Hamburg . 47.000 Besucher gingen mit dem Festival „Theater der Welt 2017“ auf Weltreise – mit politischer Aktion im Bauch der MS “Stubnitz“
An einem der letzten, beglückend lauschigen Abende im Festivalzentrum „Haven“ auf dem Baakenhöft sieht man die burkinischen Tänzer der Kompanie Salia Sanou gemeinsam mit Ivo van Hoves Pariser Schauspielern und Besuchern auf der Tanzfläche. Es ist nur eine Randnotiz und doch löst sie ein, was dieses Festival „Theater der Welt 2017“ in seinen besten Momenten ausmacht: die Verständigung der Völker in der gemeinsamen Begeisterung für Theater und Tanz.
Viele Hamburger sind das Wagnis, auch manch Unverständliches aus fünf Kontinenten zu sehen, eingegangen. Die Bilanz kann sich sehen lassen 47.000 Besucher kamen insgesamt, darunter 32.000, die das Hauptprogramm mit 44 internationalen Produktionen und 330 Vorstellungen verfolgten bei einer Auslastung von 83,5 Prozent. Viele weitere besuchten Hausboot-Workshops oder zogen bei Rundgängen in der HafenCity in der eigenen Stadt auf Entdeckungstour.
Berühren ohne Patos
Bei keinem Hamburger Festival war die ästhetische Vielfalt je größer – und das, obwohl sich das vierköpfige Kuratorenteam stets einstimmig für Einladungen ausgesprochen hat. Sie reichte von der Hindu-Pop-Oper im Berghain-Stil bis zum charmanten libanesischen Koch-Tanz-Event. Die künstlerische Bilanz zählt einige Höhepunkte, ein starkes Mittelfeld, aber auch einige polarisierende Flops. Klug gewählt war in jedem Fall das Thema „Hafen“ als Arbeits-, aber auch als Kunstort.
Nachdem die großen Eröffnungspremieren enttäuschten, ging es hoffnungsvoller weiter. Salia Sanous Tanztheater-Choreografie „Du Désir d’Horizons“ aus Burkina Faso glänzte im Kakaospeicher auf dem Baakenhöft. Die acht Tänzerinnen und Tänzer finden kraftvolle Bilder zum Thema Flucht, Ankommen, Neubeginn. Sie berühren, ohne ins Pathos abzurutschen. Gewalterfahrung, Verlorenheit im Flüchtlingscamp, aber auch Mitmenschlichkeit, all das erzählt das Ensemble virtuos in synchronen, dann wieder geschickt aufgelösten Gruppentableaus und eindrucksvollen Soli. Auch Bruno Beltrão glänzte, während Chunky Move aus Australien und „Against a hard surface“ aus Palästina mit zu viel Symbolik enttäuschten.
Theater entsteht immer aus dem Kunstverständnis eines Landes heraus. Insofern war die abschließende Arthur-Miller-Inszenierung des Belgiers Ivo van Hove mit „Vu du Pont“ im Thalia Theater ein gelungenes Beispiel der erhabenen, aber auch ein wenig starren französischen Schauspielkunst. Dort schätzt man das wohlgeformte Wort, und das hervorragende Ensemble um Charles Berling löst dies ein. Allerdings wirkt der mit der Wucht einer antiken Tragödie erzählte Konflikt um einen Ziehvater, der die Eheschließung seiner Nichte mit einem Einwanderer um jeden Preis verhindern will, veraltet, das melodramatische Ende künstlich.
Viele Arbeiten widmeten sich politischer Aktualität
In Theater und Performance gab es aufwendige Bühnenbilder zu bestaunen, etwa in den Produktionen des australischen Back To Back Theatres (eine Blase um Bühne und Parkett) und des kolumbianischen Mapa Teatros. The Public Theater, Fernando Rubio, das Belarus Free Theatre (mit Pussy-Riot-Aktivistin) und Wael Shawky überzeugten mit ihrer Anbindung an die Realität.
An zu wenig Inhalt krankt „Moving People“ der brasilianischen Theatermacherin Christiane Jatahy. Auf einer Leinwand auf dem Baakenhöft folgt der Zuschauer einem Gespräch von Thalia-Schauspieler Daniel Lommatzsch mit einer Studentin und einem Geflüchteten. Die improvisierten Dialoge über Schlaflieder und Reiseerfahrungen schleppen sich durch Nebensächlichkeiten. Etliche Zuschauer vergnügen sich bald lieber am Minzteestand.
Lohnend war häufig der Blick ins Begleitprogramm. So sprach etwa der Schweizer Theatermacher Milo Rau über sein Projekt „Das Kongo Tribunal“. Rau gilt als derzeit wichtigster deutschsprachiger Regisseur auf dem internationalen Parkett. In „Das Kongo Tribunal“ hat Rau unter dem Schutzmantel des Theaters einen Gerichtshof im Ostkongo initiiert. Dort herrscht Krieg um Rohstoffe, die Europa nicht hat, aber dringend braucht. Hier graben internationale Konzerne nach Coltan, dem wichtigsten Bestandteil von Mobiltelefonen. Rechtswillkür gehört zum Alltag.
Hamburg als Theaterstadt
Nach jahrelangen Recherchen hat Rau lokale Politiker, Militärs, vermummte Untergrundkämpfer, Überlebende von Massakern und ihre Peiniger zusammengebracht und ein Tribunal initiiert, das im Herbst als Film in die Kinos gelangt. Seine detailreichen Schilderungen im schaukelnden Bauch der MS „Stubnitz“ wuchsen sich zum Krimi aus. So viel reale Dringlichkeit und echte politische Aktion mit den Mitteln der Kunst sucht derzeit Ihresgleichen.
Hamburg hat sich einmal mehr als Theaterstadt gezeigt. Das Theater der Welt zieht weiter. 2020 ist Düsseldorf Austragungsort. Bleibt die Frage, ob es jemals wieder Theater im Kakaospeicher geben wird. Schön wäre es ja.