Hamburg. Hamburg hat, gemessen an der Einwohnerzahl, mehr Gründer als Berlin – und will als unverwechselbar wahrgenommen werden.
Bart, Mütze, fertig. Fertig ist der gefeierte Clubunternehmer im Oberhafen. Unter einer Glitzerspirale, die hier die Diskokugel ersetzt, dreht sich Johannes Schüller eine Zigarette und versucht, das Geheimnis seines Clubs zu erklären. Hinter ihm stehen Kunstblumen, ein Plastik-Vogel sowie Selbstgeschweißtes und Handgesägtes. Fragwürdige Dekorationselemente, die nicht allein der Grund dafür sein können, dass der „Moloch“ jedes Wochenende voll ist.
Staatlich geförderte Subkultur
Im Oberhafen, einem der neuen Kreativquartiere Hamburgs, wirkt nicht nur der preisgekrönte Elektroclub Moloch ideenreich zusammengewürfelt. Auch andere Künstler und Kreativunternehmungen haben auf dem alten Bahngelände am Rande der HafenCity günstige Studios, Produktionsräume und Ateliers gefunden und teils farbenfroh eingerichtet. Fast in Sichtweite zur Elbphilharmonie, dem neuen Tempel der Hochkultur, darf staatlich geförderte Subkultur gedeihen. Mit einer Parkourhalle, einem Fundusverleih namens Hanseatische Materialverwaltung, einer flexiblen Bühne in Halle 424 und der Glitzerglitterzappelbude Moloch.
Dabei ist der Oberhafen nicht Hamburgs einziger Versuch, der lokalen Kreativszene einen Raum zu geben. Inzwischen werden für Kunstschaffende immer wieder Flächen reserviert. In Zeiten, in denen Künstlerviertel fester Bestandteil jedes Stadtführers sind – in London, Peking und New York ebenso wie in Leipzig oder Dresden –, braucht auch Hamburg, da sind sich Stadtplaner, Tourismus-Experten und Politik ausnahmsweise einig, beides: kulturelle Leuchttürme und kreative Nischenviertel. Also Elbphilharmonie und Oberhafen, Schauspielhaus und Gängeviertel, Kunsthalle und Viktoriakaserne. Alte Lagerhallen und edelstahlgebürsteter Hochglanz sollen sich ebenso ergänzen wie Kopfsteinpflaster und behindertengerechte Konzertsaalzugänge.
Unprofessionell, aber niedlich
Offenbar, sagt Johannes Schüller, der zum Betreiberkollektiv des Moloch im Oberhafen gehört, hat Hamburg nicht nur auf die Elbphilharmonie gewartet, sondern auch seinen rauen Charme vermisst. Es brauchte demnach nur eine Industriebrache, die von der Stadtgesellschaft zurückerobert und neu interpretiert werden durfte, um Erfolg zu haben. Einen Ort, der mit seiner Graffiti-Patina nicht perfekt sein will, aber perfekt funktioniert. Oder, wie Schüller sagt: „Die Leute mögen uns vielleicht, weil wir auf niedliche Art unprofessionell sind.“
Unter Aufsicht der stadteigenen Kreativgesellschaft und der HafenCity GmbH soll das Kreativquartier Oberhafen nun behutsam professionalisiert und saniert werden. Damit halten zwar Begriffe wie Brandschutzauflagen und Interessenbekundungsverfahren Einzug, aber wenn es dem Ziel dient, ein Refugium für heimische Künstler zu schaffen: warum nicht? Ziel ist jedenfalls ein neues, buntes Viertel auf 6,7 Hektar.
Im inzwischen teilweise sanierten Gängeviertel zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße mussten im Jahr 2009 Künstler noch selbst aktiv werden und die vom Abriss bedrohten Häuser besetzen, um sich einen Ort für das kreativ produzierende Gewerbe zu erstreiten. Mittlerweile hat die Stadt das Potenzial solcher „freien Räume“ erkannt und stellt Orte wie das Kraftwerk Bille, das Hochwasserbassin in Hammerbrook, die Zinnwerke in Wilhelmsburg und die Viktoriakaserne in Altona den Künstlern für ihre Version von Hamburg zur Verfügung.
Es sind Viertel, die Städte wie Hamburg brüchig, aber unverwechselbar machen. Wenn man so will sind die Quartiere die schiefe Nase oder die krummen Beine einer Metropole. Denn zu perfekt schreckt ab, zu geleckt wirkt steril. Touristen erhalten oft erst in Künstlervierteln das Gefühl, etwas Spezielles zu entdecken. Vielerorts gilt: Erst kommen die Künstler, dann die Kunden. Zumal sich mit dem kreativen Milieu verschlossene Räume öffnen. Oder haben Touristen vor zehn Jahren nach dem Gängeviertel gefragt? Oder nach dem Oberhafen? Oder vor 30 Jahren nach dem Karoviertel?
