Hamburg. Das Festival Theater der Welt zeigt eine Trauerzeremonie, ein chinesisches Spektakel – und ist ein Ort zum Sehen und Gesehen-Werden.

Die Kulisse stimmt schon mal. Wolken türmen sich dramatisch, Möwen kreischen, an einer Uferecke steht eine Art Tipi aus Fensterglasscheiben. Es riecht nach Merguez vom Grill und frittierter Süßkartoffel, vielleicht sogar, irgendwie, nach Meer. Hier werden dick belegte Stullen ausgegeben, dort kleine Teigtaschen nach ugandischem Rezept probiert („Was ist denn da drin?“ - „Friesische Palme.“ - „Was?!“ - „Na, Grünkohl!“). Aus der MS Stubnitz dröhnen die Bässe, vor dem alten Kakaospeicher plaudert der Bürgermeister mit seiner Frau, ein süddeutscher Theaterchef schlurft über den Rollrasen.

Der eigentliche Star des Festivals „Theater der Welt“, so viel ist schon am Eröffnungsabend klar, ist das Gelände. „Haven“ heißt das Festivalzentrum auf der Landzunge am Baakenhöft, und es ist, zwischen Thalia-Zelt, Kakaohalle und Partyschiff, ein kleiner Abenteuerspielplatz. Zum Tanzen, Quatschen, Trinken, zum Trommeln, noch mehr Tanzen, Sehen und Gesehen-Werden. Und, natürlich, ein Ort für die Kunst.

Am Eröffnungsabend macht sich das Festival selbst Konkurrenz

Eine „wundervolle Affäre“ sei diese Kooperation zwischen Thalia Theater und Kampnagel, die über zwei Jahre gemeinsam das Programm erarbeiteten, schwärmt András Siebold, einer von vier Festivalleitern. Und kann sich, bei aller Eröffnungseuphorie, einen kleinen Seitenhieb gegen den Thalia-Intendanten Joachim Lux trotzdem nicht verkneifen: Man habe „dann ja doch eine gemeinsame Humorebene“ gefunden. Vor allem aber habe die Affäre nun „ein Baby“ zur Folge, „es heißt ,Theater der Welt‘ und lernt heute laufen“. Genau genommen sind es sogar Zwillinge, denn am Eröffnungsabend macht sich das Festival selbst Konkurrenz.

Während auf dem Baakenhöft der Samoaner Lemi Ponifasio in der riesigen Kakaohalle sein Projekt „Die Gabe der Kinder“ zeigt (das als „Children of Gods“ mit 47 Streichquartetten angekündigt war, am Ende aber ohne ein einziges auskommt), überlässt sich das Publikum auf Kampnagel einem chinesischen Künstler, der noch vor wenigen Tagen die Wiener Kunstwelt schockierte. Die Hamburger, auch in Winterhude schon in bester Festivalstimmung, nehmen „Ishvara“ mit tosendem Beifall auf.

"Die Gabe der Kinder" im düsteren Kakaospeicher © Kerstin Behrendt | Kerstin Behrendt

Theater in seiner schönsten überbordenden Vielfalt bietet Tianzhuo Chen dort, der seine Performances bislang vor allem in Off-Galerien Beijings aufführt, aber auch schon eine Einzelausstellung im Pariser Palais de Tokyo gezeigt hat. Der 31-Jährige baut verführerische Bilder zu monumentaler Clubmusik. Die Geschichte von der Gottheit Shiva verwandelt er in ein sinnliches Spektakel. Ein gläubiger Alter trifft da auf einen sehr körperlichen Sinnenfrohen, Dämonen veranstalten wüste Tänze. Man kann sich diesen Bildern, die sich bei Mode, Manga, Popkultur und Butoh bedienen, mit Genuss an der Ekstase überlassen. Theater als Trip. Dass die Szenen im Einzelnen nicht besonders komplex ausfallen, die philosophische Auseinandersetzung noch recht unreif wirkt, stört da nicht weiter.

Im Kakaospeicher fröstelt das Pu­blikum derweil bei „Die Gabe der Kinder“, die so viel opulenter geplant war. Hunderte Hamburger sollten eine Komposition des Kanadiers R. Murray Schafer singen – aber es kamen nicht genügend Sänger zusammen. Stattdessen zeigt Lemi Ponifasio, in Neuseeland lebender Festival-Star, nun eine Art Trauermarsch als „Antwort auf die derzeitige Szenerie aus Gewalt, Terror, zur Flucht gezwungenen Menschen“.

Sehr pur, sehr klar ist seine Zeremonie, die zunächst sieben Performer seiner Gruppe MAU beim langsamen Schreiten und Singen eines schönen, fremden Klageliedes zeigt. Schwarze Gestalten durchqueren die leere Indu­striehalle, deren Stahlträger, Säulen und ein verblassendes „RAUCHEN VERBOTEN“ an der Rückwand an die ursprüngliche Nutzung erinnern. Ein Vogel tschilpt, verstärkt durch den Hall der 9000 Quadratmeter. Er findet keinen Ausweg.

Grafi_Hafencity.png

Düster grollt es vom Band, später krachen Explosionen, die Mitwirkenden – darunter Hamburger Jugendliche und schweigende Chorsänger – wandeln und liegen auf dem rohen Boden, verschwinden im Nebel wie eine dunkle Engels­armee. Ein Mädchen schreit, ein anderes taucht die Hände in Blut. Klang umfängt den Zuhörer, das Ganze hat etwas von einer Messe und weckt doch Phantomschmerz – wie beeindruckend hätte eine solch bildergewaltige, sakrale Performance wohl in den ursprünglich geplanten Dimensionen gewirkt?

"Warum machen wir Theater?"

Der sinnlichen Opulenz stehen poetische Miniaturen in der Installation „The Time Between Us“ von Fernando Rubio aus Argentinien gegenüber. Fünf Tage lang residiert der Schauspieler Christoph Finger hier in einer Holzhütte am Sporn des Baakenhöfts, lässt sich im Tagesablauf begleiten und sagt Sätze wie „Die Gegenwart des anderen in uns zu entdecken, das ist das Wichtigste“.

Auch auf diese aparte Produktion spielt wohl die Eröffnungsrede des Kultursenators an. „Warum machen wir Theater? Weil wir auf Erkenntnis und Erkennen hoffen und weil wir uns jene Geschichten erzählen lassen wollen, die die Währung menschlicher Beziehungen sind“, glaubt Carsten Brosda, der Festivalgründer Ivan Nagel zitiert: „Weil es unerträglich wäre, wenn Menschen und Völker voreinander verstummten, gibt es ,Theater der Welt‘.“

Die Eindrücke und Geschichten, die lauten wie die leisen, lassen sich im „Haven“ ausführlich begießen und vertiefen. Bis weit nach Mitternacht tanzen Künstler mit Besuchern ihre Premieren-Anspannung zu Salsa oder arabisch-asiatischen Clubsounds im Bauch der MS Stubnitz weg. Das Festival ist angekommen: im Theaterhafen Hamburg.

Theater der Welt läuft bis zum 11. Juni. Infos und Tickets unter www.theaterderwelt.de