Hamburg. 51 Jugendliche wurden am Freitag für vier Projekte im Ernst-Deutsch-Theater mit dem Bertini-Preis ausgezeichnet.
In einer Welt, die scheinbar aus den Fugen gerät, in der Hassparolen und Fremdenfeindlichkeit immer lauter werden und sich demokratische Kräfte neu formieren müssen, haben sich Hamburger Jugendliche in vier Projekten gegen Unrecht, Ausgrenzung und gegen das Vergessen starkgemacht. Am Freitag wurden die 50 Schülerinnen und Schüler und eine Studentin im Ernst-Deutsch-Theater dafür mit dem Bertini-Preis ausgezeichnet. Zum 19. Mal wurde die Auszeichnung verliehen. Benannt ist sie nach dem Familienroman des Schriftstellers Ralph Giordano „Die Bertinis“ .
Der vor drei Jahren verstorbene Autor und Publizist hätte sich über die engagierten und kreativen Projekte dieser Jugendlichen mit Sicherheit gefreut. Denn es war das erklärte Ziel des gebürtigen Hamburgers, der mit seiner jüdischen Familie nur knapp dem Vernichtungslager Auschwitz entkam, die Demokratie und die Menschlichkeit mit aller Kraft zu verteidigen.
"Eine Demokratie braucht Menschen wie euch"
Darauf ging auch die erste Rednerin der festlichen Preisverleihung vor ausverkauftem Haus ein, die Theater-Intendantin und Vorsitzende des Bertini Preis e.V. Isabella Vértes-Schütter. Besonders nach dem vergangenen Jahr mit dem aufkeimenden Fremdenhass vermisse sie schmerzlich die mahnenden und ermutigenden Worte des Publizisten, sagte sie. „Wer die Demokratie angreift oder beschädigt, der bekommt es mit mir zu tun, der hat mich am Hals“, zitierte sie Giordano und fügte hinzu, „wer die Demokratie attackiert, sollte uns alle am Hals haben.“ Sie lobte die jungen Preisträger: „Ihr beispielgebendes Engagement brauchen wir für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.“
Diesen Gedanken unterstrich auch die Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Melanie Leonhard (SPD). „Eine Demokratie braucht standhafte, wehrhafte Demokraten, eine Demokratie braucht Menschen wie euch“, sagte sie an die Schüler gewandt. In diesem Sinne sei dieser Tag der Erinnerung – der Bertini-Preis wird stets am 27. Januar, dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Holocaust verliehen – auch gleichzeitig ein Tag der Freude.
Anschaulich und lebhaft ging auch Festrednerin Anja Reschke auf die Bedeutung des Preises vor dem Hintergrund der heutigen politischen Entwicklungen ein. „Seid mutig! Setzt euch ein, lasst euch nicht einschüchtern!“ Diese Appelle hätten für sie vor langer Zeit an Gewicht verloren, weil sie davon überzeugt gewesen sei, dass es in diesem demokratischen Land kaum Ausgrenzung gebe, dass sich die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte schon nicht wiederholen könnten“ sagte die Moderatorin des Fernsehmagazins „Panorama“. Doch dann seien im Sommer 2015 mit der Flüchtlingskrise hasserfüllte Kommentare, brennende Asylheime und immer mehr Hetze aufgekommen. Sie habe gedacht, dass jemand nun mal etwas dagegen sagen müsse, so Reschke.
Letztlich war es die Moderatorin selbst, die sich in einem aufsehenerregenden Kommentar in den „Tagesthemen“ gegen Hass und Hetze wandte. Und die von den Zuschauern im Netz nicht nur Lob bekam, sondern sich auf einmal auch Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt sah: „Ich kam mir zunächst nicht mutig vor, schließlich habe ich mich nicht vor Panzer gestellt. Erst an den Reaktionen habe ich gemerkt, dass es mutig war, mich gegen die Hetze zu wenden. Ich habe gemerkt, dass das, was ich für Geschichte hielt, ganz schön nah kam“, gestand sie offen ein und bekannte: „Ich habe gelernt, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, dass man sie andauernd verteidigen muss. Die Mehrheit, auf die es ankommt, setzt sich aus jedem Einzelnen zusammen.“ Ihr Plädoyer für die Demokratie wurde mit großem Beifall belohnt, ebenso wie die Worte des NDR-Moderators Christian Buhk, der erstmals durch die Veranstaltung führte. Er freue sich ehrlich, sagte er, hier zu moderieren, denn „in Zeiten, in denen Lügen als alternative Fakten dargestellt werden, ist es ganz wichtig, dass es junge Menschen gibt, die wachsam sind“.
Deutsche auf der Flucht in ein arabisches Land
Nach kurzen Popstücken junger Musiker der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg wurden die vier Preisträgerprojekte mit kurzen Videoeinspielungen vorgestellt und anschließend mit den jeweiligen Paten des Bertini-Vereins auf die Bühne gebeten, wo sie die Auszeichnung und einen Scheck von je 2500 Euro überreicht bekamen.
Erstmals übersetzten die Gebärdensprachdolmetscherinnen Celine Sawkins und Christine Müller die Veranstaltung, da auch eine gehörlose junge Frau unter den Preisträgern ist. Die Studentin Antonia Ricke hatte zusammen mit weiteren gehörlosen Aktiven eine Initiative zur Unterstützung gehörloser Flüchtlinge gegründet. „Antonias Engagement zeigt, dass auch ein tauber Mensch ein starkes Mitglied der Gesellschaft sein kann“, sagte ihre Patin Gabriele Kroch von der Howard und Gabriele Kroch-Stiftung und bedankte sich mit dem Gebärdenzeichen für Applaus, wie auch das Publikum, das es zuvor von den Dolmetschern gelernt hatte. Viel Beifall erhielten auch die 27 Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg, die in ihrem Theaterprojekt „Krieg – Wohin würdest du fliehen?“ anschaulich machten, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Indem sie die Perspektive umdrehten und Deutsche als Flüchtlinge in ein arabisches Land schickten.
