In der östlichen HafenCity entsteht der Lohsepark als grünes Herz des Quartiers. Hier stand einstmals der Hannoversche Bahnhof, ein zentraler Umschlagplatz des Holocaust in der NS-Zeit.
Frühlingssonne am stahlblauen Himmel scheint auf die Baustelle am Lohseplatz in der östlichen HafenCity. Ein gelber Bagger bohrt in einem engen Raster eine Sonde in den Boden, stochert nach Bombenblindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg. Spaziergänger genießen die Frühlingsstimmung. Hier wächst der Lohsepark heran, das grüne Herz der HafenCity, ein Ort der Erholung, mit Rasenflächen, Sitzgruppen, Spielangeboten. Auch vor 70 Jahren waren hier Menschen unterwegs. Doch ihnen stand Todesangst im Gesicht: An diesem Ort lag der Hannoversche Bahnhof, von dem zwischen 1940 und 1945 in 20 Transporten mindestens 7692 Juden, Sinti und Roma in die Konzentrationslager deportiert wurden.
Heute erinnert nur noch der Lohseplatz an das „Symbol dieser grauenvollen Zeit“, wie Zeitzeugin Ingrid Wecker stellvertretend für alle überlebenden Hamburger Juden den Hannoverschen Bahnhof bezeichnete. Der Platz, benannt nach dem Erbauer des Bahnhofs und der ersten Eisenbahn-Elbbrücke, Hermann Lohse, war der Bahnhofsvorplatz. Gedenktafeln und ein Ausstellungspavillon sollen daran erinnern. Später wird ein Steinwurf von hier entfernt, voraussichtlich im bestehenden Hildebrandt-Komplex, ein Dokumentationszentrum eingerichtet.
Annette Busse, die in der Kulturbehörde zum ehemaligen Schauplatz des Holocaust arbeitet, und Andreas Schneider von der HafenCity GmbH stehen am Bauzaun und betrachten die Erdarbeiten auf historischem Boden. Sie schauen auf ein Gangsystem und Gewölbe im Untergrund, die vor einigen Wochen zum Vorschein kamen. Nach dem Abriss einer großen Lagerhalle, die die Anlage des Lohseplatzes bis Ende vergangenen Jahres blockierte, entfernten die Bagger die Decke der Kellerräume des südwestlichen Bahnhofsflügels. Weiter nordöstlich, neben der heutigen Fernbahntrasse am Oberhafen südlich des Hauptbahnhofs, befinden sich die Kellerräume des zweiten Gebäudeflügels. Sie sind längst mit Erde verfüllt.
Auch die jetzt frei liegenden Gänge, Räume und Gewölbe werden schon in wenigen Wochen endgültig begraben. Denn sie liegen gut zwei Meter unter dem geplanten Parkniveau. „Der Lohsepark wird auf 6,5 Meter über Normalnull angelegt“, sagt Andreas Schneider, „und wird damit etwas unterhalb des Stadtniveaus von acht Metern über NN liegen. Spätestens im April wird die Kampfmittelsuche im Auftrag der Deutschen Bahn abgeschlossen sein. Dann beginnt der Erdbau, um das Gelände zu erhöhen.“
Die alten Gemäuer gehen im Warftkonzept der HafenCity unter: Damit Gebäude, Straßen und Freiflächen sturmflutsicher sind, werden sie erhöht errichtet. Politikwissenschaftlerin Busse kann mit der Entscheidung, die Überreste des Hannoverschen Bahnhofs zu beerdigen, leben. „Der Keller hat keinen direkten Bezug zu den Deportationen. Aber es gibt noch authentische Überreste vom Bahnsteig 2. Eine Studie im Auftrag unserer Forschungsstelle für Zeitgeschichte hat nachgewiesen, dass von dort aus mindestens die Mehrzahl der dokumentierten Deportationszüge abfuhren. Die Relikte des Bahnsteigs sowie der heute noch erkennbare Gleisverlauf sind zweifelsfrei authentisch und werden als Gedenkort erhalten.“
Ein solcher Gedenkort war im ersten Masterplan zur Quartiersplanung gar nicht vorgesehen. Doch als 2007 Bauhistoriker den Bahnsteig 2 als authentisch identifizierten, wurde der Masterplan für die Bebauung rund um den Lohseplatz deutlich geändert. Schneider: „Das jetzige Konzept sieht den Erhalt der Relikte des Bahnsteigs auf dem heutigen Geländeniveau vor. Der Verlauf und das historische Niveau der Gleise werden mit der Fuge vom Park zum Gedenkort und auch mit dem umliegenden Städtebau später deutlich sichtbar werden.“ Dort, wo Tausende Menschen den Weg in ein ungewisses, meist tödliches Schicksal gehen mussten, direkt südlich des neu erbauten Bahndamms für die Fernzüge, wird die Bebauung vor diesem unrühmlichen Teil der Hamburger Geschichte zurückweichen.
