Hamburg. Es ist der wohl kreativste Ort der Stadt – mit Club, Kulturzentrum und Volksküche. Jetzt werden die ehemaligen Logistikhallen saniert.

Zur Schostakowitsch-Sonate mit Violoncello und Bechstein-Flügel werden Bier und Berliner gereicht. Am Kronleuchter brennen echte Kerzen. Und statt tiefer Plüschsessel und Stuck stehen flexible Wände, Stuhlreihen und Bänke im alten Indus­trieschuppen. Alle Plätze sind besetzt – wie jeden dritten Mittwoch im Monat, wenn in Halle 424 zum Feierabendkonzert im Oberhafen geladen wird.

In Hamburg hat fast jeder schon mal irgendwas vom ehemaligen Güterbahnhof hinter den Deichtorhallen gehört, die meisten wissen aber gar nicht so genau, wo die vielleicht spannendste Industriebrache der Stadt liegt. Dabei soll der Lagerhallenkomplex mit Kopfsteinpflaster und Graffiti-Patina doch seit Jahren zum Kreativquartier und damit zum attraktiven Ausflugsziel professionalisiert werden. Außer ein paar Club-Bescheidwissern und Oberneugierigen verirrt sich bis heute dennoch kaum jemand dorthin. Viele schaffen es noch gerade so bis zur windschiefen Oberhafenkantine und denken, danach kommt nichts mehr. Doch da kommt noch was.

Rauer Charme

Obwohl sich der raue Charme des Oberhafenquartiers gut versteckt, hat das gut informierte Publikum beim Feierabendkonzert – vom Durchschnittsalter eher Laeiszhalle als Szenebar – den Weg über die Oberhafenbrücke und den rüden Straßenbelag gefunden. Vielleicht, weil Halle 424 inzwischen etabliert ist. Und das will was heißen. Denn hier, wo es an allen Ecken zieht und bröselt, fällt kaum ein Wort häufiger als „Interimslösung“.

Jahrelang hat sich das flache, lang gezogene Backsteinensemble erfolgreich in den Windschatten der Stadtplanung geduckt. Hat eingeklemmt zwischen HafenCity und Großmarkt seinen Dienst als Bahnanlage versehen. Schon währenddessen sind Künstler in die freien Logistikhallen gezogen, fanden günstige Ateliers, Studios und Produktionsräume. Dann wurde ihnen in Aussicht gestellt: Bald kommen noch mehr von euch. Bis heute warten sie darauf. Es wurde viel angekündigt und wenig geliefert.

Mehrjährige Widrigkeiten

Fotografen, Clubbetreiber, Theaterfundus, Volksküche, Jugendkulturzentrum, Antiquitätenbasar und Parkour-Unternehmer haben den mehrjährigen Widrigkeiten getrotzt. Mit viel Eigengeschraubtem, Schräg-Gelötetem und Bretter-zäunen hielten sich die Protagonisten über Wasser. Da machte es nichts, wenn der Lokführer mal in die Kunstperformance winkte. Gehörte zur Folklore. Vielleicht wirkt im Oberhafen deshalb auch heute noch vieles so frei, wie es in Berlin womöglich nie war. Unaufgeräumt, unangepasst. Der Berlin-Vergleich, er wird jedenfalls öfter bemüht.

Jürgen Carstensen, Betreiber der Halle 424, war einer der Ersten hier. Sein Publikum nennt er „Entdecker“, seine Halle sieht bei Veranstaltungen nie gleich aus – Überraschung als Konzept. Er selbst ist Fotograf. Vor 17 Jahren kam er her, damals nur als Ersatz, als er eine zugesagte Fläche in Altona nicht beziehen konnte. Im Jahr 2000, sagt er, hätten die paar anderen Kreativen hier „die ganz große Freiheit“ genossen. Jetzt, seitdem die Stadt und die HafenCity GmbH intensiver konzeptionell mitreden und dem Quartier mit bald 20 offiziellen Nutzern ganz amtlich den Kreativstempel aufdrücken wollen, bewegt sich zwar was, aber es halten eben auch wenig freigeistige Brandschutzverordnungen und Bebauungspläne Einzug.

