „Der Gothia Cup ist für jeden Fußballer ein einmaliges Erlebnis“, sagt Wolfgang Oesert, Jugendleiter bei Altona 93. „Hier lernen die Jugendlichen viel über die völkerverbindende Kraft des Spiels. Die Größe des Turniers, die Internationalität, die Stimmung in Göteborg weiten den Horizont jedes Einzelnen.“

Die Jungen aus Altona (gestreift) und die Lokalmatadoren aus Frölunda
Die Jungen aus Altona (gestreift) und die Lokalmatadoren aus Frölunda © HA | Matthias Iken

Zugleich wirke der Gothia Cup positiv nach innen, weil die gemeinsame Woche die eigenen Mannschaften festigt und zusammenschweißt. Das Turnier der Superlative nimmt einen festen Platz in der Nachwuchsarbeit des Traditionsclubs ein. „Wir wollen als Verein jedem jungen Mitglied ermöglichen, dieses Turnier zu erleben“, so Oesert. Jeweils die Elf- und 13-Jährigen von Altona 93 fahren nach Göteborg.

Für die Jungs ist der Pokal vor allem ein großes Abenteuer fern der Heimat: Viele sind erstmals ohne ihre Eltern im Ausland und entdecken eine fremde Stadt, treffen Gleichaltrige vor Ort, übernachten mit ihnen in denselben Schulen oder essen gemeinsam oder kicken vor der Tür.

Zeitgemäßer Werbeträger

Der Fußball steht zwar im Mittelpunkt, Ergebnisse aber treten schnell in den Hintergrund. „Die Jungs haben zwar alle drei Vorrundenspiele unglücklich verloren, aber die Stimmung ist trotzdem super“, sagt Jan Friedrich, der Trainer der Elfjährigen bei Altona 93. „Hier gibt es so viel Ablenkung, dass auch eine Niederlage schnell vergessen ist. Das nächste Fußballspiel ist ja nur einen Platz entfernt. Oder man fährt mit der Straßenbahn ans Meer.“

Für die Schweden ist der Go­thia Cup längst ein zeitgemäßer Werbeträger geworden: Das Land präsentiert sich als internationale, weltoffene Nation und als perfekter Organisator. Per App werden alle Torschützen der rund 19.000 Treffer aufgelistet, viele Spiele live im Internet übertragen. Und Göteborg inszeniert sich als schwedische Sportstadt Nummer eins. Seit 1975 haben mehr als eine Million junger Menschen – Spieler, Trainer und Betreuer – die schwedische Gastfreundschaft am eigenen Leib erfahren.

Fair Play ist Trumpf

Was ist am Gothia Cup typisch schwedisch? „Vielleicht die Köttbullar“, lacht Dennis Andersson. „Wahrscheinlich ist es die Organisation. Hauptsächlich versuchen wir alles so international wie möglich zu machen.“ Tatsächlich spricht Schweden in diesen Tagen englisch, zu essen gibt es fast nur Hühnerfleisch.

„Göteborg fühlt sich wirklich global und leuchtet in den Farben der Sportanzüge und Fahnen“, sagt Andersson. „Das Turnier ist für viele Fußballfans der Höhepunkt des Jahres.“ Fast 2400 Freiwillige, darunter 430 Schiedsrichter, ermöglichen den Gothia Cup. Ganz uneigennützig ist das Turnier nicht. Einheimische Medien haben errechnet, dass das Turnier das größte und wichtigste Event Schwedens ist. Dem schwedischen Forschungsinstitut für Tourismus zufolge besuchen in dieser einen Woche mehr als 50.000 Menschen Göteborg wegen des Gothia Cups. Andersson spricht von Umsätzen in Höhe von fast 50 Millionen Euro, die Steuereinnahmen liegen im zweistelligen Millionen-Bereich.

Eingängige Kampagne

Auch der Fußball profitiert – einer einfachen wie eingängigen Kampagne kann man kaum entkommen. Die Botschaft, die das „Celebrate the Game“-Projekt in die Köpfe und Herzen pflanzt, ist so charmant wie einfach: „Das ist Jugendfußball! Es ist ein Spiel! Die Betreuer arbeiten ehrenamtlich! Die Schiedsrichter sind auch nur Menschen!“

Klingt banal, aber wirkt. Seit Beginn der Kampagne im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Roten Karten halbiert. Das Fair Play wird am und auf jedem Kunstrasenplatz gelebt, egal woher die Spieler kommen, welche Religion sie haben – und wie schrill ihre Trikots auch aussehen mögen.