Hamburg. Vordergrüngig geht es um einen Verkehrsunfall mit Sachschaden und eine Unfallflucht. Für die Angeklagte geht es um mehr.
Was für ein schwerer Gang! Gesenkter Kopf, die Hände wie Halt suchend um die Griffe ihrer Handtasche gekrallt, das Gesicht müde und sorgenvoll: Auf den letzten Metern über den Flur zum Gerichtssaal wird Clara S. (Name geändert) Schritt für Schritt immer zögerlicher, wie vor einer sehr schweren Prüfung, die das Leben für sie bereithält. Und ein wenig ist es für die 78-Jährige tatsächlich so.
In dem Prozess, dem sie sich als Angeklagte stellen muss, wird es um einen Verkehrsunfall mit Sachschaden und eine Unfallflucht gehen, vordergründig. Doch für die Rentnerin bedeutet es einen gravierenden Einschnitt in ihrem Leben, eine sehr schwere Belastung. Was hätte nicht alles passieren können? Durch ihre Schuld?
Gesundheit deutlich verschlechtert
Den Führerschein hat die Hamburgerin seit Jahrzehnten, doch in den letzten Jahren hat sich ihre Gesundheit deutlich verschlechtert. Gleichwohl hat sie sich wieder hinters Steuer gesetzt, trotz gravierender Arthrose, die ihre Bewegungsfähigkeit im rechten Bein eingeschränkt habe, heißt es in der Anklage vor dem Amtsgericht.
Dabei rammte sie demnach mit ihrem Mercedes im September vergangenen Jahres bei einer roten Ampel einen anderen Wagen und verursachte durch die Kollision mehr als 2600 Euro Sachschaden. Dann habe sie Gas gegeben, sodass die Räder ihres Autos durchdrehten, und habe sich zu Unrecht vom Unfallort entfernt. Mit diesem Verhalten habe sie sich als „ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen“, so die Staatsanwaltschaft.
Offenbar ein Blackout gewesen
„Ich kann nicht viel sagen, einfach, weil ich nicht viel weiß“, bedauert die Angeklagte, eine zierliche Frau mit grauem Haar und blassem Gesicht. Sie sei mit dem Wagen unterwegs gewesen und habe nach Hause fahren wollen. Als sie aus einer Einfahrt ausparken wollte, war ein Stück voraus eine Ampel auf Rot. Ein anderer Autofahrer habe ihr signalisiert, dass er sie vorlassen wolle. „Ich habe erst gezögert, weil ich nicht wusste, wie lange ich noch Zeit haben würde. Dann bin ich doch losgefahren“, seufzt die Rentnerin.
„Ich erinnere mich nicht, ein anderes Fahrzeug angefahren zu haben. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen. Meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ich zu Hause war. Ich kann mir das nur so erklären, dass ich einen Blackout hatte. Ich bin kein Mensch, der böse Sachen macht“, schiebt sie noch mit matter Stimme hinterher.
Hinweis auf mögliche Orientierungsprobleme
Das Einzige, was ihr von dem Vorfall im Gedächtnis sei, ist „ein Rumsen“, das sie gehört habe. „Ich habe gedacht, ich hätte vielleicht einen Bordstein angefahren.“ Erst als später Polizeibeamte bei ihr klingelten und von dem Unfall erzählten, „ist mir das ganze Ausmaß der Sache bewusst geworden. Sie waren alle sehr nett und haben mich unter anderem danach befragt, welche Medikamente ich einnehme.“
Dabei kommt eine ganze Reihe zusammen. Unter anderem braucht Clara S. Medikamente fürs Herz, gegen ihren Bluthochdruck, gegen Arthrose, zudem nimmt sie Antidepressiva. Eine Rechtsmedizinerin, die die 78-Jährige wenige Stunden nach dem Unfall untersuchte, ließ sie auch mehrere Tests durchlaufen. Dazu gehört unter anderem, auf einer Linie zu gehen sowie das Zifferblatt einer Uhr zu zeichnen und eine bestimmte vorgegebene Uhrzeit korrekt zu markieren. Beides sei der Rentnerin nicht gut gelungen, berichtet die Sachverständige. Dies gilt allgemein als Hinweis auf mögliche räumlich-visuelle Orientierungsprobleme – und damit als äußerst schlecht für die Teilnahme am Straßenverkehr.
Sie ist bereit, ihren Führerschein abzugeben
Der Vorsitzende will es von der Expertin genau wissen: „Wenn ich zwei kleine Kinder hätte: Würden Sie mir raten, sie von der Angeklagten fahren zu lassen?“ „Ich würde mir wünschen“, entgegnet die Rechtsmedizinerin, „dass die Fahrerin noch einmal eine medizinische Begutachtung durchläuft.“
Auf Zeugen hat Clara S. jedenfalls alles andere als einen souveränen Eindruck gemacht. Die Fahrerin des gerammten Autos berichtet im Prozess, dass der Wagen der Angeklagten auf sie „zugeschossen“ und in ihren Kotflügel gefahren sei. „Dann ist sie über die rote Ampel gefahren, kurz stehen geblieben, als ob man nachdenkt, und dann mit hoher Geschwindigkeit weitergerast.“
Verfahren wird schließlich eingestellt
Eine andere Beobachterin des Unfalls erinnert sich, dass der Mercedes „mit durchdrehenden Reifen“ weggefahren sei. Die Angeklagte schüttelt den Kopf, offensichtlich nicht, weil sie dies bestreiten will, sondern eher, weil sie es nicht fassen kann, so gehandelt zu haben.
Der Vorsitzende erkundigt sich nach der Bereitschaft der 78-Jährigen, ihren Führerschein unwiderruflich abzugeben – ohne dass es einer entsprechenden behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung bedarf, freiwillig. Clara S. stimmt gleich zu. „Irgendwann muss man erkennen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt da ist, um sich nie mehr hinters Steuer zu setzen“, bringt es der Richter auf den Punkt. Und bevor er weiterreden kann, ergänzt die Angeklagte: „Es hätte ja ganz etwas anderes passieren können. Wenn ich mir vorstelle, dass ich einen Radfahrer gerammt oder ein Kind überfahren hätte! Damit wäre ich nie fertig geworden.“
Zum Schluss muss der Richter sie trösten
Das Verfahren wird schließlich eingestellt, nachdem Clara S. endgültig erklärt hat, auf ihre Fahrerlaubnis zu verzichten. Eine Auflage ist darüber hinaus, dass sie 1200 Euro Geldbuße zahlen muss. „Das hat mir ganz bös auf der Seele gelegen“, vertraut die Rentnerin dem Richter an, der ihr gut zuredet: „Alle sind froh, dass nur Sachschaden entstanden ist und Sie nicht etwa eine fahrlässige Tötung begangen haben.“ Clara S. nickt nachdenklich und sagt dann: „Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden.“