Hamburg. Hamburger Medizingeschichte, letzter Teil: Die Rolle der Nazi-Ärzte – und das Schicksal von Irma Sperling, die ihnen zum Opfer fiel.

Für „unwertes Leben“ erklärt, deportiert, ermordet – 1940 begann das dunkelste Kapitel in der Hamburger Medizingeschichte: der Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen. Etwa 6000 Hamburger wurden in Kliniken und Tötungsanstalten der Nationalsozialisten ermordet, die meisten heimlich, im Verborgenen. Auch in Hamburg wurden Kranke getötet: In sogenannten Kinderfachabteilungen im Allgemeinen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn starben mindestens 82 Kinder.

Die Kranken litten an Schizophrenie, Epilepsie, Down-Syndrom, Fehlbildungen des Gehirns, wie zum Beispiel einem Wasserkopf, oder an körperlichen Fehlbildungen. „Es sollten alle Menschen herausgefiltert werden, die nicht lern- oder leistungsfähig waren“, sagt Dr. Rebecca Schwoch, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).

So wurden behinderte Kinder durch Ärzte und Hebammen einem Reichsausschuss in Berlin gemeldet. „Dort haben Gutachter per Aktenlage über das Schicksal der Kinder befunden. Ein Plus auf der Akte bedeutete das Todesurteil. Die Kinder wurden in eine der etwa 30 Kinderfachabteilungen im Deutschen Reich aufgenommen und ermordet“, sagt Rebecca Schwoch.

Patienten erhielten Nahrung mit wenig Nährstoffen

Der weitaus größere Teil der Opfer aber wurde von zahlreichen Hamburger Einrichtungen in „Zwischenanstalten“ und die Tötungsanstalten im Deutschen Reich und in angeschlossene und besetzte Gebiete verlegt. Die Hamburger Patienten kamen aus der Heil- und Pflegeanstalt in Langenhorn, der Psychiatrischen Klinik des UKE, dem Altonaer Kinderkrankenhaus, mehreren Versorgungsheimen, in denen alte und demenzkranke Menschen untergebracht waren, und den Alsterdorfer Anstalten.

Zur Tötung der Patienten wurden unterschiedliche Methoden eingesetzt. „Wenn die Mörder Angst hatten, dass die Angehörigen Nachforschungen anstellten, wurde den Kranken das Schlafmittel Luminal verabreicht, nicht in der unmittelbar tödlichen Dosis, sondern so, dass eine Lungenentzündung daraus resultierte, und dann das Gift nicht mehr im Körper nachweisbar war, wenn der Tod eintrat“, sagt Prof. Philipp Osten, kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE.

Patienten langsam verhungern lassen

Diese Methode wurde auch in den Hamburger Kinderfachabteilungen praktiziert. Eine andere Methode war, die Patienten langsam verhungern zu lassen. „Sie erhielten eine sogenannte E-Kost, eine Nahrung, die so wenig Nährstoffe enthielt, dass die Menschen damit nicht überleben konnten“, sagt Osten. Oder sie wurden in große psychiatrische Kliniken mit Gaskammern verlegt. „Es gab im Deutschen Reich sechs große psychiatrische Kliniken, in denen Patienten in Gaskammern umgebracht wurden. Die industrielle Tötung im Holocaust ist von Ärzten an Patienten erprobt worden“, sagt Osten.

Eines der Opfer der Deportationen war Irma Sperling, 1930 als siebtes von zehn Kindern geboren. An welcher Behinderung sie litt, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Bekannt ist nur, dass Irma in ihrer Entwicklung verzögert war, spät das Laufen lernte, sich häufig mit dem Finger ins rechte Ohr stieß. Während des National­sozialismus litt Familie Sperling Not, denn der Vater war in der Arbeiterbewegung aktiv gewesen und hatte Berufsverbot. Dann meldete eine Nachbarin der Fürsorge, dass sich in der Familie ein auffälliges Kind befände.

