Hamburg. Hamburger Medizingeschichte, Teil 8: Drei Menschen starben beim Bau unter der Elbe, 700 Arbeiter wurden krank, bis ein Arzt einschritt.
Der Kuppelbau an den Landungsbrücken markiert eines der Hamburger Wahrzeichen, den Alten Elbtunnel, der dort von 1907 bis 1911 gebaut wurde. Allerdings galten für die Arbeiter 24 Meter unter der Erde erschwerte Bedingungen. Damit bei den Grabungen kein Wasser in die Röhre eindrang, mussten die Arbeiten unter Druckluft durchgeführt werden – das heißt, in dem Tunnel herrschte ein Überdruck von 2,4 bar.
Wer seine Arbeit beendet hatte, musste danach in einer Druckkammer, in der der Luftdruck langsam auf Normalmaß gesenkt wurde, wieder ausgeschleust werden, damit es nicht zu der sogenannten Taucherkrankheit kam. Grund dafür ist der Stickstoff in der Luft, der unter Überdruck vermehrt eingeatmet wird.
Wird der Druck anschließend zu schnell gesenkt, bildet der im Körper gelöste Stickstoff Blasen. „Diese können dann Blutgefäße verschließen und so zu Embolien führen, Schmerzen in Gelenken verursachen oder auf Nerven im Rückenmark drücken, was dann Lähmungen zur Folge hat“, erklärt Dr. Karl Peter Faesecke, Taucherarzt und Arbeitsmediziner in Hamburg. Solche Symptome können noch Stunden nach der Arbeit unter Überdruck auftreten.
Bernhard Nocht sprach ein Machtwort
Doch zurück zum Elbtunnel: Die damalige Hamburger Wasserbaudirektion hatte sich zwar umgehört, welche Ausschleusungszeiten bei anderen Tunnelbauten, zum Beispiel in Wien und Bayern, angesetzt wurden, entschied sich aber für die kürzestmögliche Zeit von 22 Minuten. Denn die Zeit, die die Arbeiter in der Druckluftkammer verbringen mussten, galt als Arbeitszeit und musste bezahlt werden. Allerdings zeigte sich schnell, dass diese Zeit zu kurz war.
Knapp 700 Arbeiter erkrankten an der Taucherkrankheit, drei starben daran. Die vielen Verletzten führten dann zu Unruhen unter den Arbeitern, die wiederholt für längere Ausschleusungszeiten streikten. Schließlich sprach Bernhard Nocht ein Machtwort. „Denn er war nicht nur Chef des Tropeninstituts, sondern auch Hamburger Medizinalrat, sozusagen der Gesundheitssenator, und sein Wort hatte Gewicht“, sagt Faesecke. Nocht wollte erreichen, dass auf der Baustelle vorbeugende Maßnahmen getroffen wurden, die das Entstehen der Taucherkrankheit verhindern sollten. Deshalb ordnete er an, dass ständig ein Arzt auf der Baustelle sein musste, der im Notfall schnell eingreifen konnte.
Längere Ausschleusungszeiten
Über seine guten Beziehungen hatte er schnell jemanden gefunden, der diese Aufgabe übernahm. Das war Arthur Bornstein. Im Januar 1909 kam er mit seiner Frau Adele, die ebenfalls Ärztin war, nach Hamburg und übernahm die ärztliche Leitung der Baustelle. Das Ehepaar bezog eine Wohnung auf der Südseite des Elbtunnels in Steinwerder und war fortan ständig im Tunnel.
Der Arzt, den heute kaum noch jemand kennt, verlängerte umgehend die Ausschleusungszeiten der Arbeiter, sodass ihre Körper genügend Zeit hatten, den Stickstoff über die Atmung wieder loszuwerden. Und er untersuchte die Arbeiter, ob sie überhaupt körperlich für die Arbeit unter Druckluft geeignet waren. So durften Asthmakranke oder Menschen mit Herzproblemen nicht in den Tunnel. „Die Arbeiter mussten eine gute Konstitution haben, durften aber auch nicht zu dick sein, weil sich Stickstoff im Fettgewebe anreichert“, sagt Faesecke, der seine Dissertation über Bornstein und seine Arbeit im Elbtunnel geschrieben hat.
