Hamburg. Hilfsorganisationen werfen der Hamburger Feuerwehr Benachteiligung auf Kosten von Kranken und Verletzten vor.
Der Schmerz trifft den Flüchtling Ramy kurz vor Mitternacht in der linken Brust. Er drückt plötzlich seine Atemwege ab, Ramy ringt nach Luft, sein Mitbewohner eilt aus dem Zimmer, ruft um Hilfe. Die Mitarbeiter der Unterkunft an der Schmiedekoppel wählen den Notruf. Es kommen gleich zwei Rettungswagen. Die Sanitäter stabilisieren Ramy – aber statt ihn sofort in die Klinik zu bringen, beginnen die Retter zu streiten. Minutenlang.
Wer darf retten? Es ist eine Frage, bei der es um viel geht, vor allem um viel Geld. Zuletzt erstatteten die Krankenkassen für Rettungsdienste in Hamburg mehr als 60 Millionen Euro pro Jahr. Das Geld erhält nur, wer die Notfallpatienten letztlich ins Krankenhaus befördert. Die Feuerwehr hat die Entscheidungsgewalt über die Verteilung der Einsätze, aber sie konkurriert auch mit den großen Hilfsorganisationen. Und dort fangen die Probleme an.
Schwere Vorwürfe
Auf Anfragen des Abendblatts erheben die Verantwortlichen von Deutschem Roten Kreuz (DRK) und Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) schwere Vorwürfe gegen die Feuerwehr: Sie missbrauche ihre Macht, um die weiteren Träger auszubooten. „Das ist fahrlässig und gefährdet das Patientenwohl“, sagt Michael Sander, Geschäftsführer des ASB. Die Feuerwehr weist das von sich. „Es wird im Rahmen der Gegebenheiten und im Sinne des Patienten disponiert“, sagt Feuerwehrchef Klaus Maurer.
Leitartikel: 112 – wer darf retten?
Der Konflikt zwischen den Rettern spitzt sich zu. Nach Abendblatt-Recherchen häufen sich in jüngster Zeit doppelte Alarmierungen der Sanitäter von Feuerwehr und dem ASB – in mehreren Fällen kam es am Einsatzort zu offenen Disputen, wie aus Protokollen der Sanitäter und Zeugenaussagen hervorgeht. Krankenkassen und der Rechnungshof sehen mit Sorge, dass die Koordination der Rettungsdienste hakt.
Denn für Notfallpatienten hängt die Chancen auf ein Überleben auch wesentlich vom schnellen Transport ins Krankenhaus ab. Mit jeder Minute steigt das Todesrisiko etwa bei einem Herzinfarkt um zehn Prozent, sagt eine Faustregel. Bis an der Schmiedekoppel der Notarzt ein Machtwort sprach und die Feuerwehr den Transport übernahm, vergingen fünf lange Minuten.
Verzichtet Feuerwehr auf schnellste Rettung?
Die ungeschriebenen Gesetze in der Branche gälten nicht mehr, heißt es von den Hilfsorganisationen. Das wichtigste davon lautet: Wer dem Patienten am nächsten ist, erhalte auch den Auftrag. Einhellig beklagen die Wohlfahrtsverbände nun, dass ihre 30 Rettungswagen mit bis zu 200 Sanitätern absichtlich außen vor gelassen werden.
„In der Praxis schickt die Feuerwehr Rettungswagen los, die auf dem Weg zum Einsatzort erst noch an unserer Wache vorbeikommen“, sagt Wolfgang Friedrich, Geschäftsführer des Rettungsdienstes beim Roten Kreuz. Er spricht von einem „bösen Spiel“ der Feuerwehr. Von den Johannitern heißt es, es gebe keine Schikane, die geringe Zahl der Einsätze sei „so aber nicht mehr tragbar“, die eigenen Rettungswagen nur zu einem Viertel ausgelastet.
250.000 Fahrten pro Jahr
Dabei steigt die Zahl der Notfalleinsätze in Hamburg – zuletzt auf 250.000 Fahrten pro Jahr. Und im Bundesvergleich steht Hamburg bei der Geschwindigkeit seiner Retter schlecht da. In zwei Dritteln der Fälle waren die Sanitäter in acht Minuten am Einsatzort, wie vorgesehen.
In mehr als 70.000 Fällen kamen die Retter demnach zumindest etwas zu spät. Anders als etwa in Köln gibt es keine gemeinsame Leitstelle aller Rettungsdienste. „Die Feuerwehr hat trotzdem alle Möglichkeiten, auch die günstige Lage unsere Rettungswagen zu erkennen und sie zu disponieren. Es scheitert nicht an der Technik, sondern am Willen“, sagt Wolfgang Friedrich vom DRK.
Täuschung auf Kosten der Patienten?
