Hamburg. Nach dem Abendblatt-Interview mit TK-Chef Jens Baas suchen die Ermittler Mauscheleien. Es geht um eine heikle Geldverteilung.

Es war nur eine Interview-Äußerung – doch die Folgen sind immens: Die Hamburger Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt (LKA) ermitteln weiter wegen möglichen Betrugs bei Krankenkassen und Ärzten. Das bestätigte eine Sprecherin dem Abendblatt. Auslöser waren Äußerungen des Vorstandschefs der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und im Abendblatt.

Baas hatte gesagt, Kassen würden niedergelassene Ärzte dazu anstiften, schlimmere Diagnosen aufzuschreiben als sie vorfinden. Dieses systematische „Krankermachen“ führt dazu, dass die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds mehr Geld erhalten.

Morbi-RSA: Geldverteilung in der Krankenversicherung

Denn der „Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ (Morbi-RSA) sorgt dafür, dass keine Kasse bestraft wird, die besonders viele besonders kranke Patienten hat. Umgekehrt können sich Kassen durch „Upcoding“ der Ärzte so mehr Geld verschaffen. Diesen Mechanismus und damit die eigene Branche hatte Baas angeprangert und – ohne es explizit zu sagen – die AOK angegriffen. Sie gilt als Profiteur des Morbi-RSA. Die AOK hat die Vorwürfe zurückgewiesen.

Nach Baas‘ Enthüllung im Abendblatt wurden die Kassenchefs bei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) einbestellt. Das Bundesversicherungsamt schickte Rundschreiben, die an die Gesetzeslage mahnten.

Haben Kassen Ärzten Geld angeboten?

Die Hamburger Staatsanwaltschaft steht nun vor der Aufgabe, herauszufinden, ob und wer eigentlich betrügt. Sind es die Kassen, die die Ärzte mutmaßlich zum „genaueren“ oder eben falschen Codieren von Krankheiten bei ihren Patienten motivieren und ihnen sogar dafür Geld angeboten haben sollen? Oder sind es die Ärzte, die da mitmachen? Zwischen einem genauen Erfassen einer Krankheit (rightcoding) und einer Dramatisierung (upcoding) verläuft die Legalität.

Im Morbi-RSA stehen 80 Krankheiten, für die die Kassen besondere Ausschüttungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Doch insgesamt gibt es nach unterschiedlichen Schätzungen 13.000 verschiedene Codierungen. Alleine für rheumatoide Arthritis gibt es seitenweise Ziffern, die kaum ein Arzt noch durchblickt.

Hamburger Ärztin sollte Diagnose dramatisieren

Die Abrechnung läuft grob gesagt so: Der Arzt stellt bei einem Patienten eine Diagnose, trägt sie in die Akte ein und übermittelt sie getrennt vom Namen an die Krankenkasse. Die Kasse erstattet die Behandlungskosten an die Kassenärztliche Vereinigung, die das Geld an die Ärzte verteilt. Gleichzeitig „meldet“ die Kasse an den Gesundheitsfonds: Hier ist Patient X mit der schweren und teuren Erkrankung, wir haben Anspruch auf mehr Geld der Versichertengemeinschaft.

Eine Hamburger Ärztin sagte auf einem Kongress, sie sei von einer Kasse angehalten worden, bei einer älteren Patientin eine traumatische Amputation aufzuschreiben. Tatsächlich habe der Frau ein Fuß abgenommen werden müssen – allerdings im Zusammenhang mit ihrer schweren Krebserkrankung. Sie ist inzwischen verstorben. Doch da wollte die Kasse so gut es ging Kasse machen. Die Ärztin sagt, sie habe sich geweigert, ihre Diagnosen oder Therapien zu manipulieren.

Profitiert die AOK vom Morbi-RSA?

LKA und Staatsanwaltschaft hören derzeit Zeugen an, die darüber aufklären sollen, wer eigentlich strafrechtlich verfolgt werden soll. Auch die Techniker Krankenkasse hat dem Vernehmen nach bereits juristische Stellungnahmen eingereicht, um klarzustellen, dass sie nicht zu Manipulationen aufruft. Andere Kassen legen Wert auf die Tatsache, dass sie die Ärzte anhalten, richtig und genau zu codieren und nichts zu vergessen.

Politisch steckt kurz vor der Bundestagswahl eine heikle Frage dahinter. Ist der Morbi-RSA, der Verteilungsmechanismus zwischen den Kassen und ihren 70 Millionen Versicherten gerecht? Die TK, die Barmer, die HEK und DAK meinen: nein. 91 von 113 Kassen fühlen sich benachteiligt, wie sie in einer Resolution schreiben.

Und tatsächlich bekommt nach verschiedenen Expertenmeinungen die AOKen überproportional viel Geld für ihre Versicherten. Ersatzkassen und Betriebs- sowie Innungskrankenkassen fordern von der Politik einen Mechanismus, der „gerechter und manipulationsresistenter“ ist. Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, wies das zurück.

Auch Hamburg und damit allen gesetzlich Versicherten hier gehen durch diesen Mechanismus jedes Jahr Hunderte Millionen verloren. Denn der Morbi-RSA orientiert sich an Durchschnittswerten in ganz Deutschland. Gerade in Hamburg werden aber besonders viele aufwendige und teure Behandlungen gemacht – in Krankenhäusern und Arztpraxen, wie deren Statistiken zeigen. Der hohe medizinische Standard führt zu einer finanziellen „Abstrafung“ aller Kassen in Hamburg.