Hamburg. Der Chefarzt des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort wurde nie verurteilt.
Der Kinderarzt Dr. Wilhelm Bayer (1900–1972) war einer der führenden Mediziner der „Kindereuthanasie“ in Hamburg. Der überzeugte Nationalsozialist, Vater von sechs Kindern, war ab 1934 Chefarzt des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Er ließ sich von Ernst Wentzler, einem Hauptgutachter des Berliner „Reichsausschusses“, für das Tötungsprogramm von behinderten und kranken Kindern anwerben und richtete dafür 1940 in dem Kinderkrankenhaus die Kinderfachabteilung ein.
In dieser Abteilung arbeiteten elf Kinderärztinnen, von denen sich zehn auf Weisung von Bayer an den Tötungen der Kinder beteiligten. Heimlich, meist in der Mittagspause oder auch nachts, verabreichten sie den Kindern, die dabei von Krankenschwestern festgehalten wurden, Spritzen mit dem Schlafmittel Luminal. Die Dosis war nicht tödlich, aber so hoch, dass die Kinder danach nicht mehr ansprechbar waren. Sie konnten keine Nahrung mehr zu sich nehmen und starben meist wenige Tage später an einer Lungenentzündung. 60 Kinder kamen auf diese Weise ums Leben. „Diese Spritzen standen nicht in den Akten. Was hier wirklich geschah, weiß man nur aus den Aussagen der Ärztinnen aus den Nachkriegsprozessen“, sagt Dr. Rebecca Schwoch vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf.
Doch Bayer wurde für diese Morde nie verurteilt. Am 29. Mai 1945 erstatteten drei Medizinstudenten, die von den Tötungen erfahren hatten, bei der britischen Militäradministration Strafanzeige gegen den Klinikchef. Es wurden Ermittlungen aufgenommen. Die Anklage lautete auf Mord und Beihilfe zum Mord, später auf Totschlag. Bayer wurde vom Dienst suspendiert. Doch der Kinderarzt zeigte keinerlei Reue und hatte offenbar auch keinerlei Unrechtsbewusstsein. In einer ersten Stellungnahme im Juli 1945 schrieb er, dass er die „Euthanasie“ nur unter dem Gesichtswinkel der Nächstenliebe betrachten könne. 1949 wurden die Ermittlungen gegen Bayer eingestellt. Das Landgericht Hamburg verzichtete darauf, Anklage gegen ihn und seine Assistenzärztinnen zu erheben. Während der Ermittlungen durfte Bayer nicht als Arzt tätig sein und arbeitete als Lektor beim Hamburger Nölke Verlag. 1949 erhielt er die endgültige Kündigung vom Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. 1952 nahm er seine ärztliche Tätigkeit wieder auf, in seiner Privatpraxis, die er bereits während seiner Zeit als Chefarzt betrieben hatte.
1961 prüfte die Hamburger Ärztekammer noch einmal den Entzug der Ärztlichen Approbation, kam aber zu dem Schluss, dass dem Arzt „keine schweren sittlichen Verfehlungen“ nachzuweisen seien.