Eine Fürsorgerin wollte die Sperlings dazu bewegen, das Kind in die Alsterdorfer Anstalten zu geben. Diese lehnten das zunächst ab, ließen sich aber schließlich überreden. Mit drei Jahren kam Irma in die Alsterdorfer Anstalten, nachdem Psychiatrieprofessor Werner Villinger in einem Gutachten ein verheerendes Urteil gefällt hatte. Demzufolge war das Mädchen „völlig idiotisch und bildungsunfähig“.

Kranke Menschen willkommenes „Forschungsmaterial“

Bis 1943 lebte Irma in den Anstalten. 1943 wurde sie mit 227 anderen Frauen und Mädchen in eine Tötungs­anstalt in Wien deportiert, wo sie 1944 starb. Auf der Sterbeurkunde stand: „Todesursache: angeborene zerebrale Kinderlähmung, Grippe, Lungenentzündung“. Von alldem erfuhr Irmas Familie zunächst nichts. Später begab sich ihre Schwester Antje Kosemund auf Spurensuche.

Durch Recherchen, gegen viele Widerstände, fand sie schließlich heraus, was mit ihrer kleinen Schwester passiert war. Sie erfuhr auch, dass an dem Leichnam ihrer Schwester Forschungen vorgenommen worden waren. „Man weiß inzwischen, dass an mehr als der Hälfte der Opfer der Krankenmorde geforscht wurde“, sagt Osten. Für viele Wissenschaftler und Ärzte im Dritten Reich waren diese hilflosen, kranken Menschen willkommenes „Forschungsmaterial“.

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den Menschenversuchen, an denen Hamburger Mediziner beteiligt waren. Der Hamburger Frauenarzt Hans Hinselmann entwickelte das Kolposkop, das noch heute zur Früherkennung des Gebärmutterhalskrebses eingesetzt wird. Die Effektivität des Kolposkops ließ er durch einen Doktoranden an Frauen im Konzentrationslager Auschwitz testen. Bei auffälligen Befunden wurden ihnen Teile der Gebärmutter oder das ganze Organ entnommen und zur Untersuchung nach Hamburg geschickt. „Das Problem war bei diesen Versuchen nicht, dass sie nicht dem Forschungsstandard entsprachen, sondern dass die Frauen gegen ihren Willen als Material benutzt wurden“, sagt Schwoch.

Vom Schicksal der „Kinder vom Bullenhuser Damm“

Es gab kein Mitgefühl, keine ärztliche Ethik des Helfens und Heilens für diese Patienten. Das zeigen auch die Versuche des Hamburger Mediziners Heinrich Berning, der Menschen hungern ließ, um die körperlichen Auswirkungen zu untersuchen. Oder die Impfversuche gegen Tuberkulose des Hamburger Arztes Kurt Heißmeyer im KZ Neuengamme. Er untersuchte die Wirksamkeit des Impfstoffs gegen Tuberkulose an jüdischen Kindern und verabreichte einem Teil den Impfstoff und infizierte alle mit dem Tuberkelbazillus, auch die ungeimpften. Anschließend wurden alle „Studienteilnehmer“ auf Tuberkulose untersucht.

Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm
Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm © picture alliance / dpa | Bodo Marks

Ein grauenhaftes Ende fanden diese Kinder, die als „Kinder vom Bullenhuser Damm“ in die Geschichte eingegangen sind, in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945: Um die Menschenversuche im KZ Neuengamme zu vertuschen, ermordeten SS-Männer 20 jüdische Kinder aus Polen, der Slowakei, Italien, Frankreich und den Niederlanden und mindestens 28 Erwachsene im Keller des Gebäudes am Bullenhuser Damm 92 bis 94, einer Außenstelle des KZ. 6000 Hamburger Opfer und viele Schuldige: Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen und Fürsorgerinnen. „Doch nur wenige wurden für diese Verbrechen in Prozessen zur Verantwortung gezogen“, sagt Osten.