Viele Bewerbungen

Seit bekannt ist, dass das 6,7 Hektar große Areal mit Schuppen und alten Bahngebäuden saniert werden soll und nun auch der Bund 2,4 Millionen Euro dazuschießt, kann sich die Kreativ Gesellschaft der Stadt kaum retten vor Bewerbungen. Im Jahr 2012 gab es ein erstes Interessensbekundungsverfahren, mehr als 120 Kreativunternehmungen haben seitdem Interesse angemeldet. Eigentlich sollten viele Künstler längst eingezogen sein, stattdessen sind einige wieder abgesprungen. Und jetzt? „Jetzt soll es im Sommer 2017 losgehen, dann sind die ersten Hallen saniert, können die Ersten einziehen, ganz ohne Interimslösung, dafür mit Planungssicherheit“, sagt Jean Rehders von der Hamburg Kreativ Gesellschaft.

Zuletzt drehten die Beginner im Oberhafen Teile ihres „Ahnma“-Clips. Langfristig sollen bis zu 500 Arbeitsplätze in Kultur- und Kreativwirtschaft entstehen. „Dauerhaftes kreatives Milieu“ nennt die HafenCity GmbH diese Vision. Kultureinrichtungen, Schulen, Universitäten, Vereine, soziale, ökologische oder kreative Projekte sollen das Viertel nutzen und beleben. Wie gesagt: irgendwann. Vielleicht ja tatsächlich 2017.

Mit dem Provisorium leben

Bis dahin müssen die Mieter, die schon da sind, mit dem Provisorium leben. Tun sie auch. Mehr oder weniger gut. Ob Antiquitätenhändlerin Johanna Schultz ihren alten Standort am Lehmweg in Eppendorf vor drei Jahren mit der Aussicht auf nicht vorhandene Laufkundschaft im Oberhafen aufgegeben hätte, kann sie jetzt aber nicht mehr sagen. Klar: „Ich mag die Weite hier“, sagt sie. Inspirierend sei der Ort. Und dass er Mut erfordere. „Aber ich muss von Monat zu Monat schauen, ob ich durchhalte.“

Essen für den Oberhafen: Nora und
Christian betreiben „das Dinger“
Essen für den Oberhafen: Nora und Christian betreiben „das Dinger“ © HA | Marcelo Hernandez

Die 35-Jährige nimmt in ihrem unsanierten „Showroom“ Platz, nebenan ist die Werkstatt von Designer Christoph Schmidt, auch ein Urgestein hier. Teures, Ausgefallenes und jede Menge Leuchtbuchstaben machen das Geschäft von Johanna Schultz durchaus außergewöhnlich. Nur leider nimmt davon keiner Notiz. Erst nach etlichen verlassenen Hallenmetern, ganz am Ende des Areals, kommt ihr kombinierter Werkstatt- und Verkaufsraum. Dabei hat die Frau genau das Individuelle, das viele möglicherweise wollen.

Lage ist auf dem Papier eigentlich ideal

Man muss sich hierherverirren. Oder gezielt anreisen. Die Lage zwischen Kunstmeile und Elbphilharmonie ist auf dem Papier eigentlich ideal. Eine große Chance, ein Kontrapunkt, ein Lückenschluss in der Kulturlandschaft. Deshalb wird gerade diskutiert, ob man den Oberhafen einfach besser an den Deichtorhallen ausschildert. Die Gruppe der Künstler, die auf etwas Kommerz angewiesen sind, würde lieber heute als morgen selbst Schilder basteln. Das Publikum dort wäre auch hier gut aufgehoben.

Hinschmeißen will Johanna Schultz aber nicht, bevor es wirklich losgeht. „Von der Grundidee bin ich nach wie vor überzeugt“, sagt sie. „Ich finde es spannend, bei etwas Neuem dabei zu sein, das noch nicht durch und durch verplant ist.“ Aber ohne Menschen bringe es eben nichts. „Es reicht ja nicht, hier eine Kulisse zu schaffen, die für Nacktfotos toll ist“, so Schultz. Sie will endlich in ihre sanierte Halle etwas weiter vorn, dort, wo vielleicht bald Kundschaft flaniert.