Dass kleine Kreativquartiere von großer Wichtigkeit in der Außenwahrnehmung sind, beschrieb der Stadtforscher Markus Lanz jüngst für das Goethe-Institut: „Im internationalen Wettstreit der Metropolen können sich vor allem jene Städte behaupten, die als kreativ wahrgenommen werden“, so Lanz. „Mit der Entwicklung neuer Kreativquartiere versprechen sich Metropolen wesentliche Impulse für ihre Zukunftsfähigkeit.“
Hamburg bemüht sich, diese These zu beherzigen. Da brauchbare Viertel allerdings Raritäten in von Wachstumsschmerzen geplagten Städten sind, muss um jede Fläche gerungen werden. An der Elbe kümmert sich die Kreativ-Gesellschaft um Plan und Ausgewogenheit. Sie kanalisiert die Interessenten aus Kultur- und Kreativwirtschaft zwar nicht in ein neues Silicon Valley, aber gründet neue Inseln auf historischen Wurzeln.
Etwa im Speicher „M28“, in dem Künstler bald zu günstigen Konditionen in die Speicherstadt ziehen sollen. Auf acht Böden entstehen neue Arbeitsflächen mitten im Unesco-Weltkulturerbe. Das Hochwasserbassin als ehemaliger Betriebshof der Hamburger Wasserwerke wird ebenfalls umgedeutet. Das alte Industriegelände in Hammerbrook bietet Ateliers, Werkstätten, Ausstellungsflächen und bald den Club Südpol. Filmteams haben die Gewerbebrache schon entdeckt, bald werden sich wohl die ersten Touristen dorthin verirren.
Ideal sind aufgegebene Industrieflächen
Diese Flächen für die Kreativwirtschaft zur Verfügung zu stellen erfordere Mut, sagt Michael Otremba, Geschäftsführer der Hamburg Tourismus GmbH. „Metropolen wie Hamburg brauchen aber Kreativquartiere wie das Gängeviertel, das Oberhafenquartier oder die neuen Initiativen im Osten der Stadt.“ Aus ihnen speise sich eine erlebbare Atmosphäre, die das Flair der Stadt maßgeblich beeinflusst. Impulse, die von diesen Kreativschmieden ausgehen, würden die Vielfalt bereichern und Kontraste unterstreichen. „Sie sind ein wichtiger Standortfaktor“, sagt Otremba als oberster Vermarkter der Stadt. Diese Freiräume seien wichtig und notwendig.
Lebendige Milieus
Bei Flohmärkten an den Zinnwerken in Wilhelmsburg lässt sich das Ergebnis ebenso bestaunen wie an den Wänden des Gängeviertels. Dabei wird Kreativität in einer Kaufmannsstadt natürlich nicht ganz selbstlos gefördert. Lebendige Milieus spülen auch Geld in die Kasse, Kreativviertel sind nicht zuletzt Wirtschaftsfaktor. Neben Künstlern, Kulturschaffenden und Galeristen gehören auch Firmen aus Architektur, Film, Musik oder Werbung zu den Akteuren.
Ob Kopenhagen oder London, ob München oder Dresden – wer Städte besucht, sucht dort auch das Einzigartige, das Echte, das Authentische, den Geheimtipp, der natürlich keiner mehr ist, sobald er im Reiseführer steht. In Dortmund etwa wird mit dem Kunstzentrum „Dortmunder U“ geworben, die Dresdener Neustadt bietet den ansprechenden Kontrast zur barocken Postkartenkulisse, und vor allem in Leipzig hat es die Baumwollspinnerei zu einigem Ruhm gebracht. Die ehemalige sächsische Fabrikstadt ist zu einem international beachteten Zentrum der Kunstproduktion geworden. Jährlich kommen mehr als 100.000 Touristen nur deswegen, die „Neue Leipziger Schule“ ist inzwischen auch Banausen ein Begriff.
Kneipen- statt Clubpreise
In Hamburg ist 2012 eine von der Stadtentwicklungsbehörde in Auftrag gegebene Studie zu dem Schluss gelangt, dass sich kreative Milieus an spannungsreichen Orten bilden. Wie am Oberhafen, der einerseits die HafenCity, andererseits die Deichtorhallen als Nachbarn hat. Oder wie im Gängeviertel, wo alte Substanz von Neubauten umstellt ist.
Die Verfügbarkeit von Räumen, besagt die Studie, habe wesentlichen Einfluss auf den Erfolg eines Quartiers. Aufgegebene Industrieflächen – seit jeher ehrlicher Boden – seien bei Kreativen besonders beliebt. Belebt werden sie erst von Kulturinteressierten, später auch von Konservativen, die das Verruchte suchen. Stadtplanern böten die Viertel die Chance für neue Strategien und Konzepte.
Manchmal ist es aber auch viel einfacher. Im Oberhafen punktet der Moloch mit Kneipen- statt Clubpreisen. Und mit seiner Knallbonbon-Anmutung. Die neuesten Bewertungen? „Schöner Innenbereich, schöner Außenbereich, schöne Musik, schöne Menschen. Neuer Lieblingsclub.“ Oder auch: „Wunderbares Wundertüten-Firlefanzland.“ Der Moloch funktioniert nicht, weil das eine Analyse ergeben hat. Am Ende, sagt Johannes Schüller, habe Hamburg darauf gewartet, dass etwas Neues passiert. Also hat er gemacht, dass etwas Neues passiert.