Hamburg. Heute wurde die Gedenkstätte denk.mal Hannoverscher Bahnhof eingeweiht. Mehr als 8000 Juden, Sinti und Roma wurden von dort deportiert.

Nachdenklich betrachtet der alte Herr das Areal des Gedenkortes, über den an diesem Frühlingstag ein kalter Wind pfeift. Noch sind die Tafeln mit den Namen der Menschen, die von hier aus deportiert wurden, verhüllt. Auf einer der Glasplatten wird auch sein Name zu lesen sein: Rigoletto Weiß.

Die Tafeln befinden sich am Gleis 2, dem Bahnsteig, an dem damals die Waggons bereitstanden. Der Bahnhof ist längst verschwunden, die Gleise führen ins Nirgendwo. Die heutige Bahntrasse verläuft ein Stück weiter östlich, von Süden her nähert sich ein ICE, nimmt eine leichte Rechtskurve und fährt über die Oberhafenbrücke Richtung Hauptbahnhof.

Täter und Opfer: Eva Justin befragt in Hamburg eine Sintiza, Robert Ritter hält sich im Hintergrund. Das Bild entstand wahrscheinlich 1938
Täter und Opfer: Eva Justin befragt in Hamburg eine Sintiza, Robert Ritter hält sich im Hintergrund. Das Bild entstand wahrscheinlich 1938 © Bundesarchiv

In Begleitung seines Enkels Arnold sieht Rigoletto Weiß auf den Ort, der heute völlig anders erscheint als vor 77 Jahren. Nur das Pflaster des Bahnsteigs, auf dem er steht, lag schon damals hier. Der 88-Jährige hält sich aufrecht und strahlt natürliche Würde aus. Mit heller Hose, dunklem Sakko, Krawatte und Hut wirkt er auf beinahe anrührende Weise feierlich. Langsam ist er durch die neu angelegte „Fuge“ vom Lohseplatz hierher zum Gedenkort gelaufen.

Er schaut zurück zur Stadt, scheint aber eher nach innen zu blicken. „Dort stand der Fruchtschuppen C“, sagt der Enkel, und Rigoletto schaut in die Richtung, wo eigentlich nichts zu sehen ist. Aber ein Wiedererkennen dieses schicksalhaften Ortes wäre nicht möglich. Alles ist heute anders als im Mai 1940, als Rigoletto Weiß schon einmal hier war. Was früher ein Bahn- und Industrie­gelände war, ist heute ein Park mit Spielplätzen, Bänken und Grünflächen. Und ein Gedenkort, der die Erinnerung an ein Geschehen wachhalten soll, das so grausam war, dass es sich jeder Vorstellbarkeit entzieht.

Der „Schulausflug“ endete im polnischen Belzec

Am 20. Mai 1940 war er hier, als elfjähriges Kind, das nicht wusste, wie ihm geschah­. Am Bahnsteig warteten Güterwagen der Deutschen Reichsbahn, in die die Menschen jetzt hineingetrieben wurden. Daran erinnert sich Rigoletto Weiß noch genau, und auch daran, dass die meisten Hunger hatten. Man würde nach Polen fahren, wo es den Zigeunern dann besser ginge, sie eine sichere Existenz hätten, sagte man den Menschen.

Vier Tage zuvor, am 16. Mai, sollten nur die „Zigeunerkinder“ zur Schule an der Maretstraße gehen, die arischen Schulkameraden hatten an diesem Tag frei. Man werde einen Ausflug machen, hatten die Lehrer gesagt. Der „Ausflug“ führte die Kinder in den Fruchtschuppen C am Magdeburger Hafen, nur ein paar 100 Meter vom Hannoverschen Bahnhof entfernt. Dorthin wurden auch die Eltern gebracht, die die Polizei auf dem Wohnwagenplatz an der Wasmer­straße in Rönneburg verhaftet hatte. „Dort war es furchtbar“, sagt Rigoletto Weiß und schüttelt den Kopf. Mehr will er jetzt nicht sagen.

Ein Schwarz-Weiß-Foto, das wahrscheinlich zwei Jahre zuvor entstanden ist, zeigt eine merkwürdige Szene: Auf der Eingangstreppe eines Wohnwagens sitzt vor der geöffneten Tür eine Frau mit langem Rock, die einer elegant gekleideten jungen Dame, die vor ihr steht, offenbar etwas erklärt. Die junge Frau trägt eine Handtasche und hat sich einen Aktenordner unter den rechten Arm geklemmt. Mehrere Schritte hinter ihr steht ein Mann in langem Mantel, der die Szene aus der Distanz beobachtet.

