Hamburg. Vor 150 Jahren wurde die Straße in der Innenstadt eingeweiht. Sie sollte eine breite werden, doch fast nichts lief wie geplant.
Nachdem Teile der Hamburger Innenstadt beim Großen Brand 1842 großflächig zerstört worden waren, begann eine umfangreiche Aufbauphase. Binnen weniger Jahre waren die Alsterarkaden, der Rathausmarkt und die Kleine Alster mit der Viertelkreistreppe weitgehend fertiggestellt, parallel wurde mit ungeheurem Aufwand ein neues Wasserversorgungsnetz für die gesamte Stadt gebaut, das schon 1848 in Betrieb ging. Hamburgs neues Zentrum mit seinen geraden, breiten Verkehrsachsen und den hohen, kühl wirkenden Fassaden war nun wesentlich repräsentativer als vor dem Brand. Doch Straßen wie der Neue Wall und die Hohen Bleichen endeten in südwestlicher Richtung direkt an einem der berüchtigten Hamburger Gängeviertel. Fast bis zur Elbe erstreckten sich hier – lange vor dem Bau der heutigen Ludwig Erhard-Straße – riesige Flächen mit primitiven Wohnhäuschen und wuseligen Gewerbehöfen, ein Labyrinth, in das an vielen Stellen kaum Luft und Sonnenlicht drangen.
Neben der Stadt hatten sich schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert finanzkräftige Unternehmer am Bau der Hamburger Verkehrswege beteiligt. Diese „Privatstraßen“, bei deren Anlegung oft nur wenig Rücksicht auf die Erfordernis des Verkehrs oder die Bedürfnisse der künftigen Bewohner genommen wurde, prägen bis heute, wie der Kunsthistoriker Prof. Hermann Hipp schreibt, „viele Eigenheiten des Hamburger Stadtplans“.
Die Brüder Wex wollten beim allgemeinen Bauboom mitmischen
Auch der Rechtsanwalt und Bürgerschaftsabgeordnete Friedrich Hermann Wex (1833–1897) und sein Bruder, der Architekt Ernst Wex (1836–1893), wollten beim allgemeinen Bauboom mitmischen – aber in viel größerem Stil als alle anderen. Ihnen schwebte eine gerade Verlängerung der Großen Bleichen von der Fuhlentwiete bis zum Großneumarkt vor – eine breite Schneise mitten durch das Gängeviertel der Neustadt, die ihren Namen tragen sollte.
Nachdem sie das nötige Bauland mit viel Geschick zusammengekauft hatten, beantragten die beiden 1865 die Genehmigung für den Bau dieser Straße und zusätzlich staatliche Finanzhilfe für das Riesenprojekt. Beides wurde vom Senat auch bewilligt. Zunächst jedenfalls. Doch Friedrich Hermann Wex, Mitglied der Bürgerschaft von 1862 bis 1887, galt als Querkopf und hatte sich in der Politik offenbar nicht nur Freunde gemacht. Die Bürgerschaft kassierte die schon zugesagte Finanzhilfe wieder ein und schaltete auf stur. Plötzlich besannen sich Hamburgs Politiker darauf, dass die lange verschleppte Sanierung des Gängeviertels ja ohnehin anstand und dass die neue Straße nur ein Teil dieses großen Ganzen sein könne. Die Stadtväter taten, was in solchen Fällen heute immer noch getan wird: Sie gründeten eine Kommission, die eine Sanierung im großen Stil vorbereiten sollte.
Gängeviertel wurde erst nach der Cholera-Epidemie saniert
Die Wex-Brüder ließen sich von dieser Entwicklung nur wenig beeindrucken und zogen den Bau im Alleingang durch – ohne die Finanzhilfe der Stadt. Zwei Daten zeigen, wie entschlossen sie dabei vorgingen: Schon am 28. April 1867 – in diesem Monat vor 150 Jahren – wurde die neue Straße eingeweiht, aber erst 1876 war die Randbebauung abgeschlossen. Insgesamt ist der Bau der Wexstraße, so Hermann Hipp, „das bis heute umfangreichste Unternehmen dieser Art in der Innenstadt“.
Allerdings hatten die Wex-Brüder Federn gelassen: Durch allerlei Auflagen musste der Anfang der neuen Achse verschwenkt, die Straße selbst deutlich schmaler werden. Schließlich wand sie sich viel unspektakulärer als geplant fast wie eine Nebenstraße durch die Neustadt – noch dazu ohne erkennbaren Bezug zu den Großen Bleichen.
Drei Jahre nach der Fertigstellung brannten einige Häuser nieder
Der kuriose Machtkampf führte zu dem häufig kolportierten Missverständnis, die Brüder Wex hätten gegen den Willen der Stadtväter das Gängeviertel „saniert“. Das ist nicht richtig. Denn die Wexstraße, bei deren Bau ausschließlich wirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt standen, bedeutete gegenüber der Bebauung ihrer Nachbarschaft zwar einen kleinen Fortschritt. Ursprünglich war sie aber deutlich schmaler und mit noch dürftigerer Randbebauung versehen, als es Fotos aus der Zeit um 1900 vermitteln. Der Hintergrund: Drei Jahre nach der Fertigstellung brannten einige Häuser bei einem Großfeuer nieder, und erst danach wurden die Neubauten weiter zurückversetzt wieder aufgebaut. Ein interessantes Detail: Die „Rede bei der Bestattung der durch den Brand in der Wexstraße am 20. November Verunglückten“, die am 23. November auf dem „israelitischen Gottesacker“ in Ottensen gehalten wurde, verwahrt das Institut für die Geschichte der deutschen Juden noch heute.
Die angeblich so drängende Sanierung des Gängeviertels verzögerte sich weiter, wirklich in Angriff genommen wurde sie erst nach der verheerenden Cholera-Epidemie 1892. Erstaunlich: Trotz aller Querelen bekam und behielt die neue Straße ihren Namen offiziell. Auch die Steinwegpassage, als Verbindung zwischen Wexstraße und dem Alten Steinweg eine Art früher Flaniermeile, hieß zunächst noch Wexpassage.
Im Laufe der Jahrzehnte wurden größere Schneisen gelegt
Im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte wurden immer größere Schneisen durch Alt- und Neustadt gelegt, darunter die Mönckebergstraße, die Colonnaden und vor allem die Kaiser-Wilhelm-Straße. Im Zuge der Bebauung mit großzügigen Wohn- und Geschäftshäusern geriet die Wexstraße, deren wichtige Lage nun jeder erkennen konnte, zunehmend ins Abseits.
Im Jahr 1924 mokierte sich das „Hamburger Fremdenblatt“, sie wirke „ganz stillos (...) in ihrer Gedrücktheit zwischen den großen Häusern“. Die Vision der ehrgeizigen Brüder war, zumindest teilweise, ziemlich kläglich gescheitert.