Altstadt. Eine halbe Million Euro unterschlagen – Behördenmitarbeiter und Familienhelfer erfanden Fälle. CDU fordert Prüfung aller Bezirksämter.
Der Betrugsskandal beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Bezirksamts Mitte weitet sich aus. Es wird nicht nur gegen den leitenden Mitarbeiter Matthias M. ermittelt (wir berichteten), sondern auch gegen einen freiberuflichen Familienhelfer, sagte Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, dem Abendblatt.
Den beiden Beschuldigten werden Betrug und Untreue in besonders schwerem Fall vorgeworfen. Dabei ist nach Abendblatt-Informationen seit 2004 rund eine halbe Million Euro veruntreut worden. „Die beiden Beschuldigten sollen eine Familie erfunden und die Zuwendungen vereinnahmt haben“, sagte Frombach.
Hausdurchsuchung bei Verdächtigem
Auch das Haus des Familienhelfers soll durchsucht worden sein. Bereits seit Ende September wird laut Frombach gegen die beiden Beschuldigten ermittelt. Keiner der beiden befindet sich bislang in U-Haft. Es gibt Gerüchte, Matthias M. sei untergetaucht.
Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) hatte am Mittwoch eine Pressekonferenz einberufen und die Vorwürfe öffentlich gemacht: „Ein Mitarbeiter soll sich Jugendhilfefälle ausgedacht, sie als reale Fälle ins System eingespeist und dann dafür gesorgt haben, dass für nicht erbrachte Leistungen Geld erbracht wurde“, so Droßmann.
Matthias M. war keine unumstrittene Figur, wurde aber trotz mehrerer Dienstaufsichtsbeschwerden, als Jörg-Dietrich Poschinski im September vergangenen Jahres zum Jugendamtsleiter ernannt wurde, sein Nachfolger und zum Regionalleiter des ASD Billstedt befördert. Auch intern hatte es Vorwürfe gegen Matthias M. gegeben.
„Ich erinnere mich, dass das Jugendamt von einem Hinweis auf Auffälligkeiten in der Bearbeitung eines Einzelfalls beim ASD berichtet hat“, sagt der Innensenator und frühere Bezirkschef Andy Grote. Und weiter: „Der Verdacht einer Straftat wurde nicht geäußert. Die in solchen Fällen übliche Prüfung hat, soweit ich mich erinnere, auch nur fachliche Versäumnisse ergeben.“
Verdächtiger Fall bereits vor Jahren
Unterdessen erheben die Pflegeeltern Sabine und Holger Schuster (Namen geändert) schwere Vorwürfe. „Hätte man nach unseren Hinweisen hinreichend ermittelt, wäre Hamburg wohl ein hoher finanzieller Schaden erspart geblieben“, sagt Sabine Schuster.
In dem Fall „Jule“, über den das Abendblatt mehrfach berichtet hat, geht es um die Pflegetochter, die als schwer traumatisiertes Baby mit vier Monaten auf Bitten des Jugendamts Wandsbek zu den Schusters gekommen ist. Sieben Jahre später erklärte das Jugendamt, dass sich die Schusters liebevoll und mit großem Einsatz um Jule (Name geändert) kümmern, um die bestmögliche Förderung wegen verschiedener Entwicklungsstörungen zu erzielen. Sämtliche therapeutische Maßnahmen hatte das Jugendamt zusammen mit den Pflegeeltern festgelegt.
Dann wechselt die Zuständigkeit ins Jugendamt Hamburg-Mitte. Und es begann der Kampf um Jule. „Das war wie Krieg“, sagt Sabine Schuster. Herr M. wirft der Pflegemutter Kindeswohlgefährdung vor und stellt beim Gericht den Antrag auf Abberufung der Schusters als Vormünder. „Er verheimlichte dem Gericht die Aktenlage, dass es sich bei Jule um ein von Geburt an behindertes Kind handelt“, sagt Sabine Schuster. Es folgte eine jahrelange juristische Auseinandersetzung.
Staatsantwaltschaft stellte Verfahren ein
Die Schusters erstatteten beim Dezernat für interne Ermittlungen Strafanzeige gegen M. und seinen Chef, den heutigen Jugendamtsleiter Poschinski, wegen des Verdachts auf „vorsätzliche üble Nachrede, Verleumdung, Rechtsbeugung, falsche uneidliche Aussage, falsche Verdächtigung, Unterlassung der Fürsorgepflicht und Körperverletzung an Jule“.
Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Begründung: Der bloße unwahre Vortrag eines Jugendamtsmitarbeiters stelle keinen Straftatbestand dar. In einem Gutachten hatte M. erklärt, dass er bei den Schusters einen Hausbesuch abgestattet habe. „Es gab keinen Hausbesuch bei uns, Herr M. kannte uns und unser Pflegekind gar nicht“, sagen die Schusters. Sie wandten sich in ihrem verzweifelten Kampf an die Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und Olaf Scholz (SPD), an Bürgerschafts- und Bundestagsabgeordnete, an Senatoren und den Petitionsausschuss. „Aber Herr M. machte, obwohl gar nicht zuständig, wie ein Stalker weiter zahlreiche Aussagen wider besseres Wissen seiner Aktenlage“, sagt Sabine Schuster. „Anscheinend wurde er von oben gedeckt.“
Auch die Politik beschäftigt der Skandal: „Die Bezirksaufsicht muss nun umgehend in den sieben Bezirksämtern eine Sonderprüfung einleiten, um zu kontrollieren, ob es weitere Betrugsfälle wie in Mitte gab“, forderte CDU-Familienexperte Philipp Heißner. „Dieser schwere Betrugsfall ist ein Skandal ersten Ranges und reiht sich nahtlos in die Negativereignisse der Vergangenheit im Jugendamt Hamburg-Mitte ein. Wenn ein Mitarbeiter mehr als zehn Jahre öffentliche Mittel unentdeckt veruntreuen kann, sagt dies viel über die Qualität der Steuerung und Kontrolle dort aus.“
Bezirksaufsicht prüft nun schärfere Kontrollen
Eine Sprecherin der Finanzbehörde, bei der die Bezirksaufsicht angesiedelt ist, kündigte auf Abendblatt-Anfrage an: „Die Finanzbehörde wird nach Vorliegen der konkreten Ermittlungsergebnisse prüfen, ob sich hieraus über das bestehende interne Kontrollsystem hinaus weitergehende Konsequenzen für die Bezirksämter und das System der Jugendhilfe ergeben müssen.“
Wie kann so ein Betrug überhaupt funktionieren? Eigentlich nur, wenn der Jugendamtsmitarbeiter mit einem freien Träger oder Familienhelfer unter einer Decke steckt, sagt ein Jugendhilfe-Insider dem Abendblatt. Hilfen zur Erziehung (HzE) erhalten Familien in Problemlagen. Derartige Maßnahmen umfassen etwa regelmäßige Besuche von Sozialarbeitern. Der Insider vermutet, dass M. den Familien den Familienhelfer seines Vertrauens empfohlen hat, nach dem Motto: „Geh mal zu dem.“ Anschließend wurden die Hilfen gar nicht oder nur zum Teil geleistet und abgerechnet. „Dann bekommt das Jugendamt die Rechnung für beispielsweise 10 Stunden je 39 Euro plus Mehrwertsteuer. Und die bezahlt es dann ohne weitere Prüfung“, so der Insider. Den Gewinn teilen sich dann Jugendamtsmitarbeiter und Familienhelfer.