Hamburg. 40 Jahre auf dem Meer – dann kaufte Herbert Stender vor 30 Jahren sein „Schlemmereck“. Das Jubiläum wird jetzt gefeiert.
Auf den ersten Blick sieht die kleine Eckkneipe am Hamburger Berg aus wie so viele Kneipen rund um die Reeperbahn. Bunte Aufkleber schmücken den Tresen, hinter dem sich im Regal kleine Buddelschiffe aneinanderreihen. Eine große Knotentafel ziert die Wand, dazu unzählige Fotos von Schiffen auf stürmischer See. Doch anders als in vielen Kneipen sind die Bilder und Gegenstände keine bloße Hafenfolklore, die an den ehemals maritimen Charme von St. Pauli erinnern soll. Zwar mögen Hafenarbeiter und Matrosen schon lange aus dem Straßenbild verschwunden sein – im Schlemmereck findet man ihn noch: den wohl letzten Seemann vom Kiez.
Fast 40 Jahre lang war Wirt Herbert Stender auf den Meeren dieser Welt zu Hause. Ob Martinique, San Diego oder New Westminster – es gibt kaum einen Hafen auf der Welt, den der kräftige Schnauzbartträger mit den tätowierten Unterarmen nicht gesehen hat. Ein Wink des Schicksals bescherte ihm Ende der 80er-Jahre eine kleine Eckkneipe auf dem Kiez. Trotzdem fuhr er weitere acht Jahre zur See. An diesem Sonnabend feiert der 77-Jährige sein 30-jähriges Kneipenjubiläum. Eine Einladung hat zu diesem Anlass niemand bekommen, denn der Wirt weiß: Am Ende werden sie alle kommen. Nachbarn und die St.-Pauli-Fans, ebenso wie die Anhänger der norwegischen Band Turbonegro, die die Kneipe vor Jahren als Mekka für ihr jährliches Fantreffen, die „Weltturbojugendtage“, auserkoren haben.
Hier werden auch Anekdoten serviert – wenn man sich benimmt
Für sie alle ist „Häbät“ mehr als nur ein Kneipenwirt. Sie lieben und verehren ihn hier für seine charmante, manchmal auch kodderige und doch stets geradlinige Art, mit der der Haudegen hinter seinem Tresen regiert. Wer hier ein Bier trinken oder gar eine Portion seiner berühmten Bratkartoffeln probieren will, muss sich mit dem Hausherrn gut stellen. Wer unangenehm auffällt, den begleitet Herbert Stender auch heute noch persönlich zur Tür. Wer sich hingegen zu benehmen weiß und sich für ein paar Stunden an den schmalen Holztresen setzt, kann darauf hoffen, dass der Wirt im Laufe des Abends eine der legendären Anekdoten aus vier Jahrzehnten auf hoher See zum Besten gibt.
Die erste Reise führte als Decksjunge nach Südengland
Den Entschluss zur See zu fahren, hatte der gebürtige Neumünsteraner nach dem frühen Tod seiner Eltern schon in jungen Jahren gefasst. Es bedurfte jedoch einer Menge Überredungskunst, bis der Onkel zustimmte, den damals 16-Jährigen am 6. Oktober 1955 erstmals an Bord eines Küstenmotorschiffs in Richtung Südengland gehen zu lassen. Die Adressen und Telefonnummern seiner Verwandten und Freunde warf der Decksjunge bereits kurz nach dem Auslaufen über Bord. Für ihn gab es kein Zurück mehr. Sein Wohnort war nun auf See. Mal ging es in den darauffolgenden Jahren mit einem Autofrachter nach Kapstadt, ein anderes Mal heuerte er an Bord eines Tankschiffes in Richtung Bombay, dem heutigen Mumbai, an. Vom schwedischen Bananendampfer bis hin zum 320.000 Tonnen schweren Supertanker war in den vier Jahrzehnten alles dabei. Um die 55 Schiffe, so schätzt Stender rückblickend, habe er im Laufe seines Lebens sein vorübergehendes Zuhause genannt.
Langweilig sei es auf all den Reisen selten geworden. Seine kräftigen und zerfurchten Hände zeugen bis heute von der harten Arbeit, die auf den Schiffen zu verrichten war. „Das war Seefahrt, nicht deine Eierzeit“, sagt Stender, der über die Jahre vom Leichtmatrosen bis zum Schiffsbetriebsmeister aufstieg. „Anpacken statt Rumschnacken“, lautete die Devise. Dass neben der harten Arbeit an Bord auch ordentlich gefeiert wurde, daraus macht der Wirt kein Geheimnis und zeigt auf den eingerahmten Taufschein hinter ihm an der Wand, den ein Besatzungsmitglied bekam, sobald er zum ersten Mal auf See den Äquator überquerte.