Der Arbeiter-Samariter-Bund wirft der Feuerwehr sogar bewusste Täuschung auf Kosten der Patienten vor, um mehr Aufträge zu erhalten. In einem internen Dokument, das dem Abendblatt vorliegt, sind allein für den Zeitraum vom 19. März bis 7. April mehr als 20 angeblich „skandalöse“ Fälle aufgelistet. Der ASB hatte dabei jeweils über die eigene Notrufnummer Einsätze aufgenommen und den laufenden Einsatz wie vorgeschrieben an die städtischen Rettungskräfte gemeldet.
Die Feuerwehr habe jedoch einfach selbst einen weiteren Rettungswagen losgeschickt – oftmals mit dem Argument, man sei „gleich um die Ecke“. Sander behauptet, die konkurrierenden Retter seien teilweise aber erst bis zu 15 Minuten nach den ASB-Sanitätern bei den teils schwer verletzten Patienten eingetroffen.
Oftmals, so der ASB, nutzte die Feuerwehr dann noch ihre Entscheidungshoheit vor Ort, um den bereits erstversorgten Patienten auf die Trage zu nehmen und selbst zu befördern. In solchen Fälle trage man „Verantwortung und Kosten“ für die Patientengesundheit, erhalte aber keine Erstattung. Nach Abendblatt-Informationen sind die Mitarbeiter in den Leitstellen der Hilfsorganisationen dazu übergegangen, einige Einsätze nicht mehr zu melden. „Es gibt leider bei fast jedem Einsatz mindestens ein kurzes Gerangel. Das gemeinsame Ziel gerät immer mehr aus dem Blickfeld“, sagt ein führender Mitarbeiter eines Trägers.
Flut von privaten Anbietern befürchtet
Feuerwehrchef Klaus Maurer schließt aus, dass seine Mitarbeiter mit Absicht auf die Dienste der weiteren Anbieter verzichten, um sie auszubooten: „Das ist schlicht unwahr“. Einen finanziellen Vorteil habe man durch mehr Rettungseinsätze ohnehin nichtt: Zwar fließt das erstattete Geld der Krankenversicherung in das Budget der Feuerwehr – jeder Überschuss fließe aber auch in die jährlichen Verhandlungen mit den Krankenkassen ein, nach denen die Kostensätze für die kommenden Jahre festgesetzt werden. Derzeit erhält die Feuerwehr knapp 400 Euro von den Beitragszahlern für eine Rettungsfahrt, etwa 50 Euro mehr als die übrigen Hilfsorganisationen. „In den vergangenen Jahren war die Erstattung kostendeckend, einen Gewinn gab es nicht“, sagt Klaus Maurer.
Die Hilfsorganisationen dürften zudem nicht eigenmächtig Rettungswagen zu einem Einsatzort schicken und trügen somit selbst zu Doppelalarmierungen bei. Nach Abendblatt-Informationen begründet die Feuerwehr ihre bisherige Praxis auch mit der Sorge vor einer Flut von privaten Dienstleistern in der Notfallrettung. Wenn die vertraglich zugelassenen Träger wie das DRK und die Johanniter plötzlich deutlich mehr Aufträge bekämen, könnten sich nach der Rechtslage demnach auch diverse Anbieter auf den lukrativen Markt klagen, so die Argumentation.
Die anderen Träger halten diese Sorge für eher unbegründet, sehen aber bei einer Lösung des Konflikts eher die Politik am Zug. Das aktuelle Gesetz zum Einsatz der Notfallretter in Hamburg gilt in der gesamten Branche als überholt. Der damalige Senat kündigte vor Jahren eine Novellierung an, die jedoch bislang nie konkret wurde.
Errster Entwurf für ein Gesetz
Nach Abendblatt-Informationen gibt es in der Innenbehörde nun einen ersten Entwurf für ein Gesetz, der noch mit der Gesundheitsbehörde abgestimmt werden muss. „Es ist das erklärte Ziel, die Hilfsorganisationen zukünftig stärker an der Masse der Rettungsdienste zu beteiligen“, sagt Frank Reschreiter, Sprecher der Innenbehörde. Auch auf Drängen der Feuerwehr sollen darin auch detaillierte Qualitätsstandards formuliert werden, um dubiose Anbieter vom Markt fernzuhalten.
Im Senatsumfeld heißt es, man hoffe, das Ringen um die Notfallpatienten mit dem neuen Gesetz zu beenden – es könnte aber frühestens im kommenden Jahr in Kraft treten. „Die Hilfsorganisationen sind wichtige Partner, die wir enger einbinden möchten“, sagt Hamburgs Feuerwehrchef Maurer.
Von Trägern wie den Johannitern heißt es, eine Einigung sei möglich: „Wir wollen keinen wilden Konkurrenzkampf wie in den 70er-Jahren.“