Johanna Schultz hofft auf mehr Leben
im Oberhafenquartier
Johanna Schultz hofft auf mehr Leben im Oberhafenquartier © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Der Einzug der Kreativen ins Kreativquartier ist wegen eines zähen Planungsprozesses (Bauantrag 2014, Genehmigung 2016) ins Stocken geraten, zuletzt auch, weil Künstler ein streitbares Völkchen sind. Die Oberhafenkünstler wehrten sich gegen den im Zuge der Sanierung geplanten Abriss des Gleisdachs, wenn man so will dem stimmungsvollen Herzstück des Quartiers. Neue Planungen sollen nun den Dacherhalt und mögliche Nutzungsideen berücksichtigen. Inzwischen stehen immerhin die Bauzäune. 3,9 Millionen Euro kostet die Modernisierung im ersten Bauabschnitt.

Viele hier wünschen sich eher heute als morgen die Laufkundschaft und das pralle einziehende Leben. Johannes Schüller ist einer, dem das egal sein kann – der Laden läuft – zumindest wenn er geöffnet hat und Schüller nicht gerade auf die nächste Genehmigung wartet. Brand- und Lärmschutz, ein Dauerbrenner hier. Schüller ist einer der Mitglieder des Betreiber-Kollektivs der „Moloch“, einem Club der Gängeviertel-Kommune, die den Oberhafen entdeckt hat.

„Auf eine niedliche Art unprofessionell“

Das Moloch ist für seine Partys von Freitagabend bis Sonntagnachmittag bekannt. Ein bisschen wie in Berlin, sagt Schüller, der mit Vollbart und Mütze den gängigen Oberhafenlook verkörpert: „Darauf hat Hamburg gewartet, dass endlich was passiert.“ Sonst sterbe ein Club nach dem nächsten, hier gibt’s mal was Neues.

Schüller punktet bei seinen Besuchern mit Kneipen- statt Clubpreisen und damit, dass alles „auf eine ganz niedliche Art und Weise unprofessionell“ ist. Bei gutem Wetter kommen um die 1000 Besucher pro Party. Wer an einem Sonntagmittag im Sommer im Oberhafenquartier unterwegs ist, hat gute Chancen, Gäste, für die der vergangene Tag noch in vollem Gange ist, tanzen zu sehen. Überall stehen seltsame Gegenstände oder Pappfiguren, hängen Glitzergirlanden, Plastikgestrüpp und krumme Garderobenständer in der Gegend rum. Es ist ein Ort, der funktioniert, weil er funktioniert und nicht weil eine Analyse oder ein Konzept ergeben haben, dass er funktionieren könnte.

Klassische Musik beim Feierabendkonzert
in der Halle 424
Klassische Musik beim Feierabendkonzert in der Halle 424 © HA | Roland Magunia

Auch Jean Rehders bestätigt, dass es am Anfang für die konservative HafenCity GmbH nicht leicht war, zu akzeptieren, dass die Dinge hier anders laufen. Im Viertel erzählt man sich gern die Geschichte, dass das Lackieren eines Zaunes womöglich erst europaweit ausgeschrieben wird, bis einer mitkriegt, dass ein Maler nebenan lebt. Wie dem auch sei – das Moloch ist zum ausgezeichneten Vorzeigeprojekt geworden, zwei Club-Awards gab es in diesem Jahr, darunter den Publikumspreis.

Vom Bekanntheitsgrad wird der Moloch nur von der Hanseatischen Materialverwaltung übertroffen. Längst gerühmt für das Konzept, alte Theaterkulissen an neue Projekte zu verleihen oder Ausrangiertes aus dem Fundus in private Hände abzugeben. Folglich sieht es in Halle 3 aus wie beim Bühnenbauer unterm Sofa. Pappsaurier, Kinoprojektor, Ruderboot, Omas Plüschsofa und allerhand Klimbim. Seit 2013 ist hier jeden Tag Flohmarkt.