Ein weiteres Theaterprojekt von 14 Schülern der Stadtteilschule Am Hafen behandelte die Taten des rechtsextremen NSU und erinnerte an dessen Opfer. Ein Projekt der Erinnerung hatten auch die neun Schüler der Klasse 9P der Schule Schwarzenbergstraße in Harburg erarbeitet. In einer Ausstellung machten sie die Opfer des NS-Regimes auf vielfältige Weise sichtbar.
Die vier ausgezeichnete Projekte
Beispielhaftes Engagement für gehörlose Flüchtlinge
Schon seit ihrer Jugend setzt sich Antonia Ricke (22) in verschiedenen Organisationen für die gesellschaftliche Teilhabe gehörloser Menschen ein. Die Psychologiestudentin ist selbst von Geburt an taub. Als 2015 die große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam, war für sie klar, das auch gehörlose Menschen darunter sein würden und diese besondere Hilfe bräuchten. Denn allein unter Hörenden sind sie oft sozial isoliert und von Informationen, über die sich Hörende austauschen können, ausgeschlossen. Gemeinsam mit vier weiteren Aktiven gründete sie die Initiative „Deaf Refugees Welcome Hamburg“ (Taube Flüchtlinge Willkommen) und bot in Flüchtlingsunterkünften Hilfe an.
So begleitete sie die Geflüchteten etwa auf Ämter, organisierte Kurse zum Erlernen der deutschen Gebärdensprache. Und lernte „viele herzliche und offene Menschen kennen“, so Antonia Ricke, die mit ihrer Patin Gabriele Koch zur Verleihung kam.
Thema Rechtsradikalismus auf die Bühne gebracht
14 Schülerinnen und Schüler aus der Oberstufe der Stadtteilschule Am Hafen befassten sich mit den Tätern des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und deren Mordopfern. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin Celina Rahman erarbeiteten sie das Theaterstück „Rosarot ist eine Mischfarbe“. Als Grundlage für ihre Szenen dienten ihnen die Gerichtsprotokolle des derzeit in München laufenden NSU-Prozesses gegen Beate Zschäpe.
Zur Auseinandersetzung mit den rechten Strukturen in Deutschland traten die Hamburger Jugendlichen auch mit Schülern aus Chemnitz und Zwickau in Kontakt. Ihr Ziel: Ihre Szenen sowie die der ostdeutschen Schüler beim Chemnitzer Theatertreffen wie auch in Hamburg gemeinsam auf die Bühne zu bringen. „Wir wollten mit unserem Stück alle Jugendlichen ansprechen, um sie auf das Thema Rechtsradikalität aufmerksam zu machen“, sagt Steven Günzel (19) von der Stadtteilschule Am Hafen.
Wohin würdest du fliehen, wenn hier Krieg herrschte?
Einen neuen Blick auf das Thema Flucht warfen die Schüler des Theaterkurses im Helmut-Schmidt-Gymnasium in Wilhelmsburg. Auf Grundlage einer Erzählung der dänischen Autorin Janne Teller erarbeiteten sie mit ihrem Lehrer Hedi Bouden ein Theaterstück, in dem Europäer vor Krieg und Diktatur in ein arabisches Land fliehen. Mit diesem Perspektivenwechsel machten die Oberstufenschüler die Problematik der hiesigen Flüchtlinge äußerst anschaulich. So erleben nun deutsche Geflüchtete Verzweiflung auf der Flucht und Demütigung, Hetzparolen, Fremdenfeindlichkeit im Aufnahmeland.
Die Kulissen wurden als Zentrales Erstaufnahmelager gestaltet, sodass die Zuschauer die Rolle des Asylsuchenden einnahmen. Mit ihrem Stück wandten sich die Schüler „gegen Vorurteile, die oft aus Ignoranz entstehen“, sagt Kubilay Göktas (19). Und weckten das politische Interesse bei den Zuschauern.
Eine Ausstellung zur Erinnerung an NS-Opfer
Neun Schülerinnen und Schüler der Schule Schwarzenbergstraße des ReBBZ Harburg hatten sich im Geschichtsunterricht und bei Besuchen etwa in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit der NS-Zeit beschäftigt. Beim Besuch am Gedenkort Hannoverscher Bahnhof erfuhren die 14- bis 16-Jährigen, dass bis 1945 von dort 7692 Juden, Sinti und Roma deportiert worden waren. Diese unfassbare Zahl wollten die Schüler in einer Ausstellung verdeutlichen und sammelten dafür genau 7692 Deckel von Plastikflaschen. Zudem recherchierten sie Lebensläufe von Verfolgten, wie den des chinesischen Einwanderers Chong Tin Lam, der im damaligen Chinesenviertel in Hamburg ein Restaurant hatte.
Er überlebte mehrere Lager. Seine Geschichte kam ebenfalls in die Ausstellung, die die Jugendlichen an ihrer Schule präsentierten. „Mit unserem Projekt wollen wir erreichen, dass die Menschen nicht vergessen werden“, sagt Vanessa Möller (14).