Wie der Schauplatz zum Gedenkort wurde

1993

stellt die Deutsch-Jüdische Gesellschaft eine Gedenktafel auf, die auf den Deportationsort hinweist.  

2000

wird im Zusammenhang mit den HafenCity-Planungen erstmals über einen Gedenkort diskutiert.  

2004

legt die Forschungsstelle für Zeitgeschichte eine  Studie zu dem historischen Geschehen vor. Die Kulturbehörde beginnt einen Planungsprozess, in den die Opferverbände von Anfang an mit eingebunden sind.  

2008

wird die Realisierung eines Gedenkortes im Koalitionsvertrag festgeschrieben.  

2009/10

zeigt das Kunsthaus Hamburg die Ausstellung „In den Tod geschickt. Die Deportation von Juden, Sinti und Roma aus Hamburg 1940 bis 1945“. Das Büro Landschaftsarchitekten Vogt aus Zürich erhält den Auftrag zur gestalterischen Umsetzung des Lohseparks einschließlich des Gedenkortes.  

2011/12

entwickeln 40 Jugendliche in dem Projekt „Wie wollt ihr euch erinnern?“ Formate der Erinnerung für ein neues  Dokumentationszentrum.  

2013

eröffnet die Kulturbehörde den Info-Pavillon auf dem Lohseplatz. 

2016

 wird der Lohsepark eröffnet und die „Fuge“, die den Vorplatz mit dem zentralen Gedenkort an Bahnsteig 2 verbindet, fertiggestellt. Das Büro Wandel Lorch Architekten gewinnt den 1. Preis für das Gebäude, in dessen Erdgeschoss das künftige Dokumentationszentrum einziehen wird.  

10. Mai 2017

Einweihung des Gedenkortes denk.mal Hannoverscher Bahnhof.

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Wie die alte Frau heißt, wissen wir nicht, doch bei der jungen Dame handelt es sich um Eva Justin, ihr älterer Begleitet ist Robert Ritter. Die damals 28-Jährige beherrschte Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, und konnte mit ihrer freundlichen Art schnell das Vertrauen jener Menschen gewinnen, die sie als Zigeuner bezeichnete. Robert Ritter war ihr Chef, er leitete die Rassenhygienische Forschungsstelle in Berlin. Gemeinsam waren sie nach Hamburg gekommen­, um in einem hiesigen „Zigeunerlager“ durch Befragungen festzustellen, wer als „Voll-Zigeuner“, „Zigeuner-Mischling“ oder als „Nicht-Zigeuner“ einzustufen sei. Gemeinsam erstellten die beiden nationalsozialistischen Rassentheoretiker Stammbäume und bauten ein Sippenarchiv auf, um damit die Lösung des „Zigeunerproblems“ voranzutreiben.

Rigoletto Weiß ist Eva Justin damals persönlich begegnet. „Lolitschai“ nannten die Sinti die junge Frau, die zunächst freundlich war, Schokolade verschenkte, aber Fragen stellte: „Wie heißt dein Vater? Wo kommt er her? Wo sind deine Großeltern? Wer gehört noch zur Familie?“ Die Lolitschai war es auch, die den Namen von Rigoletto Weiß auf die Liste des ersten Deportationszugs nach Belzec setzte.

Fast fünf Tage verbrachten etwa 1000 Sinti und Roma aus Hamburg und Norddeutschland in drangvoller Enge im Fruchtschuppen C. Da die hygienischen Bedingungen und die Verpflegung menschenverachtend waren, starben einige bereits hier. 910 Menschen trieb man schließlich auf den Hannoverschen Bahnhof, wo an Gleis 2 der Zug mit den Güterwagen bereitstand.

Die etwa 300 Meter lange Strecke vom Fruchtschuppen zum Bahnsteig war für die meisten Hamburger Sinti und Roma der letzte Weg, den sie in ihrer Heimatstadt zurücklegten. Insgesamt mehr als 8000 Juden, Sinti und Roma wurden zwischen 1940 und 1945 vom Hannoverschen Bahnhof aus in den Osten deportiert. Sie verhungerten, starben bei der Zwangsarbeit oder wurden in Vernichtungslagern ermordet.

Porajmos heißt auf Romanes „das Verschlingen“

Für den nationalsozialistischen Völkermord gibt es mehrere Begriffe, der Schoah fielen etwa sechs Millionen Juden zum Opfer. Für den Mord an den insgesamt etwa 500.000 Sinti und Roma gibt es das in der Öffentlichkeit weit weniger bekannte Wort „Porajmos“. Aus dem Romanes übersetzt heißt es: „das Verschlingen“. Die allermeisten der damals deportierten Sinti und Roma wurden in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 bei der „Liquidierung des Zigeunerlagers“ in Auschwitz ermordet.

