Hamburg. Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Amtsleiter. Regionalleiter soll Hunderttausende veruntreut haben - ohne Wissen der Chefs?

Das Jugendamt Hamburg-Mitte kommt nicht zur Ruhe: Nach den Betrugsvorwürfen gegen den Regionalleiter M., der zusammen mit einem privaten Familienhelfer durch erfundene Fälle seit mehr als zehn Jahren mehrere Hunderttausend Euro veruntreut haben soll, gibt es jetzt eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Jugendamts­leiter Jörg Poschinski – seit Jahren M.s direkter Vorgesetzter.

Alter Fall in Zusammenhang mit Betrugsverdacht

Es geht um die Fälle der Pflegekinder „Jule“ und „Eva“, über die das Abendblatt mehrfach berichtet hatte – die möglicherweise in Zusammenhang mit den aktuellen Betrugsvorwürfen stehen. Die Pflegeeltern Holger und Sabine Schuster (Namen geändert), die die heute 15-jährige „Jule“ mit vier Monaten aufgenommen hatten, führen seit Jahren eine juristische Auseinandersetzung mit dem Jugendamt Hamburg-Mitte. Und mit dem Mitarbeiter M., gegen den nun die Staatsanwaltschaft wegen Betrugs und Untreue in besonders schwerem Fall ermittelt. Bezirksamtsleiter Falko Droßmann, erst seit Februar im Amt, hatte den Fall öffentlich gemacht und lückenlose Aufklärung zugesichert.

Hausverbot für Pflegemutter

Die Schusters erstritten sich Akteneinsicht im Fall ihrer Pflegetochter „Julle“, die ihnen schließlich vom Oberverwaltungsgericht nach fünf Jahren gewährt wurde. Birgit Nabert, die Gesundheitssorgepflegerin von Jule, wollte die Akteneinsicht am 21. November im Bezirksamt Mitte durchführen. „Zu meiner Entlastung und zur Beschleunigung der Akteneinsicht habe ich die Pflegemutter mitgebracht“, sagt Birgit Nabert, Vorsitzende des Verbands für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien (KiAP) Schleswig-Holstein.

„Trotz vorherigen Schriftverkehrs, die Akten vom September 2015 an bis zum 21. November 2016 einsehen zu wollen, lag aber nur ein kleiner Aktenauszug aus 2015 vor“, sagt Nabert. Die Akte sei für sie „aufbereitet und kopiert“ worden, habe der stellvertretende Amtsleiter gesagt – dabei hat sie das Recht auf Einsicht in die Originalakten. Es müsse zudem im Rechtsamt geklärt werden, hieß es, ob die Pflegemutter im Raum bleiben dürfe. Nabert: „Nachdem das Rechtsamt mitteilte, die Pflegemutter dürfe nur vor dem Sekretariat warten, entschied Herr Poschinski, er übe sein Hausrecht aus, und ließ ohne Angabe von Gründen mitteilen, die Pflegemutter habe Hausverbot und müsse sofort das Gebäude verlassen.“

In den Akten fehlten Seiten

Auf Nachfrage, wo die Akten aus dem Jahr 2016 wären, habe ihr der stellvertretende Jugendamtsleiter erklärt, sie befänden sich noch bei Herrn M. und würden umgehend mit dem Taxi gebracht. Nabert: „Nach einer Wartezeit von etwa anderthalb Stunden, mehreren Nachfragen und der Information, die Akten würden nun doch persönlich gebracht, wurden mir schließlich noch warme und überwiegend kopierte Akten übergeben.“

Bei der Durchsicht stellte Birgit Nabert fest, „dass eine erhebliche Anzahl von Seiten fehlte und dass in den Akten von 2016 Blatteinlagen entnommen worden sind“. Nabert in ihrer Dienstaufsichtsbeschwerde an Bürgermeister Olaf Scholz (SPD): „Es ist ungeheuerlich, dass ein Beistand, dem die Akteneinsicht vom Gericht zugesprochen wurde, derart willkürlich und vorsätzlich schikaniert wird.“

Aus einer vorherigen Akteneinsicht der Pflegemutter ergeben sich noch weitere Fragen, die die Staatsanwaltschaft jetzt zu klären hat. Dabei geht es um die weitere ehemalige Pflegetochter Eva (Name geändert) der Schusters. „Als Eva bei uns ausgezogen ist, hat Herr M. gegenüber Gerichten schriftlich stets verlauten lassen, das Mädchen sei völlig gesund und lebe ohne irgendwelche Beeinträchtigungen im eigenen Wohnraum“, sagt Sabine Schuster.

