Hamburg. Nach mehreren Justizpannen, zuletzt der Rasierklingen-Attacke eines Angeklagten im Gericht, fordern CDU und FDP den Rücktritt Steffens.
So hatte sich Justizsenator Till Steffen (Grüne) die Rückkehr an die Spitze der Behörde an der Drehbahn nicht vorgestellt: Seit seiner erneuten Wahl in den Senat vor knapp zwei Jahren (er war bereits von 2008 bis 2010 Chef der Behörde) häufen sich die Justizpannen und die Proteste von Richtern, Staatsanwälten und Vollzugsbediensteten wegen Personalmangels und Arbeitsüberlastung. Und es hagelt Rücktrittsforderungen der Opposition – namentlich von CDU und FDP.
Besonders schwer wiegt der jüngste Fall: Im Gerichtssaal war der wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagte 39-jährige Chris Z. vor gut einer Woche mit einer präparierten Rasierklinge und einem angespitzten Zahnbürstenstiel auf seine Ex-Freundin losgegangen. Z. verletzte die Frau, die als Zeugin geladen war, und einen Staatsanwalt leicht. Wie berichtet, stellt sich jetzt heraus, dass in der Untersuchungshaftanstalt vorher bekannt war, dass Z. einen „konkreten Angriff“ auf seine frühere Freundin plante.
Eine zentrale Frage ist also, warum diese Information nicht zum Gericht gelangte, das daraufhin zum Beispiel eine Fesselung des Angeklagten hätte anordnen können. Andererseits waren die Gefährlichkeit und die Absichten des Angeklagten grundsätzlich bekannt und hatten bereits einmal zu einer Verschiebung des Prozessbeginns geführt, weil der Richter ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben hatte (siehe nebenstehenden Bericht).
Wie in solchen Fällen üblich, referiert der Justizsenator den aktuellen Stand der Ermittlungen in der Senatsvorbesprechung am Dienstag. Dabei geht es – ausgesprochen oder nicht – auch darum festzustellen, wie groß der politische Rückhalt ist. Nach Informationen des Abendblatts gab es einige Nachfragen, insgesamt aber Kopfnicken zum Vorgehen Steffens. Das spricht dafür, dass die Koalitionsspitzen nicht von strukturellen Defiziten im Hause Steffen ausgehen. „Ich kann keine konkreten Versäumnisse beim Justizsenator erkennen“, sagte SPD-Bürgerschafts-Fraktionschef Andreas Dressel gestern.
Niemand will den Posten übernehmen
Nun gehört es zur politischen Erfahrung, dass Rücktrittsforderungen aus der Opposition in der Regel und nicht nur in Hamburg den Zusammenhalt der Regierenden stärken. Das gilt erst recht dann, wenn im Falle von Koalitionen die Partner vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das ist bei Rot-Grün im Rathaus weit überwiegend der Fall.
Es kommt hinzu, dass es zu den Prinzipien des Regierens von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) zählt, Senatoren jedenfalls öffentlich nicht zu kritisieren, sondern Solidarität zu üben, und sei es durch Schweigen. Ein Rüffel des Bürgermeisters hätte den ohnehin großen Druck auf Steffen weiter erhöht. Wenn es eine Rangliste der bei Politikern unbeliebtesten Ressorts geben würde, die Justizbehörde führte sie wohl an. Der positive Gestaltungsspielraum des Justizsenators ist vergleichsweise gering, aber jede Panne, jeder Ausbruch und jede Revolte hinter Gittern schlägt sofort auf ihn durch. Soll heißen: Steffen sitzt auch deswegen relativ fest im Sattel, weil sich niemand danach drängt, den Posten zu übernehmen. Bei den Grünen schon gar nicht.
Steffen darf sich keine Fehler leisten
Eins ist aber auch klar: Steffen darf sich in der jetzigen Situation keine Fehler leisten. Das gilt selbstverständlich zuerst für die Aufarbeitung des Falls Chris Z. Aber auch die Liste der Pannen und des internen Gegenwinds ist lang, auch wenn nicht alle Vorfälle Steffen direkt anzulasten sind, weil die Ursachen zum Teil vor seiner Amtszeit liegen.
Im Mai 2015 ordnete das Oberlandesgericht die Freilassung zweier damals noch nicht rechtskräftig wegen Totschlags verurteilter Männer an, weil das Gerichtsverfahren zu lange gedauert hatte. Kurz darauf rügte der Bundesgerichtshof die „unzureichende Personalausstattung der Großen Strafkammern“ des Landgerichts. Im Juni beklagten Strafrichter mit konkreten Fallbeispielen die „unerträgliche Situation“, dass der „Rechtsstaat seine Aufgabe nicht erfüllt“. Im November schrieb der Personalrat der Staatsanwaltschaften einen „Brandbrief“ an Steffen. Der Vorwurf: zu hohe Arbeitsbelastung und zu wenig Personal. Steffen reagierte: Insgesamt mehr als 40 zusätzliche Stellen bei Gerichten und Staatsanwaltschaften.
Fall Thomas B. sorgte für Konsequenzen
Dramatisch war der Fall des „U-Bahn-Schubsers“, der im März 2016 in Berlin eine 20-jährige Frau auf die Gleise stieß, die von einem Zug überrollt und getötet wurde. Am Tag zuvor war der 28-Jährige aus einer psychiatrischen Klinik in Hamburg entlassen worden. Der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) kritisierte Steffen scharf für den Umgang mit dem Täter.
Der Fall des Kinderschänders Thomas B. sorgte im Juni 2016 für Konsequenzen auf Beamtenebene: Der Mann war aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden, weil die Justizvollzugsanstalt (JVA) Fuhlsbüttel ihm nicht rechtzeitig eine Therapie angeboten hatte. Der Anstaltsleiter musste daraufhin seinen Posten räumen, die Opposition sprach von einem „Bauernopfer“.
Senator vor Justizausschuss
Als ob das alles nicht reichte, folgte im September 2016 der Alarmbrief eines Mitarbeiters der JVA Fuhlsbüttel. Motto: „Von Sicherheit kann in dieser Anstalt keine Rede sein.“ Steffen hat die Ausbildungszahlen für Vollzugsbedienstete nach Jahren des Stillstands wieder hochgefahren. Von 2018 an soll die Zahl der Auszubildenden auf 100 pro Jahr erhöht werden. Trotzdem hat die Opposition längst den Begriff von der „Krisenleitstelle Steffen“ geprägt.
Inwieweit der Fall Chris Z. Steffen politisch schaden kann, hängt zunächst von den weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ab. Am 24. Februar steht der Senator im Justizausschuss Rede und Antwort. Der Prozess gegen Chris Z. wird am Montag fortgesetzt.