Ein Volkspark mit historischem Hintergrund
Graues Pflaster mit Randstein, auf der einen Seite knapp oberhalb der ehemaligen Gleisanlage gelegen – der denkmalgeschützte Ort Bahnsteig 2 kommt unauffällig daher. Aktuell ist er mit Brettern verkleidet, die ihn vor den umliegenden Bauarbeiten schützen sollen. Später wird der Ausgangspunkt der Todeszüge Teil der Grünfläche. Schneider: „Wir wollen hier einen Volkspark errichten, ohne den historischen Hintergrund zu vergessen. Der Bahnsteig und der Lohseplatz werden Orte der Erinnerung, der Platz kann zusätzlich auch als Veranstaltungsfläche genutzt werden.“
Wie sollten sich Besucher eines Erholungsparks an einen Ort erinnern, an dem – den akribisch aufgestellten Deportationslisten zufolge – 6428 Juden sowie 1264 Sinti und Roma größtenteils in den Tod geschickt wurden? Zu dieser Frage holte die Kulturbehörde viele Stimmen ein. Peter Fischer, Referent für Erinnerung und Gedenkstätten beim Zentralrat der Juden, erhofft sich einen Ort, der zum kritischen Nachdenken auch über den heutigen Umgang mit Minderheiten anregt. Dagegen würde „eine opferzentrierte Gestaltung der Erinnerungsstätte in der zukünftigen HafenCity kaum mehr hervorrufen, was nicht andernorts bereits hergestellt ist“, schreibt Fischer im Katalog „In den Tod geschickt“ zur gleichnamigen Ausstellung, die 2009 im Kunsthaus gezeigt wurde. Sie wird das Kernstück des Dokumentationszentrums am Rande des Lohseparks.
Peter Fischer wünscht sich, dass der Nerv getroffen wird, „der beschönigende Nachkriegsverklärung aufbricht“. Er fordert Informationen „zur Bezugskette, Untertanengeist, schamlose Bereicherungssucht, Hehlerei, Denunziation bei weitestgehender Abwesenheit von Zivilcourage“. All dies bilde gewissermaßen das Gleisbett der Schienen, die die Transporte zur „Endlösung“ führten, schreibt Fischer im Ausstellungskatalog. „Menschen, die heute um die 50 Jahre und älter sind, sind sich des Holocaust und seinen gesellschaftlichen Wurzeln weitgehend bewusst. Es ist sehr wichtig, dass wir auch Jugendliche ansprechen. Deshalb haben wir 2011 das Projekt ,Wie wollt ihr euch erinnern‘ gestartet“, sagt Annette Busse. 70 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren aus 19 Schulen in Hamburg und Umgebung hatten sich für die Mitarbeit beworben, 34 nahmen bis zum Ende des Projekts teil, absolvierten sieben zweitägige Workshops und entwickelten Ideen zum zukünftigen „Informations- und Dokumentationszentrum Hannoverscher Bahnhof“.
Ein „Mobiler Stand“ könnte schon während des Baus der Dokumentationsstätte in Schulen oder an zentralen Stellen der Stadt als kleine Wanderausstellung für das Info-Zentrum werben, schlugen die Jugendlichen vor. Eine andere Arbeitsgruppe entwickelte spezielle Wegweiser. „Biografiewürfel“ aus Plexiglas könnten später in einem Verweilbereich des Zentrums auf Tischen verteilt werden und Einzelschicksale beschreiben. Auch Accessoires wie Leinenbeutel und Stoffarmbänder dürften nicht fehlen. Die Teilnehmer erinnern sich in Videoclips an einzelne Menschen, erstellten Hörtexte für die Ausstellung, dokumentierten ihr eigenes Projekt in einem Film.
Vier Jahre früher fertig als geplant
Der Abriss der großen Speditionshalle Ende 2013 ebnete den Weg, um all die Ideen und die Anlage des Parks früher als geplant anzupacken – der Mietvertrag für die Halle lief eigentlich bis 2017, konnte dann aber im Herbst 2013 vorzeitig beendet werden. Der Lohsepark werde die grüne Seele der HafenCity, versichert Andreas Schneider: „Im südlichen Teil können wir in diesem Frühjahr mit dem Landschaftsbau beginnen, ein Jahr später dann im nördlichen Teil über dem Bahnhofsgemäuer.“ Voraussichtlich werde der gesamte, vier Hektar große Park im Frühjahr 2016 fertiggestellt sein, so Schneider – vier Jahre früher als vorgesehen.
Rund um den Park werden dann Wohn- und Bürogebäude emporwachsen. Auch ein Ärztehaus, zwei Kindertagesstätten und ein Schulzentrum mit Gymnasium sind geplant. Sie alle sollen die östliche HafenCity beleben – ein Stück Hamburg, das über Jahrzehnte nicht viel mehr zu bieten hatte als ein paar Gleise, Straßen und Lagerhallen.
In zwei, drei Jahren durchkreuzen Inlineskater und Skateboarder, Spaziergänger und Radfahrer den Lohsepark. Vielleicht werden sie an einem der Erinnerungsorte kurz innehalten, ihre Smartphones aus den Augen lassen und nachdenklich werden. Vielleicht fragen sich die Besucher dann auch, welche Rolle sie selbst dabei spielen, wenn heute Einwanderer etwa aus Südosteuropa, darunter auch Sinti und Roma, gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Wenn dieses Nachdenken tatsächlich einsetzt, ist das gemeinsame Ziel der heutigen Interessenvertreter der Juden, Sinti und Roma, der Kulturbehörde und der Parkplaner erreicht.
Der Info-Pavillon im Lohsepark ist im März noch geschlossen, öffnet aber auf Anfrage (InfoCenter Kesselhaus, Tel. 36901799). Öffnungszeiten April bis Oktober: Di–So, 10–18 Uhr
Zum Weiterlesen: „In den Tod geschickt – Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940–1945“, 288 S., ist für 19 Euro unter anderem im Info-Pavillon erhältlich (ISBN 978-3-940938-30-5)
Internetportal: www.hannoverscher-bahnhof.hamburg.de