Auf welches Konto gingen 24.000 Euro?

Der Vorwurf von M. gegen die Pflegemutter lautete nämlich, sie würde ihre Pflegekinder krankreden und von Therapie zu Therapie schicken – was bei ihrer großen Pflegetochter aber gar nicht nötig gewesen sei. Wieso aber, fragt sich Sabine Schuster jetzt angesichts der aktuellen Betrugsvorwürfe gegen M., wurde die Hilfe für Eva nach Eintritt der Volljährigkeit eingestellt – und fünf Monate später im August 2010 plötzlich wieder gewährt. Und zwar bis zum März 2012. Eva erhielt also 18 Monate lang Erziehungsbeistand durch einen freien Träger in Höhe von 1356 Euro pro Monat. Zuständig beim Jugendamt für die Hilfe laut Akten: M. Die Frage, die womöglich die Staatsanwaltschaft zu klären hat, ist, auf welches Konto die insgesamt rund 24.000 Euro geflossen sind – und welche Leistungen dafür von wem erbracht wurden.

„Sehr ungewöhnlich ist die außerordentliche Länge der Hilfsmaßnahme“, sagt Sabine Schuster. Normal seien bei Volljährigen und in Zeiten knapper Kassen Hilfsmaßnahmen für drei bis sechs Monate – um dann zu entscheiden, ob die Hilfe fortgesetzt werden muss. Noch seltsamer aber sei, dass in den Akten in den 18 Monaten keine persönlichen Kontakte und keine Telefonate dokumentiert sind. „Es wurden auch keine Ziele definiert, und es gab keine Kontrollen, ob die Hilfe weiterhin nötig war.“

Zweifel daran, dass Chef nichts wusste

Noch erstaunlicher, so Schuster: Ein Volljähriger muss den Antrag auf Gewährung einer Hilfe selbst stellen. „Es gibt keinen Antrag von Eva.“ Die Gewährung muss beschieden werden. „Es gibt keinen Bescheid an Eva.“ Die Hilfeleistung muss abgewogen werden. „Es gibt keine Leistungsbegründung.“

Insider können sich nicht vorstellen, dass all diese Versäumnisse des Jugendamtsmitarbeiters niemandem aufgefallen sind. Dass M. mehr als zehn Jahre lang quasi im Alleingang und ohne Wissen seiner Vorgesetzten Gelder für nicht geleistete Hilfen veruntreut haben kann, bezweifeln inzwischen viele beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD).

Staatsanwaltschaft prüft Anklageerhebung

Wie kann das sein? Hilfen zur Erziehung (HzE) erhalten Familien in Problem­lagen. Dabei geht es etwa um regelmäßige Besuche von Sozialarbeitern. Sie kommen von privaten Trägern wie zum Beispiel dem Rauhen Haus – oder von selbstständigen Familienhelfern. Diese treffen sogenannte Einzelvereinbarungen mit dem Jugendamt. „Solche Einzelvereinbarungen müssen aber vom Regionalleiter abgesegnet werden, die kann nicht jeder normale Mitarbeiter einfach abschließen“, sagt ein ehema­liger ASD-Mitarbeiter aus Hamburg-Mitte. Auf sogenannten Kontaktbögen müssten zudem sämtliche Erziehungshilfen auch vom Klienten unterschrieben werden. Die Folge: eine Masse an Papieren. „Viele haben sich deshalb bei ihren Familienbesuchen schon im Voraus zahlreiche Bögen unterschreiben lassen“, so der Insider, der den hohen Verwaltungsaufwand kritisiert, weil damit immer weniger Zeit für die wirkliche Hilfe in den Familien bleibe. „Im Grunde haben alle nur darauf gewartet, dass diese Missstände einmal auffliegen“, sagt der frühere ASD-Mitarbeiter, der sich nicht vorstellen kann, dass jahrelanger Betrug ohne Wissen eines Vorgesetzten stattgefunden haben kann.

Ob der Fall der ehemaligen Pflegetochter Eva zu den aktuellen Betrugsvorwürfen gegen M. gehört, muss jetzt geklärt werden. „Wir haben die Akten in Schriftform und auf Datenträgern vom Jugendamt sichergestellt und müssen nun die Auswertung abwarten, um dann bei hinreichendem Tatverdacht Anklage zu erheben“, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Bisher habe es keine Festnahmen gegeben.