Erinnerungen an die "höllischen" Äquatortaufen
„Das war eine höllische Party“, erinnert sich der 77-Jährige an seine Äquatortaufe. „Früh morgens wurdest du erst einmal für ein paar Stunden nahe dem Maschinenraum eingesperrt, wo es besonders laut und heiß war.“ Daran anschließend wartete ein Bad in einem mit Abfällen gefüllten Ölfass auf den jungen Seemann. Anschließend habe man den Täufling abgeholt und in das Schwimmbad gebracht, wo eine Reihe weiterer Aufgaben auf ihn wartete. „Und zu guter Letzt kam die Taufe. Da wurdest du so lange gedöppt, bis du den einen oder anderen Bierkasten spendiert hast.“
Kein Wunder, dass die Vorräte an Bord meist viel zu schnell zu Ende gingen und die Besatzung so manches versteckte Depot an Bord anlegte. „Als wir in Martinique lagen, wollten mein Kumpel und ich kurz vor dem Auslaufen noch ein bisschen Rum besorgen. Dummerweise liefen wir dabei ein paar Polizisten in die Arme, die uns gleich mit aufs Revier nahmen. Unser Schiff war natürlich weg.“ Erst Wochen später fanden sie ein Schiff, das sie für Kost und Logis mit nach Europa nahm. Ein Leben in der Karibik, das hätte sich Herbert Stender ohnehin nicht vorstellen können. „Was will man da? Du liegst gelangweilt am Strand, bis dir irgendwann eine Kokosnuss auf den Kopf fällt.“
Früher waren die Kneipen mit Seeleuten gefüllt
Für den 77-Jährigen gab es in all den Jahren nur einen Ort, an den es ihn immer wieder zurückzog. Nach Hamburg-St. Pauli. Die Kneipen südlich der Reeperbahn waren zur damaligen Zeit Tag und Nacht mit Seeleuten aus aller Welt gefüllt. „Auch wenn du mal monatelang unterwegs warst, wusstest du, dass dort immer jemand steht, den du kennst.“ Dabei sei es auch mal vorgekommen, dass man vor lauter Wiedersehensfreude nahezu die komplette Heuer versoffen habe. „Eine Koje zum Schlafen hast du aber immer gefunden, sei es im Seemannsheim, bei einem befreundeten Matrosen oder bei einer freundlichen Lady“, wie Stender augenzwinkernd hinzufügt.
Einen Teil seiner Einkünfte legte der Seemann indes stets zur Seite. Doch noch bevor er sich schließlich sein erträumtes Motorboot kaufen konnte, kam jener schicksalhafte Tag im Mai 1987 dazwischen, ohne den aus dem Seemann nie ein Wirt geworden wäre. „Mein Kumpel, der in einer Kneipe am Hamburger Berg als Koch arbeitete, hatte von einem auf den anderen Tag die Möglichkeit, den Laden zu kaufen. Da er gerade pleite war und ich etwas gespart hatte, bin ich spontan eingesprungen und habe die Kneipe gekauft.“
Der erste Kompagnon brannte mit den Einnahmen durch
Doch einen gestandenen Seemann wie Herbert Stender holt man nicht so schnell an Land. Acht Jahre fuhr er weiter zur See, bis sein ehemaliger Kompagnon eines Tages mit den Kneipeneinnahmen durchbrannte und auch er selbst spürte, dass seine Tage auf See gezählt waren. Denn mit der zunehmenden Automatisierung im Schiffsbetrieb, wurde es einsam für den Seemann an Bord. Plötzlich war da niemand mehr, mit dem man klönen konnte oder auch nur eine Runde Skat hätte spielen können.
Als Wirt muss er sich heute um Einsamkeit keine Sorgen machen. Im Inneren seiner kleinen Eckkneipe geht es auch heute noch an manchem Abend zu wie früher auf See. „Das bringt Spaß mit den jungen Leuten und hält mich jung“, sagt der 77-Jährige, der über die Jahre zu einer heimlichen Ikone auf dem Kiez geworden ist. Während sich im schnelllebigen Szeneviertel so vieles verändert, hippe Cocktailbars kommen und urige Eckkneipen verschwinden, liegt sein Schlemmereck noch immer fest vor Anker. Wer hier vorbeischaut, findet ein Stück St. Pauli, das längst in Vergessenheit geraten ist und von dem kaum einer weiß, dass es noch existiert. Bleibt zu hoffen, dass der letzte Seemann vom Kiez nicht so schnell von Bord geht.
Schlemmereck, Hamburger Berg 27, S-Reeperbahn, geöffnet ab 17 Uhr.