Materialverwaltung etabliertes Zugpferd

Mittendrin steht frierend Petra Sommer, Chefin des Ganzen. Keine Heizung, feuchte Böden, trotzdem freut sie sich über diesen Ort. Der Oberhafen, das sei ein Platz, wie es ihn kein zweites Mal in Hamburg gebe. Okay, etwas „holprig“ sei der gesamte Sanierungs- und Einzugsprozess. „Aber das wird eine gute Mischung hier“, sagt sie.

Sebastian Ploog freut sich, dass die
Parkourhalle bald eröffnet
Sebastian Ploog freut sich, dass die Parkourhalle bald eröffnet © HA | Marcelo Hernandez

Neben der Halle 424 ist die Materialverwaltung zum etablierten Zugpferd geworden, wenn man das bei bescheidenem öffentlichen Interesse sagen kann. Im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Bahnhofs gäbe es genügend Gründe, richtig frustriert zu sein. Doch stattdessen sind Jungunternehmer Sebastian Ploog und seine Mitstreiter top drauf. Obwohl sich seit Jahren nur Pre-Opening an Pre-Opening reiht und auf der Internetseite für ihre Parkourhalle „Die Halle ist geschlossen – Eröffnung 2017“ prangt. In wenigen Wochen soll es losgehen. Dann aber wirklich.

In der Halle 4, die gerade saniert wird, wollen sie einen großen Parkourpark eröffnen. „Bei den Pre-Openings hat sich gezeigt, dass der Bedarf da ist. Schulklassen rennen uns die Bude ein.“ Viele fragen nach, wann es endlich wieder losgeht, manchmal stehen die Interessenten sogar unten vor der Tür. Und immer müssen Sebastian und seine Crew sagen: „Leider geschlossen.“

Aufbruchstimmung ist verpufft

„In den vergangenen Jahren haben wir etwa 13.000 Stunden unbezahlt in das Projekt gesteckt. Da war man manchmal schon kurz davor, dass einem die Puste ausgeht.“ Aber irgendwie ist es auch egal, wie viel Vorlauf man hat, ganz am Ende wird es immer stressig. Derzeit sitzen sieben junge Männer in T-Shirts und Kapuzenpullover hier zusammen und planen, basteln an den Modellen und Skizzen herum, organisieren Handwerker und Techniker.

Damit sind die Parkour-Unternehmer deutlich näher am Ziel als viele andere hier. Der Verein Lukulule (Lust an Kunst und Lust am Leben) will hier seinen vierten und größten Standort zum Jugendkulturzentrum in Halle 2 ausbauen, muss aber zunächst vorlieb mit einem gläsernen Tanzsaal im Verwaltungstrakt nehmen. Betreiberin Meike Ohene-Dokyi ist dennoch zuversichtlich: „Das wird toll. Das fehlt dem Stadtteil“, sagt sie. Schon jetzt seien ihre Kurse voll. Auch wenn sie ihre Räume neben einem weiteren Künstler und über der Filmfabrique, einem Co-Working-Space für freiberufliche Filmschaffende, hat.

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Wie eng der Kontakt unter den einzelnen Akteuren ist, ist schwer auszumachen. Die ganz große gemeinsame Aufbruchstimmung der „Oberhafen-WG“ der ersten Monate ist etwas verpufft, die Interessen vielleicht zu unterschiedlich, und am Ende muss doch jeder für sich schauen, wie es weitergeht. Wobei es einen Ort gibt, an dem die Oberhafen-Crew zusammenfindet. Wie in jeder WG ist es auch hier: die Küche.

Im Prinzip betreiben Nora und Christian „das Dinger“ wie ein Mittagessen für die Familie. „Man fragt vorher, wer zum Essen kommt, und kocht dann mehr oder weniger“, sagt Christian. Eine Speisekarte gibt es nicht. Es gibt immer nur ein Gericht, meist noch mit einer vegetarischen Variante. „So wird gegessen, was auf den Tisch kommt“, sagt Christian. Oder eben nicht. Ansprüche runterschrauben, Reduktion aufs Wesentliche, das passt im Oberhafen. Vielleicht dem kommenden Kreativquartier Hamburgs. Vielleicht aber auch nicht.