Hamburg. Noch nie wurden so viele Obdachlose in städtische Unterkünfte vermittelt und hoffen nun auf eine normale Wohnung. Ein Paar berichtet.
„Hier ist das???“ Als Hans und Sabine (*) das erste Mal vor ihrem vorläufigen neuem Zuhause standen, glaubten sie zunächst an einen Irrtum. Ein nagelneuer Appartementkomplex am Rande von Rahlstedt mit einer hellen, mehrfarbigen Fassade, Balkonen, Aufzug, viel Grün drumherum. Ein paar Schritte weiter verkauft ein Maserati-Händler teure Sportwagen.
„Wir waren fassungslos“, erinnert sich Hans. Monatelang hatten der 60-Jährige und seine vier Jahre ältere Lebensgefährtin einen Albtraum erlebt: Obdachlosigkeit mitten in Hamburg. Ein unfreiwilliges Leben zwischen Hauptbahnhof und Notunterkünften, Betteln und Bedürftigenspeisung, Krankenhäusern und Nächten in Fast-Food-Filialen. Und nun standen sie vor diesem schönen neuen Haus. Hier sollten sie einziehen? „Ein eigenes Zimmer! Ein Bett! Ein Bad!“, zählt Hans auf und betont: „Wer das Gefühl nicht kennt, kann sich das gar nicht vorstellen.“
Mehr Deutsche in Notunterkünften der Stadt
Vor allem aber haben die beiden nun ein Domizil, von dem aus sie in Ruhe ihr eigentliches Ziel verfolgen können: eine eigene, gemeinsame Wohnung suchen. Denn die Unterkunft an der Sieker Landstraße, so schön sie für den Moment ist, ist kein Dauerzustand. Es handelt sich um eine „Einrichtung der öffentlich-rechtlichen Unterbringung“, betrieben vom städtischen Unternehmen „Fördern & Wohnen“ – im Volksmund in der Regel als „Flüchtlingsunterkunft“ bezeichnet.
Auch an der Sieker Landstraße sind die meisten der 270 Plätze mit Flüchtlingen belegt, vor allem Familien mit Kindern. Doch wie der Fall von Hans und Sabine und 15 weiteren Bewohnern zeigt, haben diese Einrichtungen auch noch eine weitere Funktion: Sie dienen Obdachlosen als Sprungbrett zurück in ein geregeltes Leben. Wie wichtig die feste Bleibe dafür ist, erklärt Siegmund Chychla, Vorsitzender des Mietervereins zu Hamburg: „Ohne eine feste Anschrift ist man auf dem Hamburger Wohnungsmarkt verloren.“ Die Adresse sei zum Teil noch wichtiger als das Einkommen: „An Sozialleistungsbezieher ohne festen Wohnsitz will kaum ein Vermieter vermieten, weil sie Sorge haben, ihr Geld nicht zu bekommen.“
Umso erfreuter ist die Sozialbehörde, dass es in diesem Winter gelungen ist, durch intensive Beratung so viele Menschen wie nie zuvor aus dem Winternotprogramm heraus in so eine feste Unterkunft zu vermitteln: 278. Zuletzt lag diese Zahl deutlich unter 200, im Jahr 2013/14 sogar unter 100. „Unser Ziel, mehr Obdachlose mit Leistungsanspruch zu erreichen, haben wir erreicht“, betont Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) daher.
Rückblende: Hans und Sabine wohnen in einem kleinen Ort bei Bremen – im selben Haus, aber jeder in seiner eigenen Wohnung. Die beiden Rentner wollen zusammenziehen, eine neue Wohnung finden sie in Lübeck, doch dann beginnt der Schlamassel: Der neue Vermieter macht sich mit der Kaution aus dem Staub, und der alte, so erzählt es Hans, kündigt ihnen plötzlich aus fadenscheinigen Gründen. Die Kraft und die Fachkenntnis, sich dagegen zu wehren, haben beide nicht. Und so stehen sie im Spätsommer 2016 auf halbem Weg zwischen Bremen und Lübeck auf der Straße: in Hamburg.
Nachts schlafen sie im Sitzen bei McDonald’s
Einige Zeit wohnen sie in Hotels, doch dann ist das Geld alle – Hans und Sabine sind endgültig obdachlos. „Aber auf der Straße zu übernachten kam für uns nicht infrage“, betont Sabine. Tagsüber halten sie sich im Hauptbahnhof auf oder in der Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie an der Bundessstraße. Dort gibt es für 50 Cent eine warme Mahlzeit. Die Nächte verbringen sie meist bei McDonald’s, im Sitzen. Wenn sie Geld brauchen, schnorren sie.
Dass sie ihre Kleidung sauber halten und sich hin und wieder eine Dusche gönnen, wird ihnen dabei manchmal sogar zum Verhängnis: „Viele sagten zu uns: Ihr seid doch gar keine Obdachlosen“, erzählt Sabine, „und das nur, weil wir nicht dreckig und zerlumpt waren.“ Aber es gibt auch positive Überraschungen: Menschen, die Verständnis zeigen und ihnen 20 oder 50 Euro geben.
Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand
Knapp drei Monate geht das so, dann fällt Hans, der nicht trinkt, aber als starker Raucher schwer lungenkrank ist, plötzlich ins Koma. Drei Wochen liegt er in Altona im Krankenhaus, und dort reift der Entschluss: „Wir müssen etwas machen.“ Sie hören vom Winternotprogramm der Stadt und klappern die Häuser ab: In der Münzstraße ist ein Zimmer frei – angeblich, denn tatsächlich liegen dort schon zwei Gestalten, stockbesoffen. „Wir waren geschockt“, sagt Hans. Neues Zimmer, diesmal unbelegt: Eine Woche vor Weihnachten liegen Hans und Sabine erstmals seit Monaten in einem „eigenen“ Bett.
Es beginnt die Suche nach einer festen Bleibe. Die Stadt berät die Nutzer der Notunterkünfte zwar intensiver als früher, aber Hans und Sabine nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. „Ich habe jeden Tag genervt und gefragt: Habt ihr was?“, erzählt er. Doch es hagelt nur Absagen. Schließlich steckt ihm eine helfende Hand eine Telefonnummer zu, und plötzlich läuft es. Ende März, zwei Tage vor Schließung der Winternotunterkünfte, kommt die erlösende Nachricht: Ihr kommt nach Rahlstedt.
Irgendwann eine eigene Wohnung
35 Quadratmeter, Bad, Flur mit kleiner Küche, kombinierter Wohn- und Schlafraum mit Bett, Schrank, Tisch, zwei Stühlen und Balkon. „Im Vergleich zur Münzstraße ist das hier das Paradies“, sagt Hans. Dennoch soll es irgendwann weitergehen – der Auszug aus dem „Paradies“ in eine eigene Wohnung. Experten wie Siegmund Chychla machen Menschen aus öffentlichen Wohnunterkünften zwar wenig Hoffnung, in Hamburg privat etwas zu finden. Aber es gibt ja auch den sozialen Wohnungsmarkt. Hans und Sabine sind froh, erstmals den Sprung aus der Obdachlosigkeit geschafft zu haben. Für alles Weitere gelte: „Wir haben ja Zeit.“
(*) Namen von der Redaktion geändert