Noch vor 20 Jahren erinnert auf dem Gelände des ehemaligen Hannoverschen Bahnhofs nichts an das damalige Geschehen. Erst im Zusammenhang mit der Planung der HafenCity rückte das verwilderte, überwucherte und nahezu vergessene Areal langsam wieder ins Blickfeld. 2001 wurde am Fruchtschuppen C eine Tafel enthüllt, die an das Sammellager der Sinti und Roma erinnert. Doch bis zur Eröffnung des Gedenkortes denk.mal am heutigen Mittwoch war es noch ein langer Weg.

Rigoletto Weiß bleibt vor den Tafeln stehen, auf denen die 7741 von hier aus Deportierten verzeichnet sind, deren Namen ermittelt werden konnten. Die Gesamtzahl liegt wahrscheinlich bei 8083. Er gehört zu den ganz wenigen, die überlebt haben, und der verschwindend kleinen Zahl jener, die auch heute noch am Leben sind. Dazu zählen unter anderen Else Baker, Ruth Dräger, Lucille Eichengreen, Fred Leser, Curtis Stanton und Gottfried Weiß. Einige werden bei der heutigen Einweihung vor den Tafeln stehen, ihre Namen wiederfinden – und die von endlich vielen, die längst nicht mehr leben und doch nicht vergessen sind.

Aber es gibt auch andere Namen, die nicht vergessen werden sollen, die Namen der Täter. Die meisten von ihnen blieben nach der Befreiung von Nationalsozialismus weitgehend unbehelligt. Robert Ritter zum Beispiel, der alle Vorwürfe von sich wies, sich reinzuwaschen verstand und 1948 zum Obermedizinalrat befördert wurde. Auch seine Mitarbeiterin Eva Justin, die Lolitschai, zeigte weder Unrechtsbewusstsein noch Reue. Der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer hatte zwar gegen sie ermittelt, doch 1960 wurde das Verfahren „aus Mangel an Beweisen“ eingestellt.

"Zigeuner-Krause" starb 1954 als geachteter Hamburger

Und schließlich Kurt Krause, ein Hamburger Polizeioffizier, der stellvertretend für viele andere Täter genannt werden soll. Als Leiter der Zigeunerdienststelle in Hamburg war er für die Abwicklung der Deportationen zuständig. „Zigeuner-Krause“, wie er von Kollegen genannt wurde, war unter den Sinti und Roma gefürchtet. Im September 1945 griffen ihn die Engländer auf, er kam nach Neumünster in Haft, wurde aber bereits im Februar 1946 wieder entlassen.

Drei Monate später arbeitete Krause als Oberinspektor bei der Hamburger Kripo. Es lässt tief blicken, dass ausgerechnet er dafür zuständig war, jene Bescheinigungen auszustellen, mit denen sich Sinti ihre KZ-Haft bestätigen lassen sollten. Einige von ihnen erkannten ihren Peiniger wieder und zeigten ihn an. Er wurde im Juli 1946 aus dem Dienst entlassen und im Dezember zu drei Jahren Haft verurteilt. Aber schon im März 1949 war Kurt Krause wieder frei, wenig später stufte man ihn im Entnazifizierungsverfahren als „entlastet“ ein. Am 29. September 1954 starb er als geachteter Hamburger Bürger.

Schreckliche Bilder im Kopf

Als der erste Deportationszug im Mai 1940 in Belzec ankam, mussten die Sinti ihr eigenes Konzentrationslager bauen. Rigoletto Weiß hat bis heute schreckliche Bilder davon im Kopf. „Mein Großvater kam später ins Warschauer Getto und von dort zur Zwangsarbeit in das Lager Mittelbau-Dora bei Nordhausen im Harz“, sagt Arnold Weiß, der mit Rigoletto Romanes spricht.

Nach Kriegsende haben sich die Überlebenden seiner Familie in Bremen getroffen. Später ist Rigoletto Weiß in seine Heimatstadt zurückgekehrt, hat als ambulanter Händler gearbeitet, geheiratet und vier Kinder bekommen. „Es war die Gnade Gottes, sonst hätte ich nicht überlebt“, sagt zum Abschied der weißhaarige alte Mann. Auch wenn es ihm inzwischen schwerfällt, sich an manche Details genau zu erinnern, sagt er leise: „Es war eine schlimme Zeit. Das kann man nicht vergessen.“