Hamburg. Expertin für Gerichtsgutachter kritisiert die Hamburger Justiz nach der Rasierklingen-Attacke eines Angeklagten im Prozess.
Ein vorläufiges Gutachten bescheinigte Chris Z. (39) keine „besondere Gefährlichkeit“ – wie der Angriff im Gerichtssaal zeigte, kam es ganz anders. Im Zusammenhang mit der Attacke überprüft die Staatsanwaltschaft nun auch die Expertise des psychiatrischen Sachverständigen. Nachdem bekannt geworden war, dass Chris Z. bereits im Oktober gegenüber einem Mithäftling in der U-Haft gedroht hatte, er werde seine Ex-Freundin nach seiner Entlassung umbringen, hatte das Gericht das Gutachten auf Anregung der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben.
Wie berichtet, wird Chris Z. vorgeworfen, seine Ex-Freundin am 20. Dezember 2015 mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben. Bei seiner Festnahme ging der Mann mit einem Küchenmesser auf Polizisten los, konnte aber erst mit einem Beinschuss gestoppt werden. Bei den Taten soll er unter starkem Alkoholeinfluss gestanden haben. Wie auch schon 2001, als Chris Z. den neuen Freund seiner früheren Partnerin ermordete. Wegen verminderter Schuldfähigkeit wurde er 2002 nur zu zwölf Jahren statt lebenslänglicher Haft verurteilt.
Keine „besondere Gefährlichkeit“
Festgestellt werden sollte mit dem Gutachten denn auch zweierlei: einmal, ob Chris Z. infolge der Alkoholisierung bei der Attacke auf seine Ex-Freundin Ende 2015 nicht oder nur eingeschränkt schuldfähig war. Zudem galt es herauszufinden, ob von dem 39-Jährigen auch in Zukunft erhebliche Straftaten unter Alkoholeinfluss zu erwarten seien und aus diesem Grund eine gerichtlich anzuordnende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Betracht komme.
Der Gutachter explorierte den Gefangenen darauf, führte also auch persönliche Gespräche mit ihm und gelangte dann zur (vorläufigen) Einschätzung, dass von Chris Z. keine „besondere Gefährlichkeit“ ausgehe – sofern er keinen Zugriff auf „aggressionsfördernde Stimulanzien“ wie Alkohol oder Drogen habe. „Eine offensichtliche Fehleinschätzung, wie sich gezeigt hat“, sagt Professor Ursula Gresser, seit 30 Jahren medizinische Gutachterin und Mitverfasserin zweier Studien über Gerichtsgutachter in Deutschland.
Pool von bewährten Gutachtern
Unabhängig vom „offensichtlich fehlerhaften Gutachten“ des Sachverständigen sei es auch vor dem Hintergrund der Biografie des verurteilten Mörders nicht nachvollziehbar, warum zu seiner Bewachung lediglich eine Justizbeamtin abgestellt, er nicht in Handschellen vorgeführt oder wenigstens räumlich von der Zeugin getrennt worden sei, so Gresser.
Üblicherweise greifen die Gerichte oder die Staatsanwaltschaften auf einen Pool von bekannten und bewährten Gutachtern zurück. Der Verdienst der Experten liegt bei rund 100 Euro nach dem Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz (JVEG) zuzüglich Mehrwertsteuer pro geleisteter Arbeitsstunde. Normalerweise dauere eine Begutachtung mindestens acht bis zehn Stunden. Selbst wenn die Experten sich täuschen, würden sie nur in den seltensten Fällen in Haftung genommen.
Essenzielle Akten nicht gelesen
Das geschehe auch nur dann, wenn die Gutachten nachweislich vorsätzlich falsch erstellt werden – etwa dann, wenn wichtige, für die Beurteilung essenzielle Akten nicht gelesen worden sind. Gresser: „Wenn der Gutachter einen Fall falsch eingeschätzt hat, passiert ihm in der Regel nichts.“