Hamburg. Das Angebot an Kleidern und Hosen für Kundinnen, die deutlich mehr als der Durchschnitt messen, nimmt in Hamburg zu.
Früher hat Ewa Kurcinak fast immer Minirock getragen. Nicht, weil sie es wollte. „Aber“, sagt die 1,93-Meter-Frau, „bei mir war jeder Rock kurz.“ Ihre Winter-Strategie: Jeans in die Stiefel stecken. So überspielte sie, dass die Hosenbeine nie lang genug waren. Ein Einkaufsbummel, für andere Frauen meist ein großer Spaß, war für die Hamburgerin, die als Systemadministratorin und Finanzbuchhalterin arbeitet, eine ungeliebte Notwendigkeit. „Es ist ja nicht damit getan, den Saum zu verlängern“, sagt sie. Die Taille sitzt nicht da, wo sie sitzen sollte. Die Ärmel sind zu kurz. Dazu nicht selten schnippische Sprüche von Verkäuferinnen. „Besonders schwierig war es, Hosen in meiner Länge zu finden, die passen und auch gut aussehen“, sagt die 42-Jährige.
Das Standardmaß der deutschen Frau liegt gerade mal bei 1,65 Metern. Das hat das Statistische Bundesamt im Mikrozensus 2013 ermittelt. Allerdings werden die Menschen größer. Laut der letzten Untersuchung SizeGermany aus dem Jahr 2009 betrug der Zuwachs etwa in der Altersgruppe der 26- bis 45-jährigen Frauen im Vergleich zur vorherigen Vermessung 1994 drei Zentimeter und kletterte auf 1,68 Meter. Aber auch wenn sich das inzwischen zumindest teilweise in den Konfektionsgrößen niederschlägt, für Frauen über 1,80 Meter ist es keine Lösung. Sie sind auf Spezialgeschäfte angewiesen oder müssen online shoppen.
Größte Kundin ist 2,04 Meter
„Hamburg ist die Stadt mit den Großen“, sagt Annemarie Sickeler. Sie selbst ist Schweizerin und misst 1,87 Meter. Im vergangenen Jahr ist die Geschäftsfrau mit ihrem Label I love Tall in die Hamburger Innenstadt gekommen. In der Boutique mit extrahoher Decke haben auch die Stühle lange Beine. Es gibt Blusen, deren Ärmel bis zum Handgelenk reichen, Businesshosen ohne Hochwasser-Angst und schicke Cocktailkleider und Lederjacken in allen Langgrößen.
„Anders als das Gewicht kann man seine Größe nicht ändern“, sagt Unternehmerin Sickeler, die eigentlich aus der Logistik-Branche kommt und 2012 ihren ersten Laden in Zürich eröffnete – auch aus persönlicher Betroffenheit. Neben Modellen von spezialisierten Herstellern setzt die 44-Jährige auf ihr eigenes Label. „Für Bekleidung in Langgrößen müssen die Schnitte angepasst werden. Das sind immer Extra-Produktionen“, sagt sie. Ihre größte Kundin ist 2,04 Meter.
Platzhirsch unter den Geschäften für besonders große Frauen in Hamburg ist das Unternehmen Egü Moden, das die Mode-Redakteurin Erika Günther 1975 auf einem Dachboden in Rellingen gegründet hat. Inzwischen führt Sohn Ole Günther als Chef die Geschäfte von Egü, Firmensitz ist Kiel. Es gibt fünf Filialen in Deutschland, aber viel läuft über den Versand. „Wir geben im Jahr fünf Kataloge mit 500 bis 600 neuen Artikeln heraus“, sagt der 49-jährige Betriebswirt. Das Angebot richtet sich eher an die etwas ältere Kundin. Im vergangenen Jahr machte der 30-Mitarbeiter-Betrieb einen Umsatz von etwa drei Millionen Euro. „Die Nachfrage ist groß“, sagt Günther.
Die vergleichsweise kleine Zielgruppe der besonders großen Frauen und der hohe Produktionsaufwand macht die Größen im Sortiment für die Textilkonzerne unrentabel. Genaue Zahlen, wie viele Menschen in Hamburg zu den Großen zählen, gibt es nicht. Evelyn Geisler, Vorsitzende des Klubs langer Menschen in Hamburg, sagt: „Wir haben zurzeit 170 Mitglieder, davon 105 Frauen.“
Auch die Verkäuferinnen sollten groß sein
Egü-Chef Günther lässt die speziellen Langgrößen hauptsächlich von deutschen Herstellern produzieren und stellt so die Kollektionen zusammen. „Billigware gibt es bei uns nicht“, sagt er und nimmt eine Sporthose mit extra langen Beinen vom Kleiderstand. Claudia Dullin-Butenschön nickt. Die Egü-Mitarbeitern mit einer Körpergröße von 1,83 Metern weiß, wovon sie spricht, wenn sie Kundinnen berät. „Meine Länge steckt in den Beinen“, sagt die 52-jährige Hamburgerin. „Früher war ich die ,Königin der Bordüre‘, weil alle meine Hosen verlängert werden mussten“, erzählt sie und lacht. Das Angebot ist auch durch den Onlinehandel in den vergangenen Jahren deutlich breiter geworden.
Seit fünf Jahren ist die britische Kette Long Tall Sally in Deutschland auf dem Markt. Gestartet war das Mode-Unternehmen mit der Übernahme des Geschäfts Long Fashion in Hamburg, inzwischen gibt es insgesamt fünf Filialen. Das Angebot, das auch über einen Onlineshop bestellbar ist, richtet sich an jüngere Frauen. Es gibt flotte Tops in Modefarben und Skinny-Jeans. „Es sind oft ganz einfache Sachen, die für unsere Kundinnen wichtig sind“, sagt Geschäftsführerin Silke Albrecht. Zum Beispiel eine Schlafanzughose, die wirklich bis zum Boden reicht. Eine weitere Adresse ist im Schanzenviertel. Für Paul & Pinske fertigt Mitinhaberin Anna Paul, selbst 1,97 Meter groß, seit 2014 eine Tallfashion-Linie der Kollektion.
„Spaß, mit anderen Großen zusammenzusein“
Größe ist im Team von I-Love-Tall-Gründerin Sickeler ein Einstellungsgrund. „Die Kundinnen schätzen es, wenn unser Verkaufspersonal ihnen auf Augenhöhe begegnet“, sagt sie. Die 1,93-Meter-Frau Ewa Kurcinak, die einst als Kundin in den Spezialladen gekommen war, arbeitet inzwischen dort als Aushilfe. „Es macht Spaß, mit anderen Großen zusammenzusein. Das gibt einem ganz einfach das Gefühl, normal zu sein“, sagt die Mutter von drei Teenagern. Selbstbewusst trägt sie auch High Heels. „Ich liebe jeden Zentimeter an mir“, sagt sie. Ihr Mann ist übrigens 1,72 Meter. „Er mag große Frauen“, sagt Ewa Kurcinak und lacht.
Geschäfte für große Frauen: Long Tall Sally, Rödingsmarkt 31–33, Geöffnet: Mo–Fr 10–18 Uhr, Sonnabend: 10–17 Uhr.I love Tall, Steinstraße 25, Geöffnet:
Mo–Fr 10–19 Uhr, Sonnabend 10–16 Uhr.Egü Moden, Rosenstr. 9, Geöffnet:
Mo–Fr 10–18 Uhr, Sonnabend 10–16 Uhr