Tierversuche in der Druckkammer
Bornstein sorgte auch dafür, dass diejenigen, die Symptome der Taucherkrankheit bekamen, die richtige Therapie erhielten. „Bis dahin waren sie im Hafenkrankenhaus mit heißen Bädern und Morphium gegen die Schmerzen behandelt worden. „Diese Therapie behob aber nicht die Ursache“, sagt Faesecke. Bornstein brachte die Erkrankten wieder zurück in die Druckkammer, stellte Überdruck her, der bewirkte, dass sich die Stickstoffblasen im Körper wieder auflösten, und reduzierte dann über Stunden den Druck wieder auf Normalmaß, sodass das Gas über die Atmung aus dem Körper entweichen konnte.
Und er führte ein, dass die Arbeiter bei der Ausschleusung reinen Sauerstoff einatmeten. Dadurch wurde der Stickstoff erheblich schneller aus dem Körper entfernt. Bevor er diese Therapie bei den Arbeitern einsetzte, probierte er sie aber zunächst an Tieren aus. So gab es neben der Druckkammer für die Arbeiter auch eine Druckkammer für Tiere, in der das Ehepaar Bornstein Katzen und Hunde untersuchte.
Im nächsten Schritt testete Bornstein die Wirkung des Sauerstoffs an sich selbst. „Er hat sich in der Überdruckkammer auf ein Fahrradergometer gesetzt und so lange Sauerstoff eingeatmet, bis er mit einem Krampf vom Fahrrad fiel“, erzählt Faesecke. Denn reiner Sauerstoff ist ab einem bestimmten Druck giftig und kann zu epilepsieähnlichen Krämpfen führen. „Das ist heute noch ein Risiko. Wir wissen nicht, bei welchem Druck jemand einen Sauerstoffkrampf bekommt, diese Schwelle ist individuell sehr unterschiedlich“, sagt Faesecke.
Bornstein gilt als einer der Väter der Druckluftmedizin
Arthur Bornstein hat jedenfalls dafür gesorgt, dass die Verabreichung von Sauerstoff bei der Ausschleusung der Arbeiter ihren Stellenwert erhielt. „1921 wurde das noch nicht in die deutsche Druckluftverordnung übernommen, es hat dann noch bis 1990 gedauert, dass es in Deutschland verbindlich wurde“, sagt Faesecke. Denn die Angst vor Unfällen durch Sauerstoff auf den Baustellen war groß, weil das Gas Explosionen und Brände verursachen kann. „Trotz dieser Risiken hat sich die Ausschleusung mit Sauerstoff bewährt, und Bornstein gilt heute als einer der Väter der Druckluftmedizin“, sagt Faesecke.
Selbstversuche Ursache für frühen Tod?
Nachdem der Tunnelbau beendet war, erhielt der Arzt eine Anstellung im Allgemeinen Krankenhaus in St. Georg, wo er seine Forschung weiterführte und 1919 mit Gründung der Universität zum Professor für Pharmakologie berufen wurde. Selbstversuche waren auch weiterhin Teil seiner Arbeit. „Er hat an sich selbst auch die Wirkung von Insulin auf den Zuckerspiegel getestet“, berichtet Faesecke. Ob die vielen Selbstversuche zu seinem frühen Tod mit 51 Jahren beigetragen haben, ist ungewiss, wurde aber in den Trauerreden bei seinem Begräbnis vermutet.
Für Faeseckes Tätigkeit hat Bornstein auch heute noch Bedeutung. „Wir hatten hier vor einiger Zeit einen schweren Taucherunfall. Da habe ich eine Veröffentlichung von ihm wieder hervorgeholt, die mir in dem Fall entscheidend weitergeholfen hat“